Caffe della Vita

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Caffe della Vita
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D A N I E L M O R A W E K


R O M A N

Nach einer Idee von Daniel Morawek und Giovanni Maltese


I N H A L T

Cover

Titel

Impressum

PROLOG

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

XIV.

XV.

XVI.

XVII.

XVIII.

XIX.

XX.

EPILOG

Buchempfehlung

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86506-955-9

© 2007 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: Daniel Morawek

Satz: Satzstudio Winkens, Wegberg

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

www.brendow-verlag.de

P R O L O G

»Glauben Sie an Gott?« Die Stimme aus dem Telefonhörer klang lakonisch. Die ersten Sonnenstrahlen suchten sich ihren Weg durch die kleinen Löcher in den herabgelassenen Jalousien in den ansonsten dunklen Raum. Er war gerade erst aufgestanden, hatte sich gewaschen und dann begonnen, seine Pistole zu reinigen. Den Hörer hatte er unters Kinn geklemmt, als er den Schlitten von der Waffe abzog.

»Ich dachte, Sie bezahlen mich dafür, nur das zu glauben, was ich mit eigenen Augen sehe.«

Er legte den Schlitten zur Seite und entnahm vorsichtig die Feder und den Bolzen.

»Gut«, sagte der Anrufer, dann nichts mehr.

Gaetano schob ganz langsam eine Bürste in den Lauf der Pistole. Am anderen Ende der Leitung blieb es still. Schließlich erhob Gaetano die Stimme: »Sie rufen an, damit ich Ihnen meine Ermittlungsergebnisse präsentiere?«

»Nein.«

Gaetano ließ einen Tropfen Waffenöl auf den Schlagbolzen gleiten.

»Ich werde mich morgen persönlich mit Ihnen treffen, dann können Sie mir alles erzählen. Ich habe weitere Instruktionen für Sie, die ich Ihnen nicht am Telefon geben kann.«

»Sie kommen dafür extra von Rom nach Sizilien?«

»Ja. Außerdem werde ich einen neuen Mitarbeiter mitbringen, den ich gerne in meine Arbeit einführen möchte. Wundern Sie sich also nicht.«

Dann wieder Stille. Gaetano setzte die Einzelteile des Engelmachers zusammen.

Der Anrufer ergriff noch einmal das Wort: »Sie haben alle Werkzeuge dabei, die ich Ihnen vor Ihrer Abreise notiert hatte?«

Gaetanos Blick fiel auf eine schwarze längliche Schatulle, die vor ihm auf dem Nachttisch lag.

»Si«, antwortete er knapp, sicherte die Waffe, legte das Magazin ein und lud durch.


Die gestohlene Fahrkarte lag friedlich auf ihrem Schoß. Verträumt hob sie den Kopf. Tausende verbrannte Felder auf unzählbar vielen Hügeln rauschten an ihr vorbei, als seien sie nur vage Schatten ihrer Vergangenheit. Carla starrte aus dem Zugfenster und versuchte, sich daran zu erinnern, wie lange sie schon nicht mehr aufs Land gereist war. Wahrscheinlich war es irgendwann während ihres Studiums gewesen – vielleicht vor zehn Jahren, vielleicht auch vor elf. Ihr altes Dasein wollte sie für immer hinter sich lassen, damals, nachdem sie ihr Zuhause verlassen hatte, als sie in die Großstadt gezogen war, um etwas aus ihrem Leben zu machen.

Gedankenverloren griff sie zu der Zigarettenschachtel, die sie auf dem freien Sitzplatz neben sich deponiert hatte, steckte sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und blickte wieder in die Ferne. Unweit der Bahnstrecke entdeckte sie einen Bauern, der eine große brennende Fackel in der Hand hielt. Sie beobachtete, wie er die Flamme an das trockene Gras hielt, das sofort aufloderte. Erinnerungen schossen ihr durch den Kopf. Das war kein ungewöhnlicher Anblick für sie. Wenn es auf den Sommer zuging, war es normal, dass die sizilianischen Landwirte ihre brachliegenden Äcker anzündeten, um die Ausbreitung von Unkraut zu verhindern. Das Feuer wuchs schnell, und trotzdem schien es immer kleiner zu werden, da der Zug beharrlich weiterfuhr. Schließlich verschwand das Schauspiel ganz aus Carlas Blickfeld.

Sie wandte sich vom Fenster ab und richtete ihre ungeteilte Aufmerksamkeit wieder auf ihre Notizen. Eine gute Vorbereitung würde nötig sein, wenn sie einen anschaulichen Artikel abliefern wollte. Was sie jetzt brauchte, war ein pikantes Werk, eine Geschichte, die das Potenzial hatte, ihren Hintern endlich von dieser Insel wegzubefördern; möglicherweise würde man in Rom auf sie aufmerksam werden oder sogar (aber davon wagte sie kaum zu träumen) im Ausland. Palermo war ihr mittlerweile zu eng geworden – nach all den Jahren war die Stadt für sie trotz ihrer Reize, der prachtvollen Monumente, der exotischen Düfte auf den Märkten und der zahllosen Cafés in der Altstadt, in denen sich die jungen aufstrebenden Palermitaner tummelten, auch nicht mehr als ein Eiland, umgeben von einem Meer aus Bauerndörfern und tristen Hügeln. Eine Veränderung musste her. Vor allem aber hatte sie mehr Talent, als ihr bei ihrer bisherigen Arbeitsstelle abverlangt worden war – da war sie sich sicher.

Carla sah auf ihre Armbanduhr. Kurz vor zwölf. Am vergangenen Tag um diese Zeit hatte sie noch einen festen Job gehabt, dem sie jetzt schon nicht mehr nachtrauerte. Sie dachte an Giancarlo, ihren (inzwischen) ehemaligen Chefredakteur. Gestern Mittag war sie in sein Büro gegangen. Er saß in der Mitte des Raumes, auf seinem großen Ledersessel, und machte keine Anstalten, die Bilder nackter Frauen, die er sich gerade im Internet ansah, von seinem Bildschirm zu entfernen, als Carla eintrat. Daran hatte sie sich mittlerweile gewöhnt.

»Ich muss mit Ihnen reden, Giancarlo«, sagte sie und stellte sich dabei so nah vor seinen Schreibtisch, dass er nicht anders konnte, als zu ihr aufzusehen.

»Was könnte denn so wichtig sein, dass Sie mich stören? Ich dachte, ich habe mich vorhin in der Redaktionssitzung klar ausgedrückt. Sie wissen, was Sie zu tun haben«, erwiderte er und griff zu einer Schale mit Keksen, die auf seinem Tisch stand.

»Sie meinen die Vorbereitungen zur Prozession der heiligen Rosalia, über die ich berichten soll?«

»Genau, wo ist denn das Problem damit?«, fragte er, während er einen Keks hinunterschluckte.

»Das Problem? Das Problem ist, dass Sie mich seit drei Jahren nur über Wohltätigkeitsveranstaltungen, entlaufene Haustiere und Schönheitsoperationen örtlicher Politiker schreiben lassen. Ich will endlich mal eine richtige Story schreiben. Ich habe doch nicht studiert, um Aufsätze für den Lokalteil zu dichten.«

Sie war aufgebracht, hütete sich aber davor, die Fassung gänzlich zu verlieren.

»Nun, Carla«, er konnte ihr in den Ausschnitt starren, da sie sich auf seinen Schreibtisch gelehnt und zu ihm vorgebeugt hatte, »niemand hat gesagt, Sie wären blöd, aber wenn Sie meine Meinung hören wollen: Schönheitsoperationen, das ist genau Ihre Welt, Sie haben’s nicht drauf, ernsthafte Geschichten zu schreiben.«

Carla richtete sich wieder auf.

 

»Das mache ich nicht länger mit!«

»Hören Sie, keiner zwingt Sie, hier zu arbeiten. Wenn es Ihnen nicht gefällt – gut. Sie sehen nicht schlecht aus, versuchen Sie’s doch mal beim Fernsehen. Die suchen immer Frauen wie Sie.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück.

Carla war sprachlos, aber nur für einen Moment, dann fing sie sich wieder und schlug auf Giancarlos Schreibtisch – so fest, dass der Teller mit den Keksen ein Stück in die Luft hüpfte.

»Ach so, ich verstehe! Wie konnte ich nur vergessen, dass ich nur mit dem Arsch wackeln und mir die Haare blondieren kann!« Carlas Stimme zitterte.

Giancarlo kehrte die Kekskrümel mit einer Handfläche zusammen, ohne dabei zu ihr aufzusehen.

»Sie werden sich wundern. Ich werde schon beweisen, was ich kann. Aber nicht für Ihre Zeitung. Ich kündige!«, sagte sie und wandte sich Richtung Ausgang.

Als sie im Türrahmen stand, drehte sie sich noch einmal um und fügte hinzu: »Und übrigens – Sie können mich mal!«

Giancarlo entsorgte die Krümel im Mülleimer, während Carla aus seinem Büro entschwand.

Sie verließ das Verlagsgebäude durch den Haupteingang, trat auf die Via Maqueda, schlenderte gen Osten, ohne darüber nachzudenken, wohin sie lief, und hatte die erste Sinnkrise, noch bevor sie den Quattro Canti erreichte.

Was habe ich getan?

Als sie den unzähligen Schutzheiligen auf dem kleinen Platz gegenüberstand, realisierte sie, was passiert war. Natürlich glaubte sie an ihre journalistische Begabung – aber was sollte sie damit anfangen ohne Job? Sie spürte, wie das Selbstvertrauen, das sie kurz zuvor in Giancarlos Büro getrieben hatte, sie langsam verließ. Sie setzte sich auf einen der vier Brunnen, die jeweils eine Jahreszeit darstellten. Sie erwischte den Winterbrunnen.

Was soll ich denn jetzt machen?

Sie saß noch eine Weile einfach nur da. Sie wusste nicht, wie lange sie dort am Brunnen ausgeharrt hatte, als sie wieder aufstand und ohne Ziel durch die Altstadt Palermos lief. In der Nähe des Teatro Massimo betrat sie eine kleine barcaffè und bestellte sich an der Theke einen Espresso. Alles war besser, als jetzt allein zu Hause zu sitzen.

Als sie mit der Tasse auf den letzten leeren Tisch zusteuerte, entdeckte sie ein vertrautes Gesicht an dem Bistrotisch, der in der Ecke des Raumes stand. Einen Moment überlegte sie, ob sie sich umdrehen sollte, solange sie noch unbemerkt verschwinden konnte, verwarf diesen Gedanken aber wieder und setzte sich hin. Der Mann, der in die Lektüre eines Magazins vertieft war, sah auf, entdeckte Carla und fuhr zusammen. Dann wandelte sich sein erschrockener Gesichtsausdruck zu einem ungläubigen Lächeln, während er auf Carla zuging. Diese nickte ihm zu, er solle ruhig zu ihr herüberkommen, und zündete sich eine Zigarette an.

Der Mann war Mitte dreißig, nicht sonderlich groß gewachsen, aber auch nicht klein für einen Sizilianer. Er trug schwarze Jeans und ein dunkelrotes Hemd, das zwar nicht modisch, aber ebenso wenig hässlich war. Seine Frisur war nicht ungepflegt und dennoch hätte er gut einen frischen Haarschnitt vertragen. Carla fiel positiv auf, dass er sich seit ihrer letzten Begegnung ein neues Brillengestell zugelegt hatte.

»Ciao, Maurizio. Lange nicht gesehen«, sagte sie und hauchte eine Rauchwolke aus ihrem Rachen.

»Eigentlich ist es gar nicht so lange her – lediglich acht Monate und zwei Wochen.« Er setzte sich ihr gegenüber.

Armer Maurizio, ist immer noch nicht darüber hinweg.

Ein bisschen tat er ihr schon leid. Aber das würde sie nicht zugeben, oder? Vielleicht waren acht Monate und zwei Wochen genug Zeit, um wieder wie normale Menschen miteinander zu reden. Damals vor ein paar Monaten war sie mehrmals mit ihm ausgegangen. Er hatte darin recht schnell etwas Ernsthaftes gesehen – zu schnell für Carla. Sie war sich nie sicher gewesen, ob sie ihn wirklich liebte. Er hingegen schien mit einer übernatürlich anmutenden Gewissheit davon überzeugt, sie sei die Frau seines Lebens. War es ihre Schuld, dass er sich auf der Suche nach einer festen Partnerin ausgerechnet sie ausgesucht hatte?

»Wie geht es dir, Carla?«

»Es geht mir fantastisch«, log sie. Sie hielt es nicht für nötig, ihm Einblicke in ihr Gefühlsleben zu gewähren.

»Und dir? Wie geht es mit deinem Job?«, fragte sie ihn, obwohl sie wusste, dass er mittlerweile zum Erfolgsautor beim Cronaca Meridionale, einer konkurrierenden Tageszeitung, aufgestiegen war. Gelegentlich las sie einen seiner Artikel und hatte dabei alle Mühe, keinen Neid aufkeimen zu lassen. Er war ein intelligenter Bursche, sie hatte das nie angezweifelt.

»Ganz gut.«

»Schön«, erwiderte sie, ohne zu lügen.

Maurizio senkte den Kopf und schwieg für einen Moment, er schien über etwas nachzudenken. »Ich hatte dir ein Paket geschickt …«

Carla nahm einen langen Zug an der Zigarette und verzog ihren Mund, während sie den Rauch aus einem schmalen Spalt zwischen ihren Lippen blies. »Ich weiß, ich habe es dir doch selbst zurückgeschickt.«

Nachdem sie mit ihm Schluss gemacht hatte, hatte er ihr fast täglich Briefe geschickt, in denen er ihr sein aktuelles Befinden schilderte. Es schien klar, dass ihr Nein bei ihm noch nicht angekommen war. Nach zwei oder drei Wochen entschloss sie sich, seine Post nicht mehr anzunehmen, ihm auf die harte Tour beizubringen, dass er sich nichts von ihr erhoffen solle, da die freundschaftliche Variante nichts bewirkt hatte. Sie wollte ihn nicht verletzen, im Gegenteil – sie wollte ihn vor sich selbst schützen.

»Hattest du das Paket wenigstens geöffnet?«

»Nein.«

»Ich hatte dir mein Tagebuch geschickt … das mit den Einträgen aus der Zeit, als wir uns getroffen haben … mit dem Eintrag von dem Tag, an dem ich dich das erste Mal gesehen habe …«

»Du führst ein Tagebuch?«

»In Zeiten, in denen ich viel erlebe, in denen ich mein Gefühlsleben ordnen muss – ja. Dann auch mal wieder eine Weile gar nicht.«

Sie sah ihn an, die Zigarette zwischen ihre Fingerspitzen geklemmt, den Ellbogen auf den Tisch gestützt. Es war schwer für Maurizio, einzuschätzen, was sie gerade dachte.

Er war der erste Verehrer gewesen, der ihr regelmäßig geschrieben hatte. Eine Ironie war es schon, dass sie immer davon geträumt hatte, dass ein Mann ihr poetische Briefe schrieb, und als es dann tatsächlich geschah, da konnte sie diese nicht annehmen.

»Darf ich dich heute Abend zum Essen einladen? Es wäre doch schön, wenn wir uns mal wieder einfach so unterhalten könnten«, fragte er vorsichtig.

»Wir unterhalten uns doch gerade.«

»Ich weiß, aber …« Er stockte.

Carla nahm einen ausgedehnten Zug ihrer Zigarette.

Was soll schon passieren? Vielleicht komme ich auf andere Gedanken, auf jeden Fall besser, als den Abend allein in meiner Wohnung zu verbringen.

»Wenn du überhaupt noch mal mit mir ausgehen willst … nach alledem …«

Ein zaghaftes Lächeln entfaltete sich auf Maurizios Gesicht. »Um acht im La Pentolaccia?«, fragte er.

»Na gut. Ein einfaches Abendessen unter Freunden.«

Sie saßen noch eine Weile da, ohne viel zu reden. Dann verabschiedete sie sich, unter dem Vorwand, sie hätte noch etwas zu erledigen. Sie bummelte weitere drei Stunden durch die Stadt. Während sie eine unbelebte Seitenstraße durchschritt, beobachtete sie einen adrett gekleideten Anzugträger, nicht besonders alt und auch nicht besonders unansehnlich gebaut, der an einem Werbeplakat für eine Single-Börse stehen blieb. Der Slogan Finde die Liebe deines Lebens. Erfolg garantiert schien seine Aufmerksamkeit geweckt zu haben. Als er bemerkte, dass Carla zu ihm hinübersah, ging er, peinlich berührt, sofort weiter. Ein paar Meter weiter kam ihr ein Mann entgegen, der sie grundlos anschrie. Im Cassaro-Viertel schaute sie sich in ein oder zwei der zahllosen niedlichen Boutiquen um, allerdings, ohne etwas zu kaufen. Sie würde sparsam leben müssen, um den Rest des Monats zu überstehen. Was, wenn sie nicht in Kürze eine neue Arbeit finden würde? Sie hatte nie sonderlich gut verdient und hatte keine Ersparnisse. Wie sollte sie für ihre nächste Monatsmiete aufkommen?

Als sie die Straße entlangschlenderte, fiel ihr Blick auf ein Schild in einem der Schaufenster mit der Aufschrift Aushilfe gesucht. Sie blieb stehen und wurde nachdenklich. Ihr Vermieter war ein Mann, der das Geld liebte. Sie würde schnell auf der Straße landen, wenn sie ihn nicht rechtzeitig innerhalb der nächsten zwei Wochen bezahlte. Aber noch mal als Aushilfe anfangen? Dann hätte sie auch bei ihrem bisherigen Chef bleiben können.

Nein.

Eine Idee musste her. Wie könnte sie schnell an Geld kommen und dabei ihre Karriere vorantreiben? Sie lief weiter.

Das Essen in dem kleinen Restaurant war hervorragend, schon früher hatte sie dort gerne mit ihm gegessen. Ihre Gespräche bei Tisch waren belanglos, wenn auch recht unterhaltsam. Sie hatte befürchtet, er würde versuchen, ihr wieder seine Gefühle darzulegen. Stattdessen redeten sie über gemeinsame Bekannte aus der Verlagsbranche und lästerten ein bisschen über den ein oder anderen Journalisten, Fotografen oder Politiker. Für den Moment konnte Carla ihre Probleme vergessen.

Sie verließen das Lokal gegen halb elf und flanierten gemeinsam durch die Straßen der Altstadt.

»Soll ich dich nach Hause bringen?«, fragte Maurizio schließlich.

Carla sah auf die Uhr. Kurz nach elf. Sie erinnerte sich, dass Maurizio in unmittelbarer Nähe wohnte.

»Wenn du willst, können wir noch etwas zu dir gehen, der Abend ist noch jung …«

»Willst du noch etwas trinken?«

»Noch einen Martini.«

Maurizio ging in die Küche, um die Gläser nachzufüllen. Carla saß im Wohnzimmer auf der Couch. Als Maurizio zurückkam, brachte er die Flasche gleich mit, stellte die Gefäße auf den Couchtisch und setzte sich neben sie. Carla griff nach ihrem Glas und nahm einen großen Schluck.

»Soll ich dir von dem Artikel erzählen, an dem ich gerade schreibe? Ist eine ziemlich interessante Geschichte – auch wenn sie ein bisschen Boulevardcharakter hat. Ich muss deshalb auch noch dringend verreisen und …« Maurizio stockte.

Carla hatte sich behutsam mit ihrer Schulter an seine Brust geschmiegt. »Nimm mich in den Arm«, sagte sie leise. »Und lass uns bitte heute Abend nicht mehr über die Arbeit reden.«

Es war nicht ihre Absicht, ihm Hoffnungen zu machen. Vielleicht war es der Alkohol, vielleicht sein schüchternes Verhalten, bestimmt aber das Verlangen nach Tröstung und Beistand, das das Bedürfnis nach körperlicher Nähe in ihr hervorgerufen hatte.

Etwas zögerlich legte Maurizio seinen Arm um ihren Körper, sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Er griff zu seinem Glas und trank, dann drückte er sie fester an sich. Seine Berührung fühlte sich gut an, am liebsten wäre sie sofort an seiner Seite eingeschlafen.

Am nächsten Morgen erwachte Carla sanft lächelnd neben Maurizio in dessen Bett. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange, stand auf und ging ins Badezimmer. Carla setzte sich auf und streckte sich. Sonnenstrahlen kitzelten ihre Nasenspitze. Sie wickelte sich in eine Decke, erhob sich und sah durch das Schlafzimmerfenster auf die belebte Straße hinab. Im morgendlichen Palermo pulsierte das Leben bereits in den frühen Morgenstunden. Der Lärm der hupenden Autos und knatternden Motorroller holte sie mit einem Schlag zurück in die Wirklichkeit. Für eine Nacht hatte sie ihre Sorgen vergessen können – jetzt waren sie wieder da.

Manacchia, Scheiße. Sie hielt sich den Kopf und erinnerte sich an letzte Nacht. Du eigennütziges Ding, Carla. Hättest du nicht einfach an seiner Schulter einschlafen können? Sie fing an, Selbstgespräche zu führen. Ich glaub, ich hab einen ganz schönen Schlamassel angerichtet. Wie komme ich hier bloß wieder raus, ohne zu viele Scherben zu hinterlassen?

Aus dem Bad hörte sie das Rauschen der Dusche. Sie sah an ihrem Körper hinunter. Vielleicht sollte ich mir erst mal was anziehen. Sicher würde es die Sache nicht besser machen, wenn Maurizio aus dem Bad käme und sie ihn splitterfasernackt begrüßen würde.

Carla lief ins Wohnzimmer, um ihre Kleidungsstücke zusammenzusuchen. Dabei fiel ihr Blick im Vorbeigehen auf den Schreibtisch, den Maurizio gegenüber der Couch stehen hatte. Eher zufällig bemerkte sie die Mappe mit der Aufschrift Aktuelle Recherchen, die auf einem hohen Ordnerstapel thronte. Sie hatte keine Hintergedanken, als sie die Unterlagen aufschlug, eigentlich war sie nur ein wenig zu neugierig. Doch als sie die Gesprächsnotizen überflog, kam ihr eine Idee.

 

Hat Maurizio nicht gestern Abend von einem interessanten Artikel gesprochen, an dem er arbeitet? Sie las bruchstückhaft einige der Notizzettel. Zwischen den Zetteln fand sie eine Bahnfahrkarte für den heutigen Tag, Abfahrt 12.03 Uhr am Hauptbahnhof von Palermo. Anscheinend war er noch nicht an den Ort gefahren, dessen Name in den Unterlagen immer wieder auftauchte. Sie hasste sich für die Idee, die ihr kam, trotzdem konnte sie sie nicht einfach vergessen. In ihrem Kopf ging es in etwa wie in einem dieser alten Zeichentrickfilme zu, die sie als Kind immer gesehen hatte. Auf der einen Seite in ihrem Kopf das Engelchen, das ihr sagte, sie dürfe das nicht tun, sie könne Maurizio unmöglich erst das Herz und dann auch noch die Unterlagen stehlen. Carla gab sich geschlagen. Dann tauchte auf der anderen Seite das Teufelchen auf. Denk auch mal an dich, Carla. Maurizio hat alles schon vorbereitet. Er ist doch sowieso schon erfolgreich, so schlimm ist es nicht, wenn ihm eine Story durch die Lappen geht. Eine kleine Geschichte für ihn, aber die große Chance für dich.

Das Rauschen der Dusche verstummte. Carla zögerte nicht lange und nahm sämtliche Papiere sowie das Zugticket aus der Mappe und stopfte alles zusammen in ihre Handtasche. Die leere Akte legte sie wieder an die Stelle auf dem Schreibtisch, auf der sie zuvor gelegen hatte.

Jetzt nur schnell abhauen, dann bin ich am Bahnhof, noch bevor er etwas merkt.

Sie fand ihren BH zwischen den Kissen des Sofas, die anderen Kleidungsstücke lagen auf dem Fußboden verstreut. Hastig zog sie sich an und stieß dabei ein Cocktailglas vom Couchtisch.

»Carla?«, rief Maurizio aus dem Bad. »Bist du schon aufgestanden?«

»Ja.« Sie zog sich ihre Bluse über.

»Hör mal, wenn du willst, kannst du noch liegen bleiben. Ich muss mich nur vorbereiten – ich muss heute noch verreisen«, sagte Maurizio und band sich ein Handtuch um. Er öffnete die Badezimmertür und trat ins Schlafzimmer.

»Carla?«

Er hörte seine Wohnungstür zuschlagen. Wieder einmal war Carla aus seinem Leben verschwunden.

So kam es, dass Carla jetzt im Zug saß, um zu einem kleinen Dorf zu fahren, dessen Namen sie noch nie gehört hatte: Cattolica. Schuldgefühle hatte sie keine.

Ob er mir nachreisen wird? Vielleicht, aber ich habe sein Ticket und seine kompletten Unterlagen, was soll er ohne die schon erreichen?

Selbst wenn er ihr folgen würde, Carla hatte gerade noch den Zug um 10.03 Uhr erwischt, sie hatte also einen Vorsprung. Abgesehen von ihrer Handtasche hatte sie kein weiteres Gepäck bei sich, was nicht weiter schlimm war, da sie am liebsten noch am selben Abend oder, wenn sie keinen Zug mehr bekommen würde, am folgenden Morgen zurückreisen wollte. Vielleicht würde sie dann direkt nach Rom durchfahren, dort in die Redaktion des Il Messaggero oder der La Repubblica hereinplatzen und den Stoff verkaufen. Die Geschichte eignete sich sowieso besser für eine Boulevardzeitung als für ein Nachrichtenblatt, was Carla nicht weiter störte.

Vielleicht entdecke ich einen neuen Wallfahrtsort! Wäre doch witzig.

Wenn sie ehrlich zu sich war, hielt sie den Inhalt des Interviews, das Maurizio (anscheinend telefonisch) mit einem Kellner in einer Bar namens Caffè della Vita geführt hatte, für reichlich unglaubwürdig. Sie wusste aber auch, dass viele Menschen eine derartige Story gerne hören würden. Die Menschen brauchten Geschichten, an die sie glauben konnten, da war sie sich sicher. Sie würde bereit sein, ihnen eine solche Geschichte zu liefern.

Sie nahm einen Stift aus ihrer Handtasche und notierte Fotoapparat kaufen. Ein paar Bilder würden den Artikel abrunden.

»Diesmal wirst du es schaffen«, sagte sie laut zu sich selbst, als sie den Stift zurück in die Tasche fallen ließ. Sie schaute wieder aus dem Fenster und abermals sah sie nichts als verbrannte Felder. Es bestand kein Zweifel – sie hatte die Großstadt hinter sich gelassen.