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Bist du bereit

für die

Wahrheit?

Wer es gemacht hat

(Impressum)

© 2019 by Daniel Kohlhaas

(Wie es beginnt, Rosebud, Wie es weitergeht, Rattenkinder)

© 2019 by Daniel Juhr

(Regenbogenkind, Roukan, Wie es endet)

Alle Nutzungsrechte dieser Ausgabe bei

JUHRmade – Daniel Juhr – Waldweg 34a – 51688 Wipperfürth

www.juhrmade.dewww.13zehn.de

Lektorat: Volker Maria Neumann

Satz: JUHRmade

Korrektorat:

Susanne Stierhofer, Nadja Biermeyer, Jessica Reif, Harry Cremer und Daniel Juhr

Cover-Artwork: Stefan Heilemann, www.heilemania.de

E-Book-Herstellung Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Originalausgabe, 1. Auflage 2019. Das Werk ist vollumfänglich geschützt.

Jede Verwertung wie zum Beispiel die Verbreitung, der auszugsweise Nachdruck, die fotomechanische Verarbeitung sowie die Verarbeitung und Speicherung in elektronischen Systemen bedarf der vorherigen Genehmigung durch den Verlag.

Alle Hauptfiguren und Handlungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.

ISBN: 978-3-942625-52-4

Was dich erwartet

Cover

Titel

Impressum

Wie es beginnt

Daniel Kohlhaas: Rosebud

Daniel Juhr: Regenbogenkind

Wie es weitergeht

Daniel Kohlhaas: Rattenkinder

Daniel Juhr: Roukan

Wie es endet

Wie es beginnt

Ich bin in der Hölle.

Er liegt da, auf dem Rücken. Keucht, zittert. Der Himmel ist ein Spiegelbild der Welt. Unaufhaltsam prallen Wolkentürme aufeinander, fressen sich gegenseitig auf. Der Himmel weint. Abgeplatzte Rinde, tiefe Krater im feuchten Waldboden, umgestürzte Bäume, von Einschusslöchern übersät. Überall riecht man den Tod. Gott wendet sich ab.

Ich bin in der Hölle.

Er dreht sich auf den Bauch, würgt das brackige Bodengemisch herunter. Rechter Arm vor, Bein nachziehen, Stiefel in die Erde rammen. Tiefste Gangart. Vor ihm liegt ein Hügel, den er schwerfällig nach oben robbt, den Kopf geduckt. Rechts und links zischen Geschosse vorbei. Sie treffen ihn nicht, aber er kann sie spüren.

Deckung. Sie lauern überall. In den Baumkronen. In Gräben. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Alles auf Anfang. Der reine Instinkt. Überleben.

Er legt an. Sie sind überall. Minen. Scharfschützen. Baumkrepierer. Seine klammen Finger umschließen das Gewehr, der Zeigefinger am Abzug. Bevor er abdrückt, muss er sichergehen, dass er durch den Schuss nicht seinen Standort verrät.

Ich bin in der Hölle. Seit sieben Tagen schon. Und ich werde in diesem verschissenen Wald sterben.

Er hat Utah Beach überlebt, den Durchbruch bei Saint-Lô, die Schließung des Kessels von Falaise. Aber seit sieben Tagen weiß er, dass die Hölle ein Wald in Deutschland ist. Seine Kameraden haben ihn den „Hurt-genwald“ getauft. Unaufhörlich fällt Regen, tränkt mit dem Blut der 9. US-Infanteriedivision das Erdreich. Ihm ist schwindelig, die Konturen verwischen. Der Feind sei müde, hat man gesagt. Die letzte Offensive. Befehle. Schreie. Detonationen. Er ist der einsamste Mensch der Welt inmitten verfeindeter Armeen. Sein ausgezehrter Körper krampft sich zusammen.

Ich bin in der Hölle. Seit sieben Tagen schon. Und ich werde in diesem verschissenen Wald sterben. Aber nicht heute.

Man sei technisch überlegen, wurde gesagt. Doch hier gilt das nicht. Für Artillerie und Luftwaffe ist es unmöglich geworden, in diesem unwegsamen Gelände Ziele auszumachen. Die Fahrzeuge bleiben stecken. Der Wald ruft. Mann gegen Mann. Hinter den Bäumen lauern sie. In den Kronen kauern sie. Man sieht die Deutschen vor lauter Bäumen nicht.

Sein gesamter Körper fühlt sich wie eine große Wunde an. Die Muskeln brennen. Die Glieder sind bleischwer. Seine Augen müde. Für einen kurzen Augenblick ruht die Welt. Atmet aus. Um ihn dann mit voller Wucht in die furchtbare Realität zurückzuschleudern. Es tut weh. Auf einmal. Er rollt sich zur Seite, in den Schatten einer Wurzel. Es klingt wie ein Knarzen, wenn er ein- oder ausatmet. Pfeifend. Rasselnd. Er streift das Gewehr ab, knöpft die Jacke auf. Der Stoff seines T-Shirts saugt gierig das nasse Rot auf. Erst jetzt explodiert der Schmerz.

Dieser Wald ist die Hölle. Seit sieben Tagen bin ich schon hier. Und heute werde ich sterben.

Ein Ruck durchfährt seinen Körper, er spürt den harten Griff um die Knöchel. Sein Hinterkopf schlägt auf die Erde. Jemand schleift ihn über das kalte Nass. Der heiße Schmerz verbrüht jedes Gefühl. Er will reden. Um Hilfe schreien. Angst und Panik ziehen in die Schlacht. Doch in ihrer Mitte dehnt sich eine tiefe Ruhe aus. Seine Augenlider flackern. Sanitäter. Eine willkommene Ohnmacht breitet ihre Arme aus.

Über das Geschrei, das Donnern, die Schläge legt sich ein sattes Brummen. Es schwillt an. Helle Lichtflecke mischen sich in das dichte Schwarz. Leuchtsterne. Er fällt. Tiefer. Immer tiefer.

Plötzlich ist da ein Licht. Grell. Blendend. Daraus treten Schatten hervor. Der eine Umriss wölbt sich, er vernimmt einen rasenden Herzschlag. Einer der dunklen Flecke liegt neben ihm auf dem Boden. Er scheint krank zu sein. Brabbelt unverständliches Zeug. Und da, da ist sie. Er weiß, dass es eine Sie ist. Er kennt sie. Liebt sie. Dass sie hier bei den anderen Schatten ist, bricht ihm fast das Herz. Sie beugt sich zu ihm herab. Fast berühren ihre dunklen Strähnen sein Gesicht. Ein letzter Schatten ist zu sehen. Er redet zu ihm, ein tiefes Timbre. Nein, er spricht nicht. Er singt. Vom Vermissen, vom Wiedersehen, von einem Regenbogen. Sie alle bilden einen Kreis, fassen sich an den Händen, verschmelzen. Tränen steigen in seine Augen. Das Brummen verändert sich zu einem rhythmischen Rattern. Die Gestalten lösen sich auf. Zerfließen.

Ich bin in der Hölle. Seit sieben Tagen schon. Und ich werde in diesem verschissenen Wald sterben. Aber nicht heute. Denn heute ist mein Geburtstag.

Rosebud

I would tell you about the things they put me through,

the pain I’ve been subjected to,

but the lord himself would blush

Depeche Mode, Walking in my shoes

We are the nobodies,

wanna be somebodies,

when we’re dead, they’ll know just who we are

Marilyn Manson, The Nobodies

1

9,81. Kein Stoßgebet, kein Bibelvers, nicht einmal ein Fluch kommt ihm in den Sinn, sondern bloß dieser Wert. 9,81 m/s2, der Wert der Beschleunigung eines Menschen im freien Fall.

Zuerst erscheint es, als schwanke er. Aber es wirkt unnatürlich. Der Impuls, diesem Menschen etwas zuzurufen, ihn zu warnen, keimt in ihm auf. Scheiße, er wird mich nicht hören.

Stephan steht am Fuße der fast fünfzig Meter hohen Staumauer aus Gussbeton. Zu seiner Rechten schlängelt sich das Wasser der Agger in den Wald hinein, das abgeworfene, feuchte Laub häuft sich zu den Füßen. Der Herbst hat das Oberbergische Land fest im Griff. Ein rauer Wind treibt ihm Regentropfen ins Gesicht.

Er hat nur wenige Minuten zuvor seinen Wagen auf dem Parkplatz des Thailänders abgestellt, ist den angrenzenden, abschüssigen Weg nach unten gegangen, um sich an dessen Ende umzudrehen und einen Blick auf die Mauer zu werfen. So wie immer. Immer dann, wenn sich das vertraute, stete Rauschen in seinen Ohren in ein eindringliches Flüstern verwandelt.

Stephan braucht diese Mauer. Für ihn bedeutet das 230 Meter lange Bauwerk mehr, dient nicht nur der Stromerzeugung oder dem Hochwasserschutz.

Er kommt hierher, um zu erkennen, dass sie hält. Das ist ihm wichtig. Standfest, entschlossen und undurchdringbar. Ihre Attribute sind im Laufe der Zeit zum Symbol seiner selbst geworden. Denn genau wie für die Mauer gilt es auch für ihn, standzuhalten, unüberwindbar zu sein für die Dämonen seiner Vergangenheit und rigoros ihren Versuchungen zu widerstehen.

Es besteht kein Zweifel daran, dass der Beton keinen Tropfen durchlässt. Kein einziger Riss ziert die Oberfläche. Spürt Stephan nur einen Hauch von Zweifel, kehren die Stimmen nur für einen Moment zurück, kommt er hierher. Die Mauer, bei deren Bau gegen Ende der 1920er Jahre einige Arbeiter ihr Leben ließen, erscheint ihm vertraut und sie hält stand. Jedes Mal, wenn er sich am Fuße aufhält und seinen Blick hinaufschweifen lässt, ebben die Stimmen ab.

 

Nur heute ist es anders. In diesen Minuten büßt die Mauer an Stabilität ein. Sie wird in ihren Grundfesten erschüttert.

Anfangs hat er die Person gar nicht wahrgenommen. Immer wieder kommt es vor, dass Wanderer oder Touristen am Geländer der Mauer lehnen und über das Tal hinwegschauen. Doch die Gestalt, die er eben bemerkt hat, scheint zu leuchten. Er findet kein passenderes Wort dafür. Es wirkt, als würde sie das trübe Licht des Herbsttages reflektieren. Von innen heraus. Dabei rudert sie mit den Armen. Was macht der denn da? Dann fällt sie.

Alles um ihn herum scheint zu verstummen, als bewundere die Natur das Spektakel. Den reglosen Körper, der die Staumauer der Aggertalsperre hinabfällt.

Stephan braucht einen Moment, um zu erfassen, was er sieht. Er hält unmerklich die Luft an, taucht kurz danach aus dem Schock auf und rennt los.

Hastig eilt er am Wasser entlang, schwenkt rechts über die kleine Brücke in Richtung der alten, schwarzen Lok.

Ihm ist bewusst, dass kein Mensch in der Lage ist, solch einen Sturz zu überleben. Dennoch verdrängt er die Vorstellung von dem, was ihn erwartet.

Er verlangsamt den Schritt, schaut sich suchend um, presst die Luft aus seinen Lungen.

Wie kann das sein? Wo?

In seinem Schädel hämmert der Puls. Da war kein Aufprall.

Stephan geht an einer niedrigen Steinmauer entlang, die ein Füllbecken umrahmt, und erreicht eine verschlossene, grüne Tür, die in das Innere des Bauwerks führt. Er legt den Kopf in den Nacken, schaut nach oben.

Da ist kein Vorsprung oder so etwas in der Art, wo der Körper hängengeblieben sein könnte. Da ist nur die glatte Betonfläche. Ich habe ihn doch gesehen.

Er tritt ein paar Schritte zurück. Nichts.

Wenige Meter links von ihm führt eine Metalltreppe hinunter in das Becken. Ein Schutzgitter und eine abgeschlossene Tür verhindern, dass man sie ohne Weiteres betreten kann. Stephan stellt sich auf die Steinmauer, klettert daran vorbei und steigt die Stufen hinab. Zu seiner Rechten klatscht aus einem schweren, rostigen Rohr Wasser auf den Boden. Sonst nichts.

Nachdenklich schüttelt er den Kopf.

Das gibt᾽s doch gar nicht.

Nervös fährt er sich durch die Haare. Hat er sich den Sturz eingebildet? Wiederholt legt er seinen Kopf in den Nacken und schaut nach oben. Das oberbergische Regenwetter lädt nicht gerade zu einem Spaziergang auf der Staumauer ein, und trotzdem erkennt er einen Wanderer, der den Blick über See und Tal genießt.

Stephan klettert zurück, rutscht auf den feuchten Metallstufen aus, stößt sich den Ellbogen schmerzhaft an dem Geländer und steht wieder auf dem laubbedeckten Waldboden.

Eilig rennt er den kurvigen Pfad hinauf zum Plateau der Mauer. Völlig außer Atem greift er in den Arm des Mannes.

„Haben Sie ihn auch gesehen? Den Mann? Hier …“

Mit einem heftigen Kopfschütteln und einem verständnislosen Blick reißt dieser sich von ihm los und sucht das Weite.

Das kann doch nicht wahr sein!

Hat es in Wahrheit niemanden gegeben, der hier oben gestanden hat und hinabgestürzt ist? Er tritt an die Stelle, die er glaubt, von unten erkannt zu haben, fasst das Geländer an, kniet sich davor und sucht nach irgendeinem Beweis dafür, dass hier jemand gewesen ist.

Ich bin doch nicht verrückt!

Stephan steht auf, lehnt sich über die Brüstung. Da ist nichts! Vorsichtig schwingt er sein rechtes Bein über das Geländer, setzt sich rittlings ab, zieht dann das linke nach. Einen Moment bleibt er auf dem Metall sitzen. Atmet durch. Die schwindelerregende Höhe löst ein mulmiges Gefühl in ihm aus. Der Wind packt ihn an seinem Jackenkragen. Er schließt die Augen, spürt sein Gewicht auf dem Geländer, umklammert es mit den Fingern.

Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Behutsam lässt er die Füße auf dem schmalen Rand der Brüstung ab, hält sich mit den Armen hinter seinem Rücken an dem kalten Geländer fest.

Der Herr ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen?

In seinem Rücken bremst abrupt ein Wagen auf der Straße, der Fahrer lässt die Seitenscheibe nach unten und schreit ihm entgegen: „Hey du, was hast du vor? Du machst hier keinen Scheiß, okay?“

Stephan schluckt. Erst jetzt wird ihm bewusst, wie laut die Stimmen in seinem Kopf klagen. Feine Risse bilden sich auf der Oberfläche der eigenen Mauer. Stephan sammelt sich schnell, schwingt das linke Bein zurück, setzt die Füße hinter dem Begrenzungsgeländer ab und tritt an das Auto heran.

„Alles okay, ich dachte, ich hätte was gesehen …“, murmelt er, leicht in den Wagen gebeugt.

„Na, dann ist ja gut“, entgegnet der Fahrer und fährt an.

Stephan taumelt zurück, schüttelt immer wieder den Kopf. Dann schreitet er noch einmal den gesamten Weg ab. Auch wenn es unmöglich erscheint, dass er den Körper des Menschen bisher nicht gesehen hat.

Während er sich den rechten Ellbogen reibt, erfasst sein Blick einen glänzenden Gegenstand. Er liegt nur einen Steinwurf entfernt. Stephan erreicht ihn nach wenigen Schritten, kniet sich in den Dreck und wühlt mit den Fingern die feste, nasskalte Erde auf.

Was ist das?

Nur ein Bruchteil des Objektes ist erkennbar, Stephan gräbt immer tiefer, seine Finger schmerzen. Er stößt die durchgefrorenen Glieder in den lehmigen Boden, bis es ihm endlich gelingt, den Gegenstand aus der Erde zu drehen. Er steht auf, reibt und klopft vorsichtig den Dreck davon ab. Auf einem silberfarbenen, nostalgisch verzierten Sockel thront eine Glaskugel. Stephan zieht einen Ärmel über seine Hand und streicht über das Glas. Er erkennt im Schnee versunkene Häuser, entdeckt eine von Tannen gesäumte Kirche. Im unteren Bereich des Sockels gibt es eine Auslassung, in der eine Lokomotive zu sehen ist. Es erscheint ihm unerklärlich, wer die Schneekugel an dieser Stelle in der Erde vergraben hat. Sie wirkt abgenutzt, aber trotzdem nicht alt.

Stephan lässt sie in der Hand kreisen, dreht sie. Auf der Unterseite entdeckt er einen kleinen Kippschalter. Er räuspert sich kurz, schiebt ihn dann zur Seite. Die Kugel leuchtet auf. Auf der Außenseite des Sockels ertastet er einen kleinen Aufziehmechanismus, dreht den feinen Schlüssel.

Sleigh bells ring, are you listening …

Stephan erkennt die Melodie sofort.

Winter wonderland.

Er hält die Kugel vor seine Augen, die Lokomotive in der Auslassung, die jetzt ebenfalls erleuchtet ist, dreht störrisch eine Runde. Stephan schmunzelt, schüttelt dabei ungläubig den Kopf. Als er nach oben blickt, rieseln wahrhaftig feine Schneeflocken zur Erde. Sein Blick fällt auf das Geländer der Staumauer.

Das gibt’s nicht!

Mit offenem Mund steht er genau unterhalb der Stelle, an der er die Gestalt erkannt hat. Er kneift die Augen zusammen, senkt den Kopf und schaut auf das Loch vor ihm im Boden.

Gone away is the bluebird, here to stay is a new bird, he sings …

2

Living easy, living free, season ticket on a one-way ride …

Nach knapp zwanzig Sekunden speit ihm Bon Scott die ersten Worte des Songs entgegen. Ein Gemisch aus Rotz, Wut und Revolution. Er nickt leicht mit dem Kopf zu dem sich wiederholenden Riff, dem treibenden Beat. Sitzt zusammengekauert da, eingeschlossen, nur bei sich selbst, ohne sich fühlen zu können. Der Kopfhörer verhindert, dass er die Geräusche um sich herum hören muss. Sie überfordern, ängstigen ihn.

Seine zitternden Finger. Die abgekauten Nägel. Trotzig zieht er die Nase hoch, hebt den Blick. Sieht die unzähligen Beine, die an ihm vorbeigehen, durch den fettigen Strähnenvorhang. Er glaubt, ihre Verachtung zu spüren, fast zu hören. Ein Murmeln, das sich unter die Musik mischt.

Asking nothing, leave me be, taking everything in my stride …

Sie kennen ihn nicht. Wie sollten sie auch? Er kennt sich ja nicht einmal selbst. Das neuronale Feuer in seinem Körper flammt auf, beginnt zu wüten. Ihm ist übel. Er streicht sich die Kapuze von den langen Haaren, um sie direkt danach wieder überzuziehen. Zäher Schleim sammelt sich in seinem Mundraum. Als er ihn auf den Beton spuckt, auf dem er sitzt, zieht sich sein Magen zusammen.

Don’t need reason.

Den Versuch, die Arme zu strecken, bricht er schnell wieder ab. Seine Gelenke schmerzen zu sehr. Es fühlt sich an, als würden sie brennen.

Don’t need rhyme.

Zeit und Raum verlieren an Kontur, an Wichtigkeit. Er hört die Schreie. Das wütende Poltern. Sein Oberkörper beginnt zu wippen. Er ermahnt sich selbst, flucht vor sich hin, ganz egal, ob ihn irgendjemand hört. Es gilt durchzuhalten, nur ein bisschen. Die Intensität der Schreie nimmt zu. Sie sitzen zwischen seinen Rippen. Krallen sich in die Organe. Sich dagegen zu wehren, dagegen anzukämpfen, ist sinnlos. Ein Kampf ohne Sieger. Nur Verlierer. Zu oft schon hat er verloren.

No stop signs, speed limit. Nobody’s gonna slow me down.

Widerstand ist zwecklos.

Sein Mund ist trocken. Die Augenlider flirren. Stoisch kratzt er sich den Schorf an seinem Schienbein unter der schwarzen Jeans auf. Das Blut sickert in den Stoff, verklebt. Er spürt es kaum.

Like a wheel, gonna spin it. Nobody’s gonna mess me around …

Die Spanne verkürzt sich jedes Mal ein wenig mehr. Es bleibt kaum mehr Zeit.

Hey Satan, paid my dues …

Er dreht die Lautstärke weiter auf. Die Musik verzerrt. Die Schreie erklimmen seinen Hals, drängen sich durch die Luftröhre. Ihm ist so verdammt übel.

Hey mama, look at me. I’m on my way to the promised land.

Unter einem gewaltigen Stechen zieht sich sein Magen zusammen und er erbricht grüne Galle. Der bittere Geschmack der Wahrheit. Es wird Zeit.

3

Stephan hat die Zeit vergessen. Das Display des neuen Smartphones, das er sich bei der Vertragsverlängerung mit seinem Mobilfunkanbieter hat aufschwatzen lassen, zeigt 13:10 Uhr an. Verdammt.

Er überquert die Straße, eilt zu seinem Auto und lässt es an. Die Schneekugel legt er vorsichtig auf den Beifahrersitz. In knapp zwanzig Minuten hat er einen Termin in Nümbrecht wegen einer anstehenden Aussegnung. Die Witwe des Verstorbenen hat ihn am Morgen kontaktiert und darum gebeten. Die Gemeinde bietet den Gläubigen die Möglichkeit einer kurzen Andacht für die Trauernden am Totenbett an. Stephan hasst es.

Gemeinsam mit der Trauer der Hinterbliebenen, die hochdosiert wie ein Gas in der Luft zu liegen scheint, steht man dabei meist in engen Räumen und nimmt Abschied. Die Menschen setzen derweil die irrationale Hoffnung in seine Worte, dass es dem Verstorbenen dort besser gehe, wo er sich jetzt befinde. Als sei er, der Pfarrer, der Leumundszeuge des Toten vor Gott. Die Auferstehung, für die die Menschen beten, existiert in Stephans Vorstellung nicht. Er weiß, dass das blasphemisch klingt. Ein Pfarrer, der nicht an die Auferstehung der Toten und das ewige Leben glaubt? Die Beweggründe dafür, warum er Pfarrer geworden ist, liegen nicht in seinem Glauben.

Es ist die Vergangenheit, seine Geschichte, die ihn zu dem hat werden lassen, der er heute ist. Auch deswegen gilt er nicht als Vorzeigepfarrer, doch genauso wenig sieht man in ihm einen kirchlichen Reaktionär. Zu selten entscheiden Menschen sich dafür, Diener Gottes zu sein, somit respektiert man Stephan, bevorzugt dennoch innerhalb der Gemeinde seinen Kollegen. Ein selbstverschuldetes Verspäten würde die zukünftigen Aufgaben in der Pfarrgemeinde sicher nicht vereinfachen.

Er lenkt den Wagen über die Staumauer in Richtung Bundesstraße. Unterwegs versucht er, sich an die Worte zu erinnern, die er während der Andacht sprechen muss. Es gelingt ihm nicht, sich zu konzentrieren. Einerseits fällt sein Blick immer wieder auf das seltsame Fundstück neben ihm, andererseits nervt ihn das monotone Klackern des Kleiderbügels mit seinem schwarzen Talar gegen die hintere Seitenscheibe des Wagens.

 

Die Ereignisse, der vermeintliche Sturz, der Fund der unversehrten Schneekugel, drängen sich immerzu in seine Gedanken.

Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben …

An vielen Tagen fällt es ihm schwer, die Institution und ihre Inhalte zu repräsentieren. Tage, an denen er sich zurückerinnern muss, warum er diesen Schritt gegangen ist. Sein unstetes Leben, die dunklen Tage seiner Vergangenheit, schmerzhafte Erinnerungen. Stephan versteht sich seit jeher selbst als Suchenden. Religion kann erklären, stützen, helfen. Aber sie beantwortet immer nur Teile seiner Fragen, im Kern bleibt auch sie im Suchmodus. Ihr Schöpfer scheint unerreichbar. Ein einseitiger Telefonanschluss … und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das?

4

„Ich habe schon nicht mehr daran geglaubt, dass Sie kommen!“

„Es tut mir leid, aber ich wurde dienstlich aufgehalten“, entschuldigt Stephan sich halbherzig, öffnet die Hintertür des Wagens und fummelt den Kleiderbügel aus dem Haltegriff.

„Dienstlich aufgehalten, soso.“

Er bemerkt ihren Blick auf seinen verdreckten Händen, versucht, sie rasch hinter dem Rücken zu verstecken. „Ich … es tut mir wirklich leid, aber jetzt bin ich ja da.“

Sie verzieht das Gesicht. Stößt einen Seufzer aus.

„Dann zeige ich Ihnen wohl erst einmal, wo das Bad ist.“

Stephan folgt ihr. Sie nickt in Richtung einer Tür neben dem Eingang. „Wir warten im Schlafzimmer. Die zweite Tür rechts.“

„Danke.“

Stephan zieht die Tür hinter sich zu und betritt das rosa geflieste Badezimmer. Hat er eben die Zeit noch verflucht, so scheint sie hier definitiv stehen geblieben zu sein. Er dreht den Wasserhahn auf, wäscht sich ordentlich die Hände, klatscht etwas Nass in sein Gesicht und betrachtet sich kurz in dem kleinen Wandspiegel.

Diese Menschen brauchen dich jetzt. Reiß dich zusammen.

Bevor er die Klinke in die Hand nimmt, atmet er tief ein, öffnet dann erst die Tür des Schlafzimmers. Verweinte Augen, gespannte Blicke, Trauer, Angespanntheit, Argwohn.

„Der Friede Gottes sei mit uns allen.“

Amen.

Langsam schreitet er auf die Witwe zu, nimmt ihre Hände in seine, drückt sie. Durch die dunklen Ränder scheinen ihre Augen tiefer in den Höhlen zu liegen. Sie blinzelt, ihre Lider sind gerötet, von unzähligen Fältchen umgeben.

„Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: Wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.“

Ihre Augen füllen sich mit Tränen, sie nickt, er spürt ihre runzelige Haut, während sie seine Hände sanft tätschelt. Stephan nickt ihr ebenso kurz zu, stellt sich dann neben die kleine Frau. „Herr, unser Gott, dein sind wir im Leben und im Sterben. Du hast durch Jesus Christus dem Tod die Macht genommen. Wir bitten dich: Sei in dieser schweren Stunde bei uns mit deinem Trost und deiner Gnade.“

Amen.

Dann wendet er sich dem Toten zu, der in dem alten Ehebett liegt. Darüber mittig ein Kreuz. Keine Fotos. Allein ein Abreißkalender an der Wand, der eine große, schwarze Vierzehn zeigt. Einen kurzen Moment irritiert ihn die falsche Zahl, dann gleitet sein Blick wieder zurück zu dem Verstorbenen. Der Mann wirkt friedlich, mit sich und der Welt versöhnt. Ein ruhevoller, tiefer Schlaf im Nirgendwo. Die blütenweiße Bettdecke liegt glattgestrichen bis zum Bauch, seine Hände ruhen gefaltet darauf. Er trägt einen blauen Pyjama. Vermutlich zum ersten Mal im Leben. Und zum letzten Mal. Stephan tut einen Schritt nach vorne, stutzt. Eine Träne. Sie läuft aus dem Auge des Toten. Stephan schluckt. Dann öffnet die Leiche die Augen, ihre Blicke treffen sich. Die trockenen, bläulichen Lippen beben. Hektisch schaut Stephan sich um. Die Angehörigen stehen weiter um das Bett herum, die Augen geschlossen. Die Hand des Toten ergreift ihn, zieht ihn zu sich.

„Schwiegermuttergift“, flüstert er rau.

Stephan taumelt rückwärts, ein kurzes Raunen erfüllt den Raum.

„Herr Pfarrer? Alles in Ordnung?“

Sein Puls rast. „Ich …“

Die Witwe steht jetzt vor ihm, drückt seine Hand. Als Stephans Blick auf den Toten fällt, liegt er genauso friedlich unter dem strahlenden Laken wie zuvor.

„Entschuldigung“, stammelt er, schließt kurz die Augen, zieht den Talar zurecht. Im Anschluss nickt er kurz den anderen zu, um zu zeigen, dass es ihm bessergeht. Stephan schaut den Toten an. Die Augen geschlossen. Friedlich. Keine Träne.

Ich brauche Luft.

„Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit.“

Amen.

5

„Nein, ihr werdet nicht sterben. Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse.“

Der Blick des Mannes mit den trüben Augen trifft ihn, er hebt die Arme, scheint zu zittern. Er trägt einen langen Mantel, der ihm bis zu den nackten Knöcheln reicht, ein zerzauster Bart verdeckt die Hälfte seines Gesichts, die knochigen Finger sind schwarz vor Dreck.

Er hat dich durchschaut …

Dieser Wahnsinnige predigt jeden Donnerstag hier, zur selben Zeit, am selben Ort. Reckt dabei ein Pappschild hoch, auf dem geschrieben steht: Jesus rettet. Er wirkt desorientiert, verwirrt. Man sagt über ihn, er sei früher Lehrer gewesen. Doch habe er nie den tragischen Unfalltod seiner Eltern überwunden. Seit diesem Tage stehe er hier mit dem Schild in den Händen und zitiere aus der Bibel. Bei Wind und Wetter wird man unfreiwillig zum Zeugen seines Verfalls.

Heute ist etwas anders, der wässrige Blick fester. Er hat das Gefühl, diesen im Nacken zu spüren, wie er sich anschmiegt, ihn verfolgt, weiß, was er in der Bauchtasche seines Kapuzenpullis krampfhaft mit der Faust umschließt. Das kleine Päckchen türkischer Honig.

Der Prediger verstummt, folgt ihm mit seinem Blick, lässt die Augen nicht von ihm ab. Er schluckt, versucht, den Kopf abzuwenden, seinen Schritt zu beschleunigen. Er muss hier weg, ihn beschleicht das Gefühl, alle anderen Menschen drehten sich zu ihm um, wüssten, warum der selbsternannte Priester verstummt ist.

Er hat dich durchschaut …

Jeder weiß es, alle erkennen, was er vorhat.

Ich scheiße auf euch, ihr wisst rein gar nichts!

Seine Hände schwitzen, klarer Schleim läuft ihm aus der Nase, den er sich unbeholfen mit dem Unterarm aus dem Gesicht wischt. Die Sonne strahlt, ihm ist kalt. Am Ende des Weges wartet die Wärme, die Vertrautheit, wenn auch die Glut von heute nur ein Rest des Feuers von damals ist.

Endlich sitzt er da. Zittrige Finger umschließen das Metall. Konzentration. Gleich. Bleib ruhig. Gleich.

Der vertraute, heiße Schmerz an der Spitze des Daumens. Windstille. Ruhende Flamme. Der Duft von Zitronen.

Es wird still in ihm, wie so oft, wenn er weiß, dass er es gleich geschafft hat. Der kurze, aber doch spürbare Druck auf dem Arm. Schatzsuche. An etlichen Stellen wurde bereits gegraben.

Hier, ja, hier ist gut …

Eine alte Stelle, vor nicht allzu ferner Zeit erst zugeschüttet, wird wiederholt freigelegt.

Mein Gott, wie ich auf euch alle scheiße!

Er wird nicht wie Gott, geht vielmehr begierig auf die Einladung des Teufels ein, Gut und Böse verschwimmen zu einer unförmigen Masse.

Wieder ein Tag geschafft. Es ist Zeit.

6

Die letzten Minuten im Hause der Hörters sind Stephan endlos lang vorgekommen. Endlich steht er draußen, an die offene Tür des Autos gelehnt, und atmet durch.

„Ein echter Klassiker!“

„Bitte?“ Erschrocken dreht Stephan sich um und steht vor einem älteren Herrn.

„Der Film“, meint der Alte.

„Entschuldigen Sie, ich glaube, ich verstehe nicht.“ Noch immer zittern seine Beine leicht, Tausende Gedanken rasen durch den Kopf.

„Der muss aus den 40ern stammen, oder?“ Der Mann fährt sich mit der flachen Hand durchs Gesicht, als könnte er so die Erinnerung vom Staub befreien. „Na ja, wie auch immer. Hat es der Alte endlich geschafft?“ Er nickt in Richtung Hauseingang.

„Sie meinen Herrn Hörter?“

„Der plagt sich ja nun schon eine ganze Weile mit der Frage herum, ob er seine Josefine allein lassen kann oder nicht.“ Er lacht laut auf.

„Ja, Herr Hörter ist leider heute Morgen von uns gegangen“, versucht Stephan es ernster. Zumindest glaube ich das.

Der alte Mann zieht die Nase hoch. „Tja, irgendwann erwischt es jeden von uns, nicht wahr, Herr Pfarrer?“

„Ein Jegliches hat seine Zeit, und …“

„Alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde“, unterbricht er ihn. „Schon tausendmal gehört. Das ist nur Blabla, wenn Sie mich fragen. Der Hörter, der hat die ganze Zeit darauf geachtet, nach den Worten des Herrn zu leben. Und? Hat es ihm was gebracht? Sehen Sie mich an. Ich habe mit der Kirche nix am Hut, habe zwei wunderbare Kinder, mittlerweile den ersten Enkel und erfreue mich bester Gesundheit. Und der Hörter? Kinderlos, krank, tot.“

„Vielleicht lag seine Erfüllung in anderen Dingen.“ Bekümmert erinnert sich Stephan an die karge Einrichtung des Zimmers. Wo liegt der Unterschied zwischen Leben und Existieren?