Die weiße Lady von Laggin Castle

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Die weiße Lady von Laggin Castle
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Daniel Herbst

UUID: c071a662-308a-11e5-8c0b-119a1b5d0361

Dieses eBook wurde mit StreetLib Write erstellt

von Simplicissimus Book Farm.

Inhaltsverzeichnis

  DIE WEIßE LADY VON LAGGIN CASTLE

  Copyright

  Wettrennen im Morgengrauen

  Eine Burg in Schottland

  In allerletzter Sekunde

  Eine Art Attentat

  Eine unerwartete Begegnung

  Ein seltsamer Gastgeber

  Die Burg im Nebel

  Ein unerwartetes Wiedersehen

  Eine neuerliche Entdeckung

  Erdnüsse

  Whisky und Folter

  Schon wieder die Weiße Lady

  Eine unruhige Nacht

  Ein trüber Morgen

  Ramsey-Willoughby bekennt Farbe

  Die Nacht der Geister

  Rettung im Morgengrauen

Impressum neobooks

DIE WEIßE LADY VON LAGGIN CASTLE

Ein komischer Kriminalroman

von Daniel Herbst

Der Umfang dieses Buchs entspricht 158 Taschenbuchseiten.

Eine unerwartete Erbschaft ist schuld daran, dass Sabine und Kevin nähere Bekanntschaft mit Laggin Castle machen, einem alten Gemäuer in Schottland. Ein Schatz soll dort verborgen sein, um den sich eine ganze Reihe von Leuten bemühen.

Ist es ein Wunder, dass plötzlich nicht nur die sagenhafte »Weiße Lady« über die Treppen, durch hohe Säle und weite Hallen geistert? Verrostete Rüstungen liegen auf dem Boden, unheimliche Geräusche sind zu hören, und Kevin bekommt ein mysteriöses Telegramm. Sind es die üblen Tricks und Finten, mit denen Erben versuchen, anderen ihren Anteil abzuluchsen oder haben diese Warnungen etwas zu bedeuten?

Die Geschwister versuchen einen kühlen Kopf zu bewahren. Sie nehmen den Erblasser-Tagebuchhinweis von Sir Roderick wörtlich und suchen den von einer »Lady« bewachten Laggin-Schatz nicht zur Gespensterstunde bei flackerndem Kerzenlicht.

Detektivisches Gespür wird in den Krimis von Daniel Herbst großgeschrieben. Knisternde Spannung ist Trumpf. Ein Feuerwerk von überraschenden Ereignissen, witzigen Einfällen und skurrilen Gestalten halten den Leser in Atem.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

EDITION BÄRENKLAU, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius

Roman © by Autor und Edition Bärenklau, 2015

Die Originalausgabe erschien als „Weiße Lady gesichtet“ zuerst unter dem Pseudonym Daniel Herbst im Ensslin & Laiblin Verlag, Reutlingen

Cover © by Steve Mayer (Layout) – Trimatix / pixabay, 2015

Wettrennen im Morgengrauen

Der Tanker mit dem exotischen Namen »Carcosa« war noch nicht ganz in die Fahrrinne eingeschwenkt, als Kevin den Wagen in Bewegung zu setzen versuchte. Natürlich war das für einen Achtzehnjährigen, der am Vortag seine Fahrprüfung bestanden hatte, nicht ganz so einfach wie für einen alten Hasen von Berufskraftfahrer. Mag sein, dass er mit seinem versuchten Schnellstart nur seiner sechzehnjährigen Schwester Sabine imponieren wollte, die neben ihm saß; auf alle Fälle wurde sein Vorhaben ein absoluter Schlag ins Wasser. Der Motor knurrte anfänglich bestialisch, dann begann er widerwillig zu tuckern und erstarb schließlich mit einem müden Schnaufer.

»Abgemurkst!«, sagte Kevin kleinlaut.

Zum Glück hatte sich ihr Vater inzwischen von der Reling der auslaufenden »Carcosa« entfernt und deshalb die Pleite seines Sohnes nicht mit angesehen. Er war als Ingenieur auf der »Carcosa« beschäftigt und hätte sich über das technische Unvermögen seines Sohnes vermutlich die Haare gerauft. Kevin stieß einen Seufzer aus. Und dabei war er so stolz darauf gewesen, dass sein Vater ihm für die Zeit seiner Abwesenheit zum ersten Mal die alte Familienkutsche überlassen hatte!

Sabine sagte nichts. Sie starrte immer noch gedankenverloren auf die blau gestrichene Außenhülle des mächtigen Schiffes, das jetzt von wendigen Schleppern aus dem Hafenbecken gezogen wurde, lauschte dem heiseren Tuten der Nebelhörner, träumte von Palmen und wünschte sich nichts sehnlicher, als mit an Bord gehen zu dürfen und die Reise in den Orient mitzumachen. Aber daraus wurde nichts. In elf Tagen waren die Schulferien zu Ende, und ihr Vater würde erst wieder in einem Monat nach Wilhelmshaven zurückkehren.

Der Winterurlaub hatte kläglich geendet, denn ihre Mutter hatte sich auf der Skipiste ein Bein gebrochen und saß nun zu Hause in der Obhut von Oma Hermine, die sofort mit dem D-Zug aus Wuppertal angereist war. Zu allem Übel hatte die Reederei Sabines und Kevins Vater unerwartet aus dem wohlverdienten Urlaub abberufen: Zwei andere Ingenieure der »Carcosa« waren erkrankt, und er musste für sie einspringen.

Obwohl Oma Hermine wenig vom Reisen hielt und selten über die Grenzen des Bergischen Landes hinausgekommen war, hatte sie zu Hause alles stehen und liegen gelassen, als der Hilferuf aus dem Norden per Telefon an sie ergangen war. Ihre Devise »Bleibe daheim und nähre dich redlich« vergessend, war sie — kaum mit einem Taxi vom Bahnhof gekommen — sogleich in die Küche geeilt und hatte ihrem Schwiegersohn Douglas ein kräftiges Frühstück bereitet. Dass sie bald wieder abreiste, war nicht zu erwarten. Sie wollte nach den Kindern sehen, solange ihre Tochter im Gips steckte.

Dass Sabine und Kevin sich nicht mehr für Kinder hielten, war natürlich eine andere Sache.

Kevin stellte fest, dass Sabine immer noch aus dem Wagenfenster starrte, beglückwünschte sich zu seiner verträumten Schwester und unternahm einen weiteren Versuch. Diesmal klappte es! Der Motor schnurrte wie ein Uhrwerk. Kevin atmete auf, schob den Gang ein und fuhr langsam an der Pier entlang. Obwohl sie niemand drängte und es erst sechs Uhr morgens war, konnte er es doch nicht lassen, auf die Tube zu drücken. Schließlich musste er herausfinden, was Vaters Kasten unter der Haube hatte. Leider war der Wagen ziemlich alt und für Rennen schon gar nicht geeignet.

Als sie die Hafenausfahrt hinter sich hatten, schoss urplötzlich aus einer Seitenstraße ein giftgrüner Kleinwagen heraus.

Sabine erwachte aus ihrer Träumerei, stieß einen entsetzten Schrei aus und hob die Hände. Aber nichts geschah. Kevin wich dem anderen Fahrzeug geschickt aus, brummte einen unverständlichen Fluch, tippte sich mit dem rechten Zeigefinger gegen die Stirn und gab Gas. Der Fahrer des anderen Wagens, ein bebrillter Mann in den Fünfzigern mit einem gezwirbelten Schnurrbart und einer Melone, der in Sabines Augen wie ein Waschbär wirkte, machte sich an die Verfolgung. Es dauerte allerdings eine Minute, bis Kevin auffiel, dass der Fremde hinter ihnen her raste.

»Was ist das denn für ein Knallkopf?«, fragte er unverblümt, als seine Schwester ihn auf den Waschbär aufmerksam machte.

»Er scheint ziemlich außer sich zu sein«, murmelte Sabine achselzuckend und warf einen Blick aus dem Heckfenster. »Du hättest ihm besser doch keinen Vogel zeigen sollen.«

Kevin lachte. »Ach was«, meinte er dann. »Wenn ein Polizist gesehen hätte, wie der Bursche sich benommen hat...« Er hielt plötzlich inne und schluckte hörbar.

»Glaubst du, er ist vielleicht Polizist?«, fragte Sabine lachend.

»Um Himmels willen!«, stöhnte Kevin entsetzt. »Mein Führerschein!«

»Er bleibt dran«, sagte Sabine zehn Sekunden später, was Kevin noch mehr verunsicherte. Unmerklich trat er auf den Gashebel.

»Willst du etwa sagen, ich hätte mich verkehrswidrig verhalten?«, fragte er nach einer Weile. Er hatte offenbar doch ein schlechtes Gewissen. »Ach was, der Kerl ist ein Wichtigtuer, der...«

 

Sabine schrie auf. Der Mann mit der Melone hatte jetzt aufgeholt und fuhr neben ihnen her. Als er die Höhe des alten Familienwagens erreicht hatte, schaute er aus dem Seitenfenster zu ihnen herüber und machte eine unverständliche Geste.

»Er will uns zum Halten zwingen«, stieß Kevin wütend hervor. »Nee, mit mir macht er das aber nicht!« Er beschleunigte.

»Kevin!«, rief Sabine. »Pass auf!«

»Keine Sorge.« Kevin steckte die Zungenspitze zwischen die Lippen und beugte sich vor. Der Fremde fiel zurück, fädelte sich wieder hinter ihnen ein und stimmte ein wildes Hupkonzert an.

»Jetzt dreht er völlig durch!« Kevin seufzte betroffen und hielt ernsthaft, aber vergeblich nach einem Streifenwagen Ausschau.

»Er gibt nicht auf«, stellte Sabine fest, als sie sich der Innenstadt näherten. »Wir sollten etwas unternehmen, Kevin.«

»Ha, ha!«, machte Kevin. »Und was? Anhalten etwa? Damit er auf uns drauf fährt?« Er drehte für eine Sekunde den Kopf nach hinten, was Sabine beinahe in Panik versetzte. »Vielleicht ist das auch nur ein Straßendieb... ein Automarder, der Leute ausplündert, die zeitig unterwegs sind...«

Sabine schauderte. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht! Eine halbe Minute später schien Kevin seine Meinung jedoch zu ändern. Er holte tief Luft, peilte einen großen Parkplatz an, der sich rechterhand ausbreitete, und schwenkte von der Fahrbahn ab. Mit quietschenden Reifen jagte Kevin das Auto über eine vom Nieselregen feuchte Betonpiste, deren Umgebung im Halblicht des trüben Morgens unheimlich wirkte, und hielt an. Sabine schüttelte sich. Nebelschwaden zogen umher. Der ganze Platz war unbeleuchtet.

»Raus!« Kevin löste den Sicherheitsgurt, öffnete die Wagentür und stand wenig später im Freien. Es regnete immer noch, aber nicht mehr so heftig wie am Hafen. Sabine tat es ihm gleich. Der Fremde, der zunächst — wohl überrascht von Kevins flinker Abbiegungstaktik — hundert Schritte weitergefahren war, hielt an und fuhr im Rückwärtsgang auf sie zu. Dann wendete er mit klappernder Motorhaube und fuhr brummend auf den Parkplatz. Weniger als zehn Schritte von Kevin und Sabine entfernt hielt der Wagen.

Sabine stockte der Atem, als der fremde Mann ausstieg, denn sie war sich gar nicht mehr so sicher, ob sie nicht doch gegen eine Verkehrsregel verstoßen hatten. Sie fragte sich allerdings, warum der Mann keine Polizeikelle aus dem Seitenfenster gehalten hatte, wenn er wirklich ein Zivilfahnder war.

Trotz des Frühdunstes konnte Sabine sehen, dass der Fremde, der nun in leicht gebückter Haltung auf sie zukam, wesentlich kleiner war als ihr Bruder. Ihre Angst wich ein wenig. Kevin war kein Schwächling. Wenn der Fremde wirklich ein Automarder war, würde er mit Kevin kein leichtes Spiel haben — vorausgesetzt, er hatte keine Waffe. Kevin indessen schien weniger Selbstvertrauen in seine Kräfte zu haben, denn es war seine Stimme, die jetzt mit einem merkwürdig zittrigen Unterton fragte: »Was wollen Sie von uns?«

Der Waschbär hob den Kopf und sagte: »I beg your pardon, Sir, but... Do you speak English?«

Natürlich sprach Kevin Englisch. Er sprach es sogar ganz ausgezeichnet und fließend, ebenso wie Sabine, was ja schließlich nicht ungewöhnlich ist, wenn man einen schottischen Vater hat und in der Schule die Ohren auf Sturm stellt, sobald die zweite Muttersprache durchgenommen wird.

»Ich verstehe Sie.«

Der Fremde schien aufzuatmen. Er streckte die rechte Hand aus und sagte: »Das beruhigt mich, wahrlich und wahrhaftig! Ich dachte schon, ich hätte mich getäuscht und wäre einem fremden Wagen hinterher gefahren.«

Kevin und Sabine verstanden immer noch nichts und warfen sich fragende Blicke zu. Was wollte der Mann von ihnen?

Er kam jedenfalls schnell zur Sache. »Mein Name ist Kenneth F. Slater«, sagte er und überreichte Kevin und Sabine eine Visitenkarte. »Ich arbeite als Notar in Edinburgh und befinde mich aus geschäftlichen Gründen in Wilhelmshaven.« Er holte tief Luft und deutete auf Kevin. »Ihre Reederei hat mir gesagt, wo ich Sie finden kann, Mister McIntyre, und die Leute dort haben mir eine Beschreibung und die Nummer Ihres Wagens gegeben.« Er hüstelte verlegen. »Es ist sehr ungemütlich hier draußen. Sollten wir uns nicht an einen anderen Ort begeben?«

»Wie? Wer? Was? Wann?«, fragte Kevin verdattert. Ihm wurde klar, dass dieser mysteriöse Kenneth F. Slater aus Edinburgh ihn mit seinem Vater verwechselte, der soeben im Begriff war, mit der »Carcosa« auf die südliche Halbkugel der Erde zu entschwinden. Es war alles nur ein Versehen! Da hatte er diesem Mann, der offenbar geschäftlich mit seinem Vater zu tun hatte, ein Wettrennen geliefert — und dabei hätte er ihn an der Pier möglicherweise noch erreichen können. »Ich bin ein Trottel!«, sagte Kevin.

»Wie belieben?«, fragte Mr. Slater, der kein Wort Deutsch verstand.

Ein Satz genügte allerdings, um ihn davon in Kenntnis zu setzen, dass er sich auf eine völlig falsche Fährte begeben hatte. Dann war Mr. Slater mit dem Auf stöhnen dran.

»Oh, wie entsetzlich!«, rief er aus, als er begriff, nicht den Gesuchten, sondern dessen Sohn vor sich zu haben. »Das könnte die Chancen für Sie unglaublich schmälern!«

Sabine hatte den Eindruck, dass es jetzt an der Zeit sei, klärend in das festgefahrene Gespräch einzugreifen. Kevin, dem offenbar noch der Schreck der Verfolgungsjagd in den Knochen saß, schien ihr momentan als Auflöser von Rätseln ungeeignet. »Was wollen Sie von unserem Vater, Mister Slater?«, fragte sie rundheraus.

»Oh«, machte Mr. Slater, sichtlich beeindruckt von der Resolutheit des Mädchens in der blauen Latzhose. »Es handelt sich um eine Erbschaftsangelegenheit. Sir Roderick, der einundzwanzigste Earl of Pluckerwank — seine Familie ist allerdings unter dem Namen McPherson weitaus bekannter geworden, wenn ich mir diese kleine Abschweifung erlauben darf —, hat das gesamte lebende und tote Inventar seiner Hinterlassenschaft Mister Douglas McIntyre, wohnhaft seit 1961 in Wilhelmshaven, vermacht. Deswegen wollte ich ihn sprechen.«

»Wir erben!«, jubelte Kevin, der den Schock jetzt tadellos überwunden hatte, und riss Sabine in seine Arme. »Wir werden Millionäre!«

»Harrrumpf«, machte Mr. Slater und zog sich die Melone wegen der jetzt wieder dichter fallenden Regentropfen tiefer in die Stirn. »Nun, bevor es sich lohnt, in Freudentränen auszubrechen, mein junger Freund, sollten noch einige... äh... Dinge geklärt werden. Ich möchte es mir deswegen erlauben, meinen soeben geäußerten Vorschlag noch einmal zu wiederholen und...«

»Kommen Sie mit!« Kevin packte den verwirrten und durchnässten Notar begeistert am Jackenärmel. »Wir fahren sofort zu uns nach Hause. Mama wird der Schlag treffen, wenn sie von der Geschichte hört — und Oma...«

»Hoffen wir im Interesse ihrer Gesundheit, dass das nicht der Fall sein wird!« Mr. Slater hüstelte und entblößte freundlich lächelnd sein ein wenig zu groß geratenes Gebiss. »Ich werde mit meinem Wagen hinter Ihnen her fahren.«

»Klar«, sagte Kevin und schubste seine sprachlose Schwester auf den Beifahrersitz des Autos.

Eine Burg in Schottland

Sie kamen gerade recht zum zweiten Frühstück.

Mama McIntyre, beziehungsweise Ellen, hatte sich mit Hilfe von Oma Hermine in die Küche begeben und klopfte ihrem Frühstücksei die Kappe ab, als Kevin und Sabine — den verlegen wirkenden Mr. Slater im Kielwasser — in die Wohnung stürmten und ihr mit einem lautstarken Wortschwall beizubringen versuchten, dass sie den Fahrplan für eine Weltreise schon unterwegs im Auto ausgeknobelt hatten.

Mr. Slater nahm auf einem Küchenstuhl Platz, wehrte entsetzt ab, als Oma Hermine ihm eine Tasse Kaffee anbot, und schob sich eine Magentablette zwischen die Zähne. Als Oma Hermine ihm einen Teebeutel unter die Nase hielt, hellten sich seine Züge sichtbar auf, und er nickte dankbar.

Ehe Mr. Slater allerdings dazu kam, auch nur eine einzige Silbe zu äußern, hatten Kevin und Sabine ihrer Mutter bereits brühwarm die phantastischste Geschichte aller Zeiten aufgetischt, aber da sie es in ihrer Hochstimmung nicht lassen konnten, gleichzeitig zu sprechen, verstand Ellen McIntyre kein Wort. Da Mr. Slater nicht deutsch sprach, musste die Unterhaltung auf Englisch geführt werden, was Oma Hermine sichtlich verdross, denn sie fühlte sich von nun an irgendwie vom Freudentaumel der Kinder ausgeschlossen.

Nachdem Mr. Slater Frau McIntyre die wichtigsten Informationen hatte zukommen lassen und Oma Hermine ihrer Tochter einen Blick zugeworfen hatte, der besagte »Ich bin zwar nicht neugierig, würde aber gern alles wissen«, erhielt sie einen gerafften Bericht.

»Ein gewisser Sir Roderick McPherson hat Douglas sein Vermögen hinterlassen, Mutter.«

»Aha«, sagte Oma Hermine und wiegte verständnislos das graue Haupt. »Und wer ist dieser Mäkförssen? Ein Verwandter von Dagless?«

»Sir Roderick«, erwiderte Mr. Slater auf eine entsprechende Frage Sabines, »war mitnichten ein Verwandter der McIntyres. Man kann sogar sagen...« Er fummelte aufgeregt an seiner Krawatte herum. »... man kann sogar sagen, dass die beiden Familien über eine gewisse Zeitspanne hinweg...« Er machte eine betroffene Pause. »... nun ja... verfeindet waren.«

»Nanu«, sagte Kevin und schaute auf. »Und trotzdem vermacht er uns sein Vermögen?«

»Das verstehe ich auch nicht«, sagte Sabine.

»Als Sir Roderick spürte, dass er bald das Zeitliche segnen wird«, erklärte Mr. Slater mit einem traurigen Waschbärenblick, »kam er in meine Kanzlei und sagte: ,Mein lieber Slater, ich fühle mich von einer tiefen Reue gepackt.’ — Und als ich fragend zu ihm aufschaute und mich erkundigte, ob er sich denn in seinem Leben jemals etwas habe zuschulden kommen lassen, erwiderte er: ,Nun ja, ich kann wohl behaupten, dass ich in meinem Leben kein größerer Lump war als die anderen Menschen auch, aber eines bedrückt mich doch: Es gab da einst in meiner Jugend einen gewissen Christopher McIntyre... ’«

»Das war Papas Großvater«, erklärte Ellen McIntyre ihren Kindern. »Papa hat von ihm erzählt.«

Mr. Slater räusperte sich und fuhr fort: »Sir Roderick hat, wie er verlauten ließ, mit diesem Christopher McIntyre bisweilen Karten gespielt.« Die Fistelstimme des Verblichenen imitierend, sagte er: »,Dieser Christopher McIntyre war ein verteufelt guter Pokerspieler, Slater, und hatte zudem noch unverschämtes Glück. Eines Tages packte mich eine allzu menschliche Regung: der Neid. Ich... äh... half meinem Glück ein wenig nach, indem ich hin und wieder ein zusätzliches Kärtchen in meinem Ärmel versteckte. Von da an hatte Christopher McIntyre Pech. Da er nicht einsehen wollte, dass seine Glückssträhne zu Ende war, ging er aufs Risiko und verlor schließlich an mich Haus und Hof.’«

»Wollen Sie damit im Klartext sagen«, fiel Sabine empört ein, »dass er unseren Großvater beschummelt hat?«

Mr. Slater nestelte an seinem Hemdkragen. »Leider ja. Die Reue packte ihn erst kurz vor seinem Ableben. Deswegen hat er entschieden, dass sein Besitz — sozusagen als Schadenersatz — an die Familie Christopher McIntyres übergeht, wenn sie das Erbe annimmt.«

»Warum sollten wir es denn ablehnen?«, fragte Kevin spontan und schaute in die Ferne. Er sah sich bereits einen eigenen Wagen fahren und einen Urlaub in Alaska verbringen.

»Ja, warum sollten wir das?«, fragte auch Ellen McIntyre, die bisher kaum zu Wort gekommen war, und übersetzte Oma Hermine, was Mr. Slater gesagt hatte.

»Weil...« Mr. Slater druckste herum. »...es da noch eine klitzekleine Klausel gibt.« Er nahm hastig einen Schluck aus seiner Teetasse, als befürchte er, Oma Hermine könne sie ihm nach Bekanntgabe derselben wieder wegnehmen.

»Und wie lautet die?« Kevin fasste den Notar scharf ins Auge.

»Leider besteht die Hinterlassenschaft Sir Rodericks nicht nur aus Hab und Gut«, sagte Mr. Slater, »sondern auch aus einem gewissen Schuldenbetrag, den der Erbe natürlich mit übernehmen muss, darunter auch... äh... mein Honorar für die letzten sieben Jahre. Es handelt sich dabei allerdings nur um die Kleinigkeit von siebenundachtzigtausend Pfund Sterling.«

»Ach, du Schande!«, rief Kevin entsetzt.

Sabine schaute an die Decke. Aus der Traum vom baldigen Millionärsdasein!

Ihre Mutter sagte. »Das sind fast vierhunderttausend Mark! Wo sollen wir die hernehmen?«

Oma Hermine, die sich Mr. Slaters letzte Eröffnung von Sabine erst einmal übersetzen ließ, fragte: »Ja, Herrgott noch mal, woraus besteht denn dieses sonderbare Erbe nun eigentlich?«

 

»Ja, eben!«, trumpfte nun auch Kevin auf, der plötzlich neuen Mut fasste. »Woraus besteht es überhaupt, Mister Slater?«

Mr. Slater runzelte die Stirn und sagte: »Aus Laggin Castle, einem Grundbesitz von zehntausend Hektar Land, sieben Pferden und einer eintausendfünfhundertköpfigen Schafherde.«

»Na, das ist doch wenigstens etwas«, meinte Kevin und sah seine Mutter triumphierend an, um festzustellen, ob sie der Erbschaft noch immer ablehnend gegenüberstand. »Vielleicht kann man die Pferde verkaufen. Vielleicht sind es Rennpferde, die schon Preise in Ascot gewonnen haben...«

»Bedaure«, war Mr. Slater ein, »es handelt sich um ganz gewöhnliche Ackergäule.«

»Vielleicht kann man die Schafherde verkaufen...«, spann Kevin weiter, um seine Mutter aufzuheitern. Wenn man es genau nahm, gefielen ihm Burgen noch besser als Autos, und...

»Das soll Papa ganz allein entscheiden«, sagte Ellen McIntyre und bewegte vorsichtig das eingegipste Bein. »In vier Wochen ist er wieder da...«

»Oh«, warf Mr. Slater ein, »ich muss Ihnen leider mitteilen, dass das ausgeschlossen ist. Sir Roderick hat festgelegt, dass sich die Erben innerhalb von zehn Tagen nach der Testamentseröffnung zu entscheiden haben, ob sie annehmen oder nicht. — Sollten Sie das Erbe nicht antreten, geht Laggin Castle in den Besitz der Vereinigung verarmter Millionäre über.«

Kevin lachte. »Das darf doch nicht wahr sein!«

»Vereinigung verarmter Millionäre?«, fragte Sabine. »Ich werd’ auf der Stelle verrückt!«

Auch Ellen McIntyre und Oma Hermine lachten. »So lautet das Testament«, sagte Mr. Slater.

»Da bleibt uns nur eines«, erklärte Ellen McIntyre. »Oma fährt nach Schottland, inspiziert das Anwesen und sagt uns Bescheid, ob es sich überhaupt lohnt. Wenn sie der Meinung ist, dass der Wert der Burg den der Schulden übersteigt, telegraphieren wir Papa und...«

»Iiiich?«, fragte Oma Hermine entsetzt und streckte abwehrend die Hände von sich. »Niemals! In alten Burgen wimmelt es von Gespenstern — und ganz besonders in schottischen! Außerdem hasse ich Burgen! Ich kann ja auch kein Wort Englisch. Wie sollte ich mich verständigen? Ich könnte nicht einmal von dort nach hier anrufen! Nein, nein, dazu schlagt ihr mich nicht breit!«

»Aber, Oma...«, flehte Sabine. »Du bist doch die einzige Erwachsene in dieser Familie, nachdem die Eltern ausfallen. Denk, was es bedeutet, wenn du für Vater sozusagen Vorarbeit leistest und seinen schottischen Schafen in die Wolle greifst! Sie haben die alten Gespenster sicherlich längst vertrieben. Soviel ich weiß, reagieren die nämlich allergisch auf alle Arten von Schafläusen!«

Kevin grinste. Nicht nur er, sondern auch seine Schwester und seine Mutter wussten ganz genau, dass Oma Hermine ihre vermeintliche Furcht vor Gespenstern nur vorschob, weil sie eine Heidenangst davor hatte, ein Flugzeug zu besteigen. »Außerdem«, fuhr Oma unbeirrt fort, »muss jemand hier sein, der sich um euch kümmert.«

»Vielleicht könntest du ein Schiff nehmen?«, fragte Kevin ein wenig heimtückisch.

»Glaubst du etwa, ich hätte Angst vor dem Fliegen?«, fragte Oma pikiert und schüttelte den Kopf. »Außerdem werde ich leicht seekrank.«

Kevins Stimmung sank auf den Nullpunkt. Es war Sabine, die ihn schließlich davor bewahrte, völlig zu verzweifeln. Sie hatte eine Idee, die so gut war, dass er sie wirklich bewundern musste.

»Wisst ihr was?«, fragte sie mit einem unschuldigen Augenaufschlag. »Die Schule fängt erst in elf Tagen an. Kevin hat sowieso nichts zu tun, solange seine Einberufung zum Ersatzdienst nicht da ist. Wir schicken Papa ein Funktelegramm, damit er so schnell wie möglich Sonderurlaub bekommt, und peilen inzwischen in Schottland die Lage!«

»Wenn Papa kommt«, warf Kevin blitzschnell ein, »haben wir schon alle Vorarbeiten geleistet, und er braucht nur noch eine Entscheidung zu fällen!«

»Oh, yes.« Mr. Slater nickte vorsorglich, obgleich er nichts verstanden hatte. »Eine gute Idee!«

Frau McIntyre sah ihre Kinder zweifelnd und gleichzeitig ein wenig listig an, aber Oma Hermine riss die Arme hoch und rief entsetzt: »Also das geht aber nicht, Ellen! Du kannst die Kinder nicht mutterseelenallein ins Ausland fahren lassen! Allein unter Millionen Schotten!«

»Wir sind auch Schotten, Oma«, sagte Sabine augenzwinkernd und kicherte, »jedenfalls halbe. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen, dass wir unter die Räder kommen. Und Angst vor dem Fliegen haben wir auch nicht.«

Das saß offenbar. Oma Hermine brummte und verfiel von nun an in ein gekränktes Schweigen.

Frau McIntyre sah den abwartend dasitzenden Mr. Slater lächelnd an, klopfte auf ihr Gipsbein und sagte schließlich: »Sei’s drum! Die Kinder fliegen! Und Douglas bekommt ein Telegramm!«

Die Kinder waren begeistert, und sogar Oma Hermine konnte sich einer heimlichen Freude nicht erwehren: Sie hatte sich schon immer gewünscht, jemanden etwas Handfestes erben zu sehen.

Eine Minute später hing Kevin am Telefon und rief die Reederei an, die noch Funkverbindung mit der »Carcosa« hatte. Man nahm sein Telegramm auf, und eine halbe Stunde später klingelte bei den McIntyres das Telefon.

»Rückantwort von Ingenieur Douglas McIntyre«, sagte der Reedereiangestellte. »Soll ich vorlesen?«

»Ja, ja!«, rief Sabine, die den Anruf entgegennahm. »Nur zu!«

»Kann frühestens in acht Tagen dort sein. Stop. Habe vierundzwanzig Stunden Sonderurlaub erhalten. Stop. Komme mit dem Flugzeug. Stop. Telegraphiere meinem Freund William McLean aus Edinburgh. Stop. Er soll euch mit Rat und Tat zur Seite stehen. Stop. Viele Grüße. Stop. Papa.« Der Angestellte räusperte sich. »Das war’s.«

»Vielen Dank!« Sabine warf den Hörer auf die Gabel. »Papa bekommt Sonderurlaub!«, rief sie begeistert. »Und er ist einverstanden!«

»Dann ans Kofferpacken«, sagte Frau McIntyre. »Wir sorgen für die Reiseverpflegung.«

»Wo ist meine Kamera?«, schrie Kevin aus seinem Zimmer. Ihn hatte das Reisefieber mit aller Macht gepackt, aber das war nach der Pleite mit den Winterferien ja auch kein Wunder.