Das Geheimnis der Väter

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Das Geheimnis der Väter
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Daniel Eichenauer

Das Geheimnis der Väter

Roman

Jaron Verlag

Daniel Eichenauer wurde 1976 in West-Berlin geboren und wuchs mit der allgegenwärtigen Mauer im Garten seines Elternhauses auf. Nach dem Abitur studierte er Rechtswissenschaften in Berlin und Sydney. Heute arbeitet er als Rechtsanwalt in Berlin. «Das Geheimnis der Väter» ist sein erster Roman.

Originalausgabe

1. Auflage 2017

© 2017 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin

Satz: Prill Partners|producing, Barcelona

ISBN 978-3-955522-46-9

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Valentin Faber, 1985

Jakob Chrumm

Jakob Chrumm, 1984

Jakob Chrumm

Jakob Chrumm, 1981

Neele van Lenk, 1985

Neele van Lenk

Jakob Chrumm

Neele van Lenk

Jakob Chrumm

Hilmar van Lenk, 1985

Neele van Lenk

Jakob Chrumm

Neele van Lenk

Helena van Lenk

Neele van Lenk

Jakob Chrumm

Neele van Lenk

Jakob Chrumm

Neele van Lenk

Jakob Chrumm

Neele van Lenk

Jakob Chrumm

Kathi Karrenschmidt

Jakob Chrumm

Neele van Lenk

Jakob Chrumm

Neele van Lenk, sieben Tage zuvor

Jakob Chrumm

Neele van Lenk

Jakob Chrumm

Neele van Lenk

Helena van Lenk

Jakob Chrumm

Neele van Lenk

Jakob Chrumm

Neele van Lenk

Jakob Chrumm

Jakob Chrumm, drei Jahre später

Valentin Faber, 1985

Valentin Faber hatte sich entschieden. Endlich. Viel zu lange hatte er ein Leben geführt, in das er einfach hineingeraten war und über das er irgendwann die Kontrolle verloren hatte. Damit sollte nun Schluss sein, alter Ballast musste über Bord geworfen und das Schiff gesäubert werden. Auch wenn man in seinem Alter eine Lebensentscheidung nicht mehr leichtfertig traf, so musste er doch einsehen, dass er sich davor gedrückt hatte. Er war mit den Jahren feige geworden. Kaum jemand wusste von dem Teil seines Lebens, unter den er nun, im Herbst des Jahres 1985, einen Schlussstrich ziehen wollte. Er nahm all seinen Mut zusammen und griff zum Telefon.

«Ich will mit dir reden», sagte er, als jemand abgehoben hatte.

Als er den Hörer zurück auf die Gabel legte, atmete er auf. Er hatte lange genug sein Leben einfach so geschehen lassen, es wie ein Außenstehender betrachtet, nun wollte er es wieder selbst in die Hand nehmen. Sein Gesprächspartner würde nicht darüber erfreut sein.

Gegen 18 Uhr erhielt er einen Anruf – Treffen erst um 22 Uhr. Die Verschiebung kam ihm nicht ungelegen. Sie ließ ihm Zeit für ein Zwiegespräch mit dem Weingeist. Der Gedanke, dass er auf das Auto angewiesen war, kam ihm nicht. Die Zeit war sein Gegner, nicht das Gesetz. Gegen 21.30 Uhr trank er den letzten Brandy, zog den Mantel an, verabschiedete sich von seiner Frau und rannte durch die Dunkelheit zu seinem Auto.

Es regnete in Strömen, Sturzbäche rannen die Bordsteine hinunter. Hektisch quietschten die Scheibenwischer seines alten VWs. Der Sturm peitschte die Blätter und klatschte sie gegen die Windschutzscheibe. Entgegen seiner Gewohnheit sang Valentin nervös die Lieder aus dem Radio mit. Der Brandy zeigte seine Wirkung. Valentin Faber war aufgekratzt. Er bog in die stockfinstere Straße ein, die durch den Wald führte. Nur undeutlich konnte er vor sich den kurvigen Straßenverlauf im Scheinwerferlicht erkennen. Er musste die Augen zusammenkneifen, um überhaupt noch etwas zu sehen.

Plötzlich blendete ihn gleißendes Licht. Noch nie in seinem Leben hatte er in ein solch grelles Licht geblickt. Unwillkürlich dachte er an das Fernlicht eines Autos, doch dafür war es viel zu intensiv. Er konnte die Straße nicht mehr sehen. Seine Augen brannten. Kurz schloss er sie, doch die Lichtreflexe ließen nicht nach. Panisch betätigte er die Lichthupe, aber nichts geschah. Das Licht schien auf ihn zuzurasen. Eben noch nahm er die Umrisse eines Menschen wahr. Geblendet schlug er die Hände vors Gesicht und schrie. Dann spürte er nichts mehr.

Jakob Chrumm

Alles begann am Abend von Kathis dreißigstem Geburtstag. Und das, obwohl Kathi in meinem Leben nie zuvor irgendeine Bedeutung gehabt hatte. Ich könnte sagen, dass ich Kathi länger kenne, als ich sie nicht kenne. Schließlich kenne ich sie, seitdem ich denken kann.

Gemeinsam mit Neele van Lenk und Tom Tauber waren wir in einer Straße eines kleinen, verschlafenen Außenpostens von West-Berlin an der südwestlichen Grenze zu Potsdam aufgewachsen. Er war so klein, dass man gesagt hatte, man fahre «in die Stadt», selbst wenn man nur eine Fahrt in das kleine, grüne Zehlendorf unternehmen wollte. Der Sage nach hatte Hans Kohlhase hier seinen Schatz unter einer Brücke versteckt – und das hatte der Ortschaft ihren Namen eingebracht: Kohlhasenbrück. Die alte Brücke gab es jedoch schon lange nicht mehr, und auch der Fluss, über den sie geführt hatte, die Bäke, war verschwunden und hatte dem Teltowkanal Platz gemacht. Das ruhige, kleine Dorf ­bestand nur aus ein paar Straßen, an denen eine Handvoll alter ­Villen stand. Um den Stölpchensee und den Rest der Stadt zu erreichen, musste man den Teltowkanal überqueren und die Straße durch den Wald benutzen.

Wenn die Erben der Bewohner Geld brauchten und ihre Gärten groß genug waren, teilten sie ihre Grundstücke, und einige neue Häuser kamen hinzu. Der Dorfladen war aus Altersgründen bereits seit den Siebzigern geschlossen, nur noch die Autobücherei kam einmal in der Woche vorbei. Unsere Straße endete an der Mauer, und hinter dem anderen Ende des Dorfes, markiert durch den Teltowkanal, erstreckte sich der Wald. Oft hatten wir in diesem Wald gespielt, denn dort lag eine seit Jahrzehnten stillgelegte S-Bahn-Strecke in tiefem Dornröschenschlaf. Seit dem Mauerbau rollten auf ihr keine Züge mehr. Vom ehemaligen Betrieb zeugten nur noch die verrosteten, von Rankgewächsen überwucherten Schienen und Signalanlagen, die geduldig und pflichtbewusst auf ihren nächsten Einsatz zu warten schienen und an der Mauer endeten. Als Kinder waren wir oft auf die Signale geklettert, hatten die Stromschienen erforscht und uns ausgemalt, wie plötzlich ein Zug krachend durch Sträucher und Bäume pflügen und uns zur Seite scheuchen würde.

 

Obwohl ich mit Kathi, Tom und den anderen Kindern aus unserem kleinen Dorf auf diesem verwunschenen Abenteuerspielplatz so viele Stunden verbracht hatte, war es mir in all den Jahren nicht gelungen, eine tiefere Verbindung zu Kathi aufzubauen. Ich schäme mich fast, es zu sagen, aber das war wohl auch der Grund, weshalb ich an diesem Abend mit dem Anziehen trödelte.

«Langsam musst du dich fertig machen!», sagte meine Freundin Nina streng.

«Jetzt schon?», quengelte ich.

«Jakob, es sind deine Freunde! Mir ist es egal, wann du dort ankommst, aber ich dachte, du magst sie.»

«Das schon, aber …»

Nina sah mich fragend an.

«… aber man darf in Anwesenheit von Kathis Lehrerfreundinnen bestimmt nicht lachen», maulte ich.

«Du bist aber auch ein alter Stinkstiefel!» Sie zwickte mich in die Wange. «Wenn du so weitermachst, lebst du bald ganz alleine in einem alten Haus im Wald und hast eine krumme Nase.»

Im Gegensatz zu Kathi spielte ihr Freund Tom Tauber seit jeher eine große Rolle in meinem Leben. Und normalerweise hätte ich die Party, die sie in ihrem gemeinsamen neuen Haus gaben, nur aus Pflichtbewusstsein ihm gegenüber besucht. Doch diesmal war es Kathi gelungen, meine Neugier zu wecken.

Vor einigen Wochen hatten wir am Pool gesessen, den Tom mit Unterstützung seiner Freunde in seinem Garten gebaut hatte. Ich war nie ein Freund körperlicher Arbeit gewesen, aber Baggerfahren machte Spaß, und jetzt, im Sommer, hatten wir die Früchte unserer Arbeit ernten können. Beim Biertrinken war uns die Idee gekommen, die Mädchen von damals, Neele und ihre Freundinnen, ausfindig zu machen und zu einer Poolparty einzuladen. Doch leider hatte auch diese Idee das Schicksal der meisten Einfälle erlitten, die abends geboren werden: Sie war schon im Morgengrauen verstorben. Es war dann aber Kathi, die mich einige Tage später plötzlich fragte, ob ich Pläne für übernächsten Samstag habe.

«Gibt’s was zu feiern?», hatte ich mich erkundigt.

«Ja», hatte sie geantwortet, «meinen Geburtstag. Jährlich wiederkehrend, ganz unvorhersehbar! Es wird sogar eine Überraschung geben.»

Ich gestehe, dass ich den Köder, den Kathi damit ausgelegt hatte, anfangs misstrauisch beäugte. Daran hatte sich auch nichts geändert, bis ich nun mein Auto in ihrer Straße abstellte und laute Musik und Gelächter hörte. Der Lärm kommt bestimmt nicht von Kathis Feier, dachte ich, als ich ausstieg. Wenn es mir auf ihrem Geburtstag zu langweilig wird, gehe ich später einfach auf die andere Party.

Doch als ich eintrat, traute ich meinen Augen kaum: Die Quelle von Musik, Lachen und Gekreische lag tatsächlich in diesem Haus, dem Haus von Tom und Kathi. Das hatte es noch nie zuvor gegeben. Tom und Kathi waren keine lauten und impulsiven Menschen. Sie waren eher das Gegenteil: beständig und ruhig. Experimente waren nicht ihre Sache, selbst in Beziehungssachen nicht. Sie waren schon seit ihrem vierzehnten Lebensjahr ein Paar und machten trotzdem immer noch einen glücklichen Eindruck. Nach meiner Erfahrung pflegen sich Menschen, die in jungen Jahren zusammenkommen, nach dem Ende ihrer Ausbildung oder wenig später zu trennen. Man rettet einfach keine Überbleibsel aus einer vergangenen Ära mit in eine neue hinüber. Wollten die beiden nie etwas anderes ausprobieren?, überlegte ich so manches Mal. Waren sie zufrieden mit dem, was sie aneinander hatten? Ich wusste nicht, ob das beneidenswert oder Feigheit vor dem Leben war.

«Kathi», sagte Tom oft, «begeistert mich jeden Tag aufs Neue. Sie ist so lebensfroh.» An dieser Stelle seufzte und lächelte er immer. «Mit ihrer Energie ist sie für mich ein wahres Zugpferd.»

Liebe macht bekanntlich blind. Das einzig Zugpferdähnliche an Kathi war ihr Hintern. Die Frage, was Tom an ihr fand, war für mich eines der großen ungelösten Rätsel der Menschheit. Kathi Karrenschmidt war weder hübsch noch hässlich. Sie war klein, brünett und unscheinbar. Lehrerin. Selten diskutierte sie über ihre Ansichten, und man wusste nie, ob sie überhaupt welche hatte. Sie hatte sich zu einer rundum durchschnittlichen Person entwickelt, nicht zu einem Menschen, der Leidenschaft entfachte. Die meisten unserer gemeinsamen Bekannten hatten weder eine gute noch eine schlechte Meinung von ihr. Allein aus diesem Grund wunderte ich mich, woher Tom und Kathi auf einmal diese aufregend verkleideten Leute kannten. Wo waren nur die Lehrerfreundinnen abgeblieben? Es machte ganz den Eindruck, als könnte der Abend unerwartet lustig werden.

Ich entdeckte Tom, der sich mit bunt gekleideten Leuten unterhielt. Gerade als ich zu ihm gehen wollte, bemerkte er mich. Er entfernte sich von der Gruppe und kam mit einem strahlenden Lächeln auf mich zu. Es gab viele Gründe, weshalb ich Tom seit unserer Kindheit, in der wir gemeinsam die Geheimnisse unzähliger Sandkisten erkundet, uns fürs Bobbycar begeistert und Fahrradfahren gelernt hatten, gerne mochte. Ich liebte seine Loyalität ebenso wie seinen unerschütterlichen Glauben an unsere Freundschaft, mit dem er mich, der sich gelegentlich allzu sehr von negativen Gedanken mitreißen ließ, so manches Mal an das Gute im Leben erinnerte. Vor allem aber mochte ich ihn, weil er das totale Gegenteil von mir war. Tom Tauber hatte bereits in der zehnten Klasse gewusst, welchen Beruf er einmal ergreifen wollte – eine Gewissheit, die mir völlig rätselhaft war. ­Woher sollte man in so jungen Jahren wissen, womit man den Rest seines Lebens verbringen wollte? Seitdem er eine Banklehre absolviert hatte, ging er einem geregelten Leben nach und war vollkommen zufrieden mit seiner Berufswahl. Ich hingegen hatte gerade erst mein Studium der Wirtschaftswissenschaften beendet, und nach dem Sprung aus dem warmen Nest der Universität war der Aufprall auf den Asphalt der Realität härter als erwartet. Die Arbeit bei einer Versicherung erwies sich als weniger befriedigend als auf den Karrieremessen angepriesen. Tom war mit den Jahren verbindlicher und zurückhaltender geworden, kurz, er war erwachsen geworden.

«Tom!», rief ich zur Begrüßung und lachte. «Im weißen Anzug?» Ich sah ihn bewundernd an. «Steht dir ausgezeichnet!»

Alles war so verändert. Auf einmal stolzierte eine Frau in einem sehr kurzen Rock und mit umso höheren Stiefeln an uns vorbei und lächelte mich sündig an. Sie hatte lange schwarzgefärbte Haare und stahlblaue Augen.

«Wer war das denn?», fragte ich Tom sogleich.

«Weiß ich auch nicht, muss irgendeine Freundin von Kathi sein», erwiderte er gleichgültig.

«Irgendeine Freundin von Kathi?» Ich prustete.

Die Sündige ging zu einer Blondine und tuschelte mit ihr. Neben der stand eine Brünette in einem Rock mit Leopardenmuster und einer orangefarbenen Strumpfhose. Alle drei nahmen die Partygäste prüfend in Augenschein, saugten an ihren Strohhalmen und lachten frivol.

«Diese Überraschung ist Kathi aber gelungen!»

«Das ist noch nicht die Überraschung.» Tom klopfte mir auf die Schulter. «In der Küche findest du was zu trinken.»

Auf dem Weg dorthin fiel mir eine Frau auf, die mir auf rätselhafte Weise bekannt vorkam. Verstohlen beobachtete ich sie, während ich mein Glas füllte. Die ersten Männer versuchten indes, bei der sündigen Damenrunde zu landen. Lautes Gegacker war die Folge. Die rätselhafte Schöne aber stand alleine da. Sie ließ ihre Blicke durch den Raum schweifen, während sie mit ihren langen Haaren spielte. Als sich unsere Blicke trafen, lächelte sie geheimnisvoll. Knallrot wandte ich mich den Speisen zu. Ich verfluchte mich und meine Gedanken, womöglich auch meine Schüchternheit. Als ich mich wieder umdrehte, sah sie in eine andere Richtung. Da betrat Kathi die Küche.

«Was ist denn eigentlich mit der versprochenen Überraschung, Kathi?», fragte ich betont gleichgültig, nachdem wir uns begrüßt hatten. «Wolltest du diesmal nicht lieber deine Gäste überraschen, statt selbst überrascht zu werden?»

«Hattest du mir etwa wieder einen Polizisten schicken wollen, der sich auszieht?», entgegnete sie tadelnd. Dann nahm sie meine Hand und zog so hastig an mir, dass ich gerade noch mein Glas abstellen konnte.

In diesem Moment drehte sich die Geheimnisvolle um und lächelte mich erneut an. Sofort versuchte ich, mich von Kathis Hand zu befreien, aber sie ließ mich nicht los. Die Unbekannte sah mich an. Kathi führte mich zu ihr. Als wir vor ihr zum Stehen kamen, schob Kathi mich vor. Keiner sagte ein Wort. Mein Herz schlug bis zum Hals.

Kathi schaute uns abwechselnd an. «Na, kennt ihr euch noch?», fragte sie aufgeregt.

«Irgendwie kommt sie mir bekannt vor …», stotterte ich, um überhaupt irgendetwas zu sagen.

«Hallo, Jakob!», sagte die Schöne lächelnd.

«Kathi!», flehte ich leise.

Die Unbekannte lachte rauchig.

«Na?», bohrte Kathi nach.

Ich verfluchte sie, während ich um meine Selbstbeherrschung kämpfte.

«Mensch, Jakob, das ist Neele van Lenk! Erinnerst du dich nicht mehr an sie?»

Und wie ich mich plötzlich erinnerte! Die Überraschung war Kathi gelungen. Ich hatte Neele van Lenk nicht mehr gesehen, seit sich ihr Vater im Gefängnis erhängt hatte. Dieses fürchterliche Ereignis hatte Neele ein Stück ihrer Unbeschwertheit und uns anderen Kindern die Schulfreundin genommen, die mit uns gemeinsam zwischen den überwucherten Signalanlagen bei den Schienen Verstecken gespielt hatte. Schon bald nach dem Tod ihres Vaters hatte sie Berlin verlassen und war gemeinsam mit ihrer Mutter in eine Kleinstadt in deren westfälischer Heimat gezogen. Anfangs hatten wir uns noch krakelige Briefchen geschrieben, der Kontakt war aber bereits nach kurzer Zeit abgebrochen. Neele hat neue Freunde gefunden und uns vergessen, hatte ich damals gedacht. Das war nun fast zwanzig Jahre her. Ich erinnerte mich an ihr dunkelblondes Haar, an ihre spitze Nase und die schönen blauen Augen. Und tatsächlich – sie sah noch genauso aus wie in meiner Erinnerung. Selbst das Grübchen, für das sie sich früher so geschämt hatte, das ihr Lächeln aber so einzigartig und gewinnend gemacht hatte, war noch da. Gerade schlug sie verschämt lachend die Augenlider mit den langen Wimpern nieder, hielt schüchtern eine Hand vor die Wange und neigte den Kopf, nur weil ich ihr Grübchen allzu auffällig angestarrt hatte.

Neele erzählte von ihren Erinnerungen an Berlin und wie oft sie an die Stadt zurückgedacht hatte. Stets habe sie dabei ein Gefühl überkommen, das sie zunächst nicht recht einzuordnen gewusst und das sie irgendwann als Heimweh interpretiert hatte. «Weißt du, woran ich oft gedacht habe? An den Pool im neuen Haus deiner Eltern!» Sie lachte.

Ich erinnerte mich, wie meine Eltern, meine Mutter und Georg Chrumm, dieses Haus gekauft hatten.

Jakob Chrumm, 1984

Georg Chrumm hatte mich vor einigen Monaten als Sohn angenommen. Meinen leiblichen Vater hatte ich nie kennengelernt. Ich wusste nur, dass er ein harmloser Urlaubsflirt meiner Mutter gewesen war. Mein neuer Vater bemühte sich nun um ein schönes Heim für seine Familie. Wie passend war es da, dass eines Abends ganz in der Nähe, in derselben Straße, in der wir wohnten, ein Mann seine Ehefrau nicht wie gewöhnlich auf dem Sofa sitzend erwartete, sondern hinter der Tür lauerte – mit einem Hackebeil. Ihre Erben wussten die Konsequenzen geschickt zu nutzen: Bald stand der Tatort zum Verkauf. Das Besondere an dem Grundstück, auf dem keine der typischen Villen, sondern eine schäbige kleine Laube stand, war, dass es direkt an die Mauer grenzte. Es befand sich genau dort, wo die S-Bahn-Strecke, die zum Abenteuerspielplatz von uns Kindern geworden war, entlanggeführt hatte, bevor sie durch die Mauer eingeschläfert und wenig später von ihr verschluckt worden war. Bedrohlich, hässlich und grau durchtrennte die Mauer nur zwei Häuser weiter auch die Straße und den Verbindungsweg zwischen Berlin und Potsdam. Kein Auto verirrte sich mehr hierher. Nur die Giebel der alten Villen in Babelsberg konnte man noch über die Mauer hinweg erblicken. Filmstars und berühmte Regisseure der nahegelegenen UFA hatten dort angeblich scharenweise Quartier bezogen, bevor sie von den Kommunisten um ihr Hab und Gut gebracht und verjagt worden waren.

Es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, sich das genaueste Bild stets von denjenigen zu machen, die man am wenigsten kennt. Und so hatte man natürlich auch eine genaue Vorstellung von denen, die dort drüben in den Villen der Filmstars wohnten. Selbst wenn es möglich gewesen wäre – mit solchen Menschen wollte hier keiner Kontakt haben.

 

Im Grenzstreifen direkt hinter der Mauer befand sich ein Wachturm, eines dieser achteckigen Betonmonster mit Scheinwerfern auf dem Dach, das rund um die Uhr besetzt war. Die große Kanzel saß auf einer dünnen Säule, sodass das Monster unförmig und storchbeinig wirkte. Von ihm ging eine Ruhe aus, die nicht entspannend und erholsam war, sondern höchst bedrohlich wirkte. Da das Gefühl des Bedrohtseins bekanntlich den Genuss stört, entschied man, das Monster zu ignorieren und sich erst dann mit den möglichen Gefahren, die von ihm ausgingen, auseinanderzusetzen, wenn sie eintreten sollten.

Einige Monate nach der beklagenswerten Ehefrau wurde auch die schreckliche Laube auf unserem neuen Grundstück zu Grabe getragen, denn an ihrer Stelle sollte ein Pool errichtet werden. Berge von Müll, darunter auch Sachen, die in den Sondermüll gehörten, türmten sich in dem Bau, verpackt in Säcken, offenen Kartons und allen möglichen anderen Behältnissen.

«Wir werfen das ganze Zeug einfach über die Mauer.» Mein Stiefvater sah meine Mutter und mich an und wartete auf Beifall.

Schweigen.

«Dann hat die Mauer wenigstens einen Sinn», legte er nach.

«Georg, das können wir nicht machen!» Meine Mutter kicherte hinter vorgehaltener Hand.

«Warum denn nicht? Probieren wir’s aus!» Er genoss sichtlich, dass wir seine Unerschrockenheit bewunderten.

Auf dem Gesicht meiner Mutter zeigte sich ein scheeles Teenagergrinsen.

«Aber wenn die uns vom Turm aus erschießen?», gab ich zu bedenken.

«Ach was, die können gar nicht zielen!», beruhigte mich mein Vater.

Das überzeugte mich nicht. «Dann machen die uns anderen Ärger!»

«Was sollen die denn tun? Von ihrem Turm runterkrabbeln, über die Mauer springen und uns verprügeln?»

«Sie könnten die Polizei holen, und wir müssen Strafe zahlen», erwiderte ich ängstlich.

«Das will ich sehen, dass der Grenzer von drüben bei der West-Berliner Polizei anruft und sich darüber beschwert, dass die DDR von umherfliegendem Müll angegriffen wird.» Er lachte aus vollem Halse. «Ach, das wäre mir der Spaß wert!»

«Und wenn ein Müllsack auf eine der Minen fällt und die hochgeht?» Meiner Meinung nach stellte sich mein Vater die Sache zu einfach vor.

«Dann knallt es, und es ist eine Mine weniger. Vielleicht überlegen die sich da drüben dann, ob es richtig ist, das Gelände zu verminen.»

Schon flog der erste Sack über die Mauer. Ich verfolgte seine Flugbahn. Um Haaresbreite hätte er es nicht geschafft. Ich hielt den Atem an und die Ohren zu. Jeden Moment würde es knallen. Doch ich hörte nur einen dumpfen Aufschlag. Keine Explosion, kein Geschrei. Diese Ruhe war verdächtig. Da der Mensch jedoch nur lernt, wenn die Strafe auf dem Fuße folgt, fasste ich Mut. «Ich will auch einen werfen!»

«Na gut, aber einen leichten. Oder lieber erst mal eines von diesen kleinen Brettern zur Probe. Und mit viel Schwung, sonst landet es noch auf der Mauer, und wir müssen es wieder herunterholen. Das wollen wir doch nicht, oder? Peinlich wäre das! Also mit Anlauf, ungefähr so …»

Mein Vater setzte zu einer eigenartigen Demonstration an, deren Ausführung verriet, dass er schon seit Längerem keinen Sport mehr trieb. Da ich ahnte, was er meinte, wartete ich das Ende seiner Vorführung gar nicht erst ab, sondern nahm ein langes, sperriges, aber sehr leichtes Brett und warf es nach einigem Anlauf in Richtung Grenze. Im hohen Bogen flog es über die Mauer, und nach einer Weile hörten wir einen dumpfen Widerhall aus dem Reich des Schweigens.

«Yippie, viel weiter als du, Papa!», johlte ich.