Rheinfall

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DANIEL BADRAUN



RHEINFALL



Roman











Für Daniela






EINS



Es dämmert bereits über dem See von St. Moritz. Am grossen Fenster einer luxuriösen Suite im Palace Hotel steht eine Frau in einem langen schwarzen Kleid und schaut gedankenverloren zu, wie die letzten sonnenbeschienenen Flecken die Berge hochsteigen.



«Willst du etwas trinken?»



Sie zuckt zusammen, langsam dreht sie sich um, wie eben aus einem Traum erwacht. «Was hast du gesagt?»



«Ob du etwas trinken willst. Wir müssen reden!»



«Einen Prosecco, bitte!» Während er die Minibar öffnet, ein Fläschchen hervorzieht und die perlende Flüssigkeit in zwei Glä ser füllt, setzt sie sich seufzend auf den Diwan. «Jean-Pierre! Kann das nicht bis morgen warten?»



«Wir haben der Presse eine Mitteilung für achtzehn Uhr versprochen.»



Sie nimmt ihr Glas, schaut den Luftbläschen zu, die nach oben steigen. «Und was soll ich deiner Meinung nach tun?»



«Ich bin dein Freund, das weisst du.» Er nimmt einen Schluck. «Und als dein Freund würde ich dir raten, für eine Weile unterzutauchen.»



«Soll ich etwa weglaufen?» Sie stellt ihr Glas heftig auf den Tisch. «Niemals!»



«Ach, Marguerite!» Er schüttelt den Kopf. «Hör mir bitte einmal zu!»



«Ich habe dich nicht als Freund engagiert, Jean-Pierre, sondern als Manager. Du musst dafür sorgen, dass das Produkt ‹Marguerite Duval› gut ankommt, nicht, dass Marguerite Duval verschwindet, verstehst du?»



Der Mann, der Jean-Pierre heisst, steckt sich einen dünnen Zigarillo an. «Die Marke ‹Marguerite Duval› läuft gut, mein Schatz, und das weisst du. Und warum? Weil du im Gespräch bleibst. Weil du Skandale, Intrigen und Machtmissbrauch aufdeckst. Aber jetzt hast du übertrieben. Jetzt bist du in Gefahr!»



«Das glaubst du doch selber nicht!» Sie steht auf, unsicher, steuert auf das Fenster zu, lehnt die Stirn gegen das kühle Glas. «Ich schreibe, ich schreibe gut, sehr gut sogar, schneidend – wie die Presse meint –, bösartig auch, das Wort ist meine Waffe. Vielleicht habe ich an der Macht gekratzt. Doch bis jetzt habe ich niemanden ernsthaft gefährdet.»



«Ich fürchte, dass es diesmal anders ist.» Jean-Pierre zieht den Rauch tief hinunter. «Du bist die erste Schriftstellerin in der Schweiz, die wegen ihrer Texte bedroht wird.»



«Sag der Presse», sie dreht sich langsam um, «sag, dass ich lesen werde.»



Jean-Pierre lächelt dünn. «Das habe ich befürchtet, Marguerite! Und darum habe ich mir etwas einfallen lassen, damit du dich erholen kannst, es wird dir gefallen. Ich habe Freunde, die …»



«Ich muss mich nicht erholen!», ruft Marguerite. Ihre Stimme klingt seltsam schrill.



Er dreht sich um, geht zur Tür.



«Wo willst du hin?»



Er macht eine wegwerfende Handbewegung. «Die Presse. Die Aasgeier wollen ihr Futter!»



«Jean-Pierre! Hast du mir etwas mitgebracht?» Sie streckt die Hand aus.



Er kommt zurück, zieht eine Tablettenpackung aus der Tasche des Jacketts und drückt ihr eine gelbe Kapsel in die Hand. «Das wird dich beruhigen, Kleines!» Gedankenverloren legt er die Packung auf den Tisch und geht hinaus.



Langsam schreitet Jean-Pierre Murat die breite Treppe hinunter. Er liebt dieses würdevolle Gehen auf den roten weichen Teppichen des «Palace». Marguerites Erfolg ermöglicht ihm dies alles.



Der Concierge macht ihm ein Zeichen. «Guten Abend, Monsieur Murat. Die Presse ist drüben im kleinen Salon. Ich habe Getränke aufstellen lassen, wie Sie es gewünscht haben.»



Jean-Pierre nickt ihm freundlich zu, während eine Note diskret den Besitzer wechselt.



«Übrigens, Madame Duval hat Hunger, könnte man ihr einen Salat aufs Zimmer bringen?»



Der Concierge nickt und macht sich eine Notiz.



«Dann wollen wir mal.» Murat stösst die Türe des kleinen Salons auf, bleibt kurz stehen und blickt sich um. Wunderbar. Dicht gedrängt sitzt die hechelnde Meute, bewaffnet mit Mikrofonen. Erwartungsvoll richten die versammelten Medienleute Blicke und Kameras auf den Manager der Schriftstellerin.



Jean-Pierre geht zwischen ihnen durch nach vorne und stellt sich ans Rednerpult.



«Meine Damen und Herren, herzlich willkommen hier im Palace Hotel!» Er schenkt sich ein Glas Mineralwasser ein. «Danke, dass Sie so zahlreich erschienen sind.»



«Eigentlich haben wir Madame Duval erwartet!», ruft ein blonder Lockenkopf von der Lokalzeitung.



«Marguerite Duval fühlt sich nicht gut, die ganze Aufregung der letzten Tage war zu viel für sie, das verstehen Sie sicher!» Sein freundliches Lächeln streift alle Anwesenden. «Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass Sie von mir alle nötigen Informationen bekommen werden.»



Ein leises Murmeln breitet sich aus.



Jean-Pierre hebt besänftigend die Arme. «Ich glaube, Sie sind nicht umsonst gekommen. Madame Duval hat sich entschieden.» Er macht eine kurze Pause und schaut sich um, die Spannung steigt. «Sie wird in Schaffhausen lesen!»



Blitzlichter, aufgeregtes Getuschel. Einige der Presseleute zücken ihre Handys und wählen aufgeregt die Nummern ihrer Redaktionsbüros. Jean-Pierre schaut dem Rummel teilnahmslos zu, trinkt einen Schluck. «Sie lässt sich nicht einschüchtern. Von niemandem!»



«Aber sie nimmt die Morddrohungen ernst, oder?», fragt der Redaktor des «Bündner Tagblatts».



«Wir nehmen die Drohungen sehr ernst, das ist richtig. Aber Madame Duval lässt sich nicht verbieten, wo und was sie lesen will.»



«Haben Sie eine Ahnung, wer Madame Duval bedroht?», will die Dame von der «Glücks-Fee» wissen und streicht sich einige blonde Strähnen aus dem Gesicht.



«Wir wissen genau so viel wie Sie, meine Dame, falls wir mehr wüssten, wäre die Polizei schon längst aktiv geworden.»



«Und was wird Madame in Schaffhausen lesen?», hakt die Dame von der «Glücks-Fee» nach und schaut Murat bittend an.



Jean-Pierre macht eine Pause, alle Blicke sind auf ihn gerichtet. «Sie wird ihr neues unveröffentlichtes Manuskript mit dem Titel ‹Ein unsichtbarer Schatten› vorstellen.»



«Können Sie uns etwas über den Inhalt sagen?», fragt ein Journalist der «Schaffhauser Nachrichten» interessiert.



«Eigentlich darf ich Ihnen noch nichts über den Text erzählen. Als Vorausinformation vielleicht nur so viel: Es geht um die unerhörten Machenschaften einer grösseren Firma im Raume Schaffhausen.»



«Der Name dieser Firma?», lässt der Journalist nicht locker.



Jean-Pierre hebt lächelnd die Hände. «Kein Kommentar!»



«Wie sieht es mit den Sicherheitsvorkehrungen für Mada me aus?» Die Videojournalistin von «Tele Top» fuchtelt furchterregend mit ihrem Mikrofon herum.



«Sie werden sicher verstehen, dass wir diese Massnahmen für uns behalten.»



Mit einem Knall öffnet sich die Tür des Salons. Alle Köpfe drehen sich in die gleiche Richtung. Im Türrahmen steht ein Zimmermädchen, kreideweiss, die Augen weit aufgerissen vor Schreck. «Monsieur! Ich wollte Madame den Salat bringen, aber … Die Zimmertür stand weit offen, Möbel waren umgeworfen, Schubladen herausgezerrt und der Inhalt war im Zimmer verstreut und … Madame Duval ist verschwunden!»



In einem dunklen Büro in Schaffhausen stehen zwei junge Männer am Fenster. Sie tragen grüne Overalls mit der Aufschrift «Multitel». Hinter einem massigen Schreibtisch aus dunklem Holz sitzt ein älterer Herr mit Glatze und Bauch. Das Brummen des Verkehrs dringt gedämpft von der Strasse herauf.



Das Telefon läutet. Einmal, zweimal. Dann hört es auf. Einer der Männer am Fenster schaut auf die Uhr. «Eine Minute.» Wieder klingelt das Telefon. Einmal, zweimal, dreimal.



Peter Hofer hinter dem Schreibtisch räuspert sich. «Sie wird also lesen.»



Die beiden jungen Männer schauen auf die Strasse hinunter.



«Dann wollen wir uns mal reinhängen, Jungs!»



Hofer öffnet ein Mäppchen und legt ein eng beschriebenes Blatt vor sich auf die lederne Schreibunterlage.



«Findet heraus, in welchem Hotel sie wohnen wird, welche Zimmernummer sie hat, einfach alles. Du, Manuel, wirst im Hotel arbeiten. Du, Steff, wirst ihr auf Schritt und Tritt folgen. Habt ihr noch Fragen?»



Als die beiden draussen sind, tupft sich Hofer den Schweiss von der Stirn.



Ein kalter Wind weht vom Berg hinunter. Sie fröstelt ohne Jacke. Langsam folgt sie der Passstrasse oberhalb von Silvaplana.



«Nur weg von den Lichtern», denkt sie, «nur weg.»



Um Viertel vor sechs hatte sie eine der Tabletten genommen, die ihr Jean-Pierre hingelegt hatte. Sofort fühlte sie sich schwer, in ihrem Kopf öffnete sich ein schwarzes Loch.



«Das wird dich beruhigen», hatte Jean-Pierre geflüstert.



Sie nahm noch wahr, wie er die Tür schloss, dann fiel sie rückwärts in die tiefe Leere. Doch diesmal dauerte es nur kurze Zeit. Viel zu schnell tauchte sie wieder auf, und da war diese Übelkeit. Sie würgte, irgendwie kam sie bis ins Badezimmer, dort erbrach sie sich. Keuchend blieb sie neben der stinkenden Kloschüssel liegen, unfähig sich zu rühren.



Dann hörte sie, wie der Zimmerschlüssel umgedreht wurde, sie wollte nach Jean-Pierre rufen, brachte aber nur ein Krächzen über die Lippen. Durch die halb geöffnete Türe sah sie zwei Paar Beine vorbeigehen, hörte das Knarren des Diwans, dann wurde die Tür der Minibar geöffnet. Vorsichtig richtete Marguerite sich auf.



«Mann, die ist aber gut gefüllt!»



«Lass das, Robert!»



«Für einen Drink aus der Bar wird die Zeit doch reichen, denke ich.»

 



«Vielleicht sollten wir erst nachschauen, ob sie wirklich schläft.»



«Die hat was genommen, die ist hinüber.»



Zwei Männerstimmen, die sie noch nie gehört hatte. Was suchten zwei Deutsche in ihrer Suite? Und woher hatten sie den Schlüssel?



Marguerite Duval war plötzlich hellwach. Die Morddrohung! Die beiden Männer waren hier, um sie zu töten!



Vorsichtig schob sie die Tür des Badezimmers auf, tastete sich durchs Entree zur Tür der Suite, nahm den Schlüssel, der innen steckte, mit und schloss von aussen ab. Sie hastete zum Lift am Ende des Flurs, dort überlegte sie es sich anders und öffnete die Tür zur Treppe, die wohl nur von den Angestellten benutzt wurde. Sie stieg hinunter, landete in der Küche, dann in einem langen, dunklen Gang. Immer wieder hörte sie Rufe, das Echo von Schritten hinter sich. Endlich fand sie eine Tür, die ins Freie führte, sie lief den Hang hinunter, bis sie ausser Atem die Strasse am See erreichte.



Dort blieb sie stehen und winkte den vorbeifahrenden Autos, bis endlich ein kleiner Fiat mit italienischen Nummernschildern anhielt.



Der Mann hatte ununterbrochen geplaudert, er erzählte, dass er als Schreiner arbeite und am Feierabend zurück nach Italien zu seiner Familie fahre. Marguerite schaute in die Nacht hinaus, unfähig, irgendetwas zu entscheiden.



Dann sah sie in Silvaplana das Strassenschild. Julierpass, Chur. «Hier können Sie mich rauslassen, herzlichen Dank fürs Mitnehmen.»



Sie ging auf die Häuser zu, durchquerte eilig das Dorf.



Und nun hastet sie durch das Dunkel den Pass hinauf, viel zu leicht gekleidet für diesen kühlen Abend im Engadin.



Später hört sie zwei Kurven unter sich quietschende Reifen. Ein Auto nähert sich mit hoher Geschwindigkeit. Marguerite Duval versteckt sich hinter einem Baum und wartet. Ein olivfarbener Landrover rast vorbei.




ZWEI



Der milde Abend legt sich über Schaffhausen, kaum jemand arbeitet noch. Langsam schlendert sie über den Fronwagplatz, nimmt hier ein Auge Schaufenster auf, streift dort flüchtig eine Gruppe Passanten. Dann taucht sie ab in eine enge Gasse, wendet sich nach links, dann wieder nach rechts.



Das «Adria» ist ziemlich voll. Sie schaut sich um, niemand da, den sie kennt, so setzt sie sich an die Bar, mustert kurz ihren Nachbarn rechts, bestellt dann bei Giancarlo einen Tee.



«Na, gut gearbeitet?»



Über den Rand des Glases fixiert sie den Mann mit den kurzen schwarzen Haaren neben sich. «Wie man’s nimmt.»



«Und? Wie nimmst du’s?» Er lächelt gewinnend, ohne eine Antwort zu erwarten.



«Ich bin Freddy, eigentlich heisse ich Alfred», er macht eine Pause und schaut in die Höhe, es sieht aus, als habe er lange geübt dafür, «aber ich bitte dich – Alfred!» Dann ein heiseres Lachen. «Und du?»



Bevor sie etwas sagen kann, haut er die flache Hand auf den Tresen. «Warte, lass mich raten!»



Sie wartet gespannt. «Wenn ich dich so anschaue … Sally oder Jasmine?»



Kopfschütteln.



«Deine Haare … Jessica oder Sarah?»



«Kalt!»



«Und dein Gesicht … Madonna? Laura? Tatjana? Steffi?»



«Eiskalt!»



Er bestellt sich einen weiteren Espresso, sie hebt ihr Teeglas. «Zum Wohl, Freddy!»



«Zum Wohl, Mona Lisa! Nun sag schon …»



«Margrittli!»



Er macht eine Grimasse. «Margrittli? Du willst mich auf den Arm nehmen …»



«Wie tönt Margrit?»



«Streng. Wie eine Blockflötenlehrerin!»



«Vielleicht Margarethe?»



«Eine Heilige!»



Sie schmunzelt. «Andere Möglichkeiten?»



«Mägi?»



«Ich bitte dich, da war ich siebzehn, zündete am Abend Räucherstäbchen an und machte Musik zusammen mit Mike, der eigentlich Michael hiess!»



«Aber Margrittli? Ich meine, das ist wie …»



«Sag schon, ich lebe schliesslich schon eine Weile mit diesem Namen!»



«Das ist wie … eine Blumenwiese, Landwirtschaft.»



«Meine Eltern sind …, das heisst waren Weinbauern. Sonst noch etwas, Alfred?»



In dem Moment wird die Tür des «Adria» aufgerissen und ein junger Mann mit zerzausten Haaren betritt das Lokal. Ganz kurz nur bleibt er stehen und schaut sich um. Dann winkt er Freddy aufgeregt zu.



«Du entschuldigst mich?» Ohne eine Antwort abzuwarten, hastet Freddy hinter dem jungen Mann aus dem Lokal.



«Ich entschuldige gar nichts, Freddy!», flüstert sie und lächelt.



Margrittli hat ihren Tee ausgetrunken, ohne dass Freddy zurückgekommen wäre. So winkt sie Giancarlo zu sich, bezahlt ihren Tee, bezahlt auch den Kaffee für Freddy, «das wird dich noch teuer zu stehen kommen!», zieht ihre Jeansjacke an und taucht in die Gasse ein.



Sie geht nach links, nach rechts und auch geradeaus. Hinter einer Hausecke bleibt sie stehen und blickt auf den Platz hinaus.



Da stehen sie. Freddy und sein Begleiter. Freddy zeigt auf ein Plakat, schüttelt den Kopf. Der junge Mann neben ihm tippt mit dem Finger darauf, immer wieder auf das gleiche Foto.



«Euch muss ich wohl auf die Sprünge helfen!» Sie zieht ein Haarband aus ihrer Tasche, ordnet mit wenigen Handgriffen ihre Frisur neu, wie dies nur Frauen können, kommt zwischen den Häusern hervor, eine Frau, die zufällig über einen Platz geht, auf dem Weg nach Hause, dann stehen bleibt, einen Bekannten sieht, diesem zuwinkt und ihre Schritte beschleunigt.



Freddy sieht sie kommen, stösst seinen Begleiter an, sagt: «Kein Wort, Felix, hörst du?» Er schaut Margrittli entgegen.



Sie geht auf die beiden zu, lächelt Freddy an. «Das nächste Mal lasse ich dich sitzen und du bezahlst!»



Freddy ringt nach Luft, japst eine Entschuldigung, da wendet sie sich bereits Felix zu. «Muss ja wahnsinnig wichtig sein, eure Verabredung, dass Freddy mich vergisst!»



«Vielleicht erzähle ich es dir bei Gelegenheit. Übrigens, ich bin Felix. Kannst du mir einen Gefallen tun?» Er schaut sie neugierig an.



«Muss ich auch dich einladen?»



Freddy schweigt.



Felix zeigt auf das Plakat. «Kannst du dich bitte hier hinstellen, ja, hier neben dieses Bild.»



«Wie komme ich dazu?» Sie schaut flüchtig auf das Plakat, Stadttheater, eine Dame in Blautönen, überschrieben mit: «Marguerite Duval liest in Schaffhausen».



«Bitte!» Felix zeigt mit dem Kinn auf Freddy. «Ich möchte ihm etwas beweisen. Es ist eine Art Wette!»



«Na gut!» Sie macht zwei Schritte auf das Plakat zu, «wenn ich dir helfen kann zu gewinnen …» Sie dreht sich um. «Na? Was ist?»



Felix stösst einen bewundernden Pfiff aus, Freddy lässt sich von Felix’ Begeisterung anstecken. Geht zwei Schritte zur Seite, hält den Kopf schief, lächelt dann zufrieden.



«Was habe ich dir gesagt? Diese Ähnlichkeit!» Felix boxt Freddy in die Seite. «Das Geschäft ist perfekt!»



«Darf ich fragen, ob ich mit den Geschäften der beiden Herren etwas zu tun habe?» Margrittli hat ihr Haarband wieder abgenommen und wartet, bis sich die Begeisterung etwas legt. «Und wenn ja, müsstet ihr mich nicht fragen, ob ich mitmachen will?»



«Hör zu!» Freddy kratzt sich hinter dem Ohr. «Wenn du dabei bist, schaut für uns alle eine hübsche Summe heraus.»



«Ich kenne euch nicht. Wie soll ich euch vertrauen? Und worum geht es überhaupt?»



«Margrittli, es ist ein Spiel!» Freddy schaut sie flehend an.



Sie dreht sich einmal um die eigene Achse. «Na gut! Aber es wird nicht billig.»



Margrittli, Freddy und Felix sitzen vor dem Restaurant Falken in breiten Korbsesseln.



«Es ist alles ganz einfach», erklärt Freddy und nimmt ein paar Bierteller in die Hand.



«Warum macht ihr es nicht selber, wenn es so einfach ist?» Sie schaut ihn spöttisch an.



«Es ist eine Frage der Gene.» Felix fischt sich eine Zigarette aus seinem Päckchen. «Wir zwei gehen nicht gut als Frauen durch.»



«Ihr braucht also eine Frau?» Sie zieht die Augenbrauen hoch,



Freddy grinst.



«Brauchen ist vielleicht das falsche Wort.» Felix nimmt langsam ein Streichholz aus der Schachtel. «Es ist so: Wir haben einen Freund, der in der Klemme steckt, dem würden wir gerne einen Gefallen tun.»



«Dann braucht euer Freund eine Frau?»



«Es geht eigentlich um die Freundin unseres Freundes.» Endlich brennt die Zigarette. Felix betrachtet nachdenklich die glühende Spitze. «Die Freundin unseres Freundes hat eine anstrengende Zeit hinter sich und eine noch anstrengendere Zeit vor sich. Sie würde sich zwischendurch gerne ausruhen, doch dazu ist sie zu prominent.»



«Und da haben wir uns gedacht, du könntest, weil du ihr doch so ähnlich siehst …» Freddy sieht Margrittli fragend an.



«Was soll ich können, lieber Freddy?»



«Die Frau ist echt im Stress. Sie muss von Medienauftritt zu Medienauftritt. Sie kommt kaum zur Ruhe. Und du siehst ihr zum Verwechseln ähnlich. Wir haben uns gedacht, du könntest sie vielleicht entlasten.»



«Als Doppelgängerin sozusagen?»



«Genau, das ist die richtige Bezeichnung.» Felix drückt die Zigarette aus.



«Und was schaut dabei für mich heraus?»



Freddy legt einen Briefumschlag auf den Tisch.



Margrittli steckt ihn ein. «Ihr werdet von mir hören.»



«Nein, wir werden uns melden, wenn es losgeht. Gib uns deine Handynummer.»



«Ich habe kein Handy», Margrittli lacht, «ich bin ein freier Mensch.»




DREI



Es ist Nacht. Langsam geht Margrittli den Hang hinauf. Rechts die dunklen Umrisse von liegenden Kühen. Dahinter der Waldrand. Sie schaut sich um und verschwindet zwischen den Bäumen. Der Weg ist schmal und in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Immer wieder bleibt sie stehen, um zu verschnaufen. Einmal hört sie den klagenden Ruf eines Käuzchens.



Felix und Freddy wollten, dass sie in Schaffhausen blieb. «Du musst immer erreichbar sein, klar?»



Sie hatte lachend den Kopf geschüttelt. «Nein, meine Herren, ich werde meinen Auftrag erfüllen, doch bis dahin brauche ich meine Ruhe.»



Und ihre Ruhe findet sie nur hier in ihrem Haus auf dem Randen. Bereits ihr Grossvater hatte das kleine Haus auf einem der kalkigen Hügelzüge hinter der Stadt erbaut. Als Kinder hatten sie manches Wochenende in den Wäldern verbracht oder mit den Eltern nach versteinerten Schnecken und anderen Fossilien gesucht.



Felix hatte sie streng angeschaut. «Deine Ortsabwesenheit braucht einen triftigen Grund.»



«Heute ist Vollmond, da muss ich raus aus der Stadt.»



Felix blätterte in seiner Agenda, dann erschien ein breites Grinsen auf seinem schlecht rasierten Gesicht. «15. September, Vollmond. Ausgang genehmigt!»



«Und wenn wir dich brauchen?», fragte Freddy.



«Hinterlasst eine Nachricht bei Giancarlo im ‹Adria›. Ich werde kommen.»



Sicher würde sie kommen, schon morgen will sie in die Stadt zurückkehren, sie will bereit sein.



Nach einer halben Stunde erreicht Margrittli die Lichtung. Sie bleibt stehen und horcht in die Dunkelheit. Es ist still, kein Laut zu hören. Irgendetwas stimmt hier nicht, es ist zu ruhig. Die Nachttiere fehlen, das Rascheln im Gebüsch und die äsenden Rehe am Rande der Lichtung. Statt die Wiese zu überqueren und das Haus aufzuschliessen, wie sie es gewöhnlich tut, bleibt sie im Schatten der Bäume und geht langsam um die Wiese herum, immer im Schatten der Bäume.



Dann riecht sie es. Zigaretten. Jemand muss hier vor Kurzem geraucht haben.



Sie könnte sich ganz leise davonstehlen, in der Dunkelheit verschwinden und unten im Tal bei Rita und Jonas übernachten. Beim Haus an der Kreuzstrasse liegt immer ein Schlüssel unter dem Kaktustopf für sie bereit, so dass sie zu jeder Tagesund Nachtzeit ein zweites Zuhause findet.



Doch dann siegt die Neugier. Zu gerne möchte sie erfahren, wer ihre nächtlichen Besucher sind. Vorsichtig zieht sie sich in den Wald zurück und umgeht die Lichtung in einem grossen Bogen. Wer den steilen Weg hier hinauf nicht kennt, muss die Fahrstrasse nehmen und lässt den Wagen beim Bodenacker auf der anderen Seite des Waldes stehen.



Bald hat sie den weissen Opel am Waldrand entdeckt. Auf dem Weg geht ein Mann hin und her.



«Wissen Sie nicht, dass hier Fahrverbot ist? Haben Sie eine Genehmigung?»



Er zuckt zusammen, dreht sich um und starrt Margrittli an, die aus dem Wald auf die Fahrstrasse getreten ist.



«Guten Abend. Ich wollte …, das heisst …, heute Mittag habe ich hier meinen Hund verloren und nun habe ich gedacht …, vielleicht …»



«Soll ich Ihnen beim Suchen helfen? Nicht dass der Hund noch wildert. Da bekommen Sie Probleme mit dem Wildhüter. Der ist nachts öfters hier anzutreffen.»

 



«Der Wildhüter?» Der Mann hüstelt verlegen. «Es ist eher ein kleiner Hund.»



«Wie heisst er denn?»



«Der Hund? Hmmm … Lucky, ja, Lucky heisst er.»



«Na, dann wollen wir ihn mal rufen.» Sie formt mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und verschwindet, «Lucky, Lucky!» brüllend, im Unterholz. Nach wenigen Metern bleibt sie stehen, bewegt sich dann lautlos seitwärts durch den Wald, bis sie die Fahrstrasse hinter dem Opel erreicht. Dort setzt sie sich unter ein Gebüsch und beobachtet den Mann beim Wagen.



Wenig später hört sie Schritte im Wald. «Was ist los? Wer schreit denn so?»



«Sie war hier!», zischt der Mann beim Opel.



«Und wo ist sie jetzt?» Der zweite Mann tritt aus dem Wald.



Der erste Mann lacht. «Sie sucht meinen Hund. Ich habe ihr gesagt, dass ich meinen Hund vermisse. Wenigstens wissen wir, dass sie hier ist.»



«Komm, wir fahren, bevor sie wieder auftaucht!»



Die Türen werden zugeschlagen, dann verschwindet der Opel ohne Licht in der Nacht.



Margrittli steht auf. Bisher hat sie sich hier auf dem Randen immer sicher gefühlt. Nie wurde sie im Haus belästigt oder gestört. Es scheint, als ob sich nun einiges ändern könnte. Wenigstens ist sie gewarnt.



Mit einem roten Alfa kommt sie bis Tiefencastel. Der Fahrer will sie noch ausführen, in eine Disco auf die Lenzerheide oder so. Doch mit der ihr eigenen eiskalten Art bringt sie ihn schnell zum Schweigen. «Hören Sie», zischt sie, «Sie mögen ein netter Kerl sein, der auch ganz passabel aussieht, doch Ihre Hand auf meinem Knie, die eigentlich ans Steuer gehört, fühlt sich an wie ein durchgekauter Waschlappen, der schon zu stinken begonnen hat.»



«Aber Schätzchen …»



«Sie fahren von A nach B. Ich muss auch von A nach B. Das ist das Gemeinsame zwischen uns zwei. Sonst aber …» Sie lächelt bösartig. «Wollen Sie es hören?»



Er zieht die Hand zurück, schüttelt den Kopf und schweigt.



Sie schläft in einer Telefonkabine beim Bahnhof. Frühmorgens wird sie von einem orange gekleideten Mann wachgeschüttelt. «Was machen Sie hier?»



«Was denken Sie?» Marguerite schaut ihn fragend an. «Na, kommen Sie, raten Sie! Das dürfte doch nicht so schwer sein, oder?»



Er schultert kopfschüttelnd seinen Besen. «Die Leute aus der Stadt …»



«… die müssen auch irgendwo schlafen, Mann! Rechnen Sie mal: In der Stadt wohnen viele tausend Menschen. Können Sie mir folgen? Na gut. Wenn die jetzt alle hier in Tiefencastel schlafen wollen, dann hat es doch nicht für alle Platz im Hotel. Richtig?»



«Richtig», murmelt er und zündet sich eine Brissago an.



«Und darum habe ich eben in der Telefonkabine übernachtet. So einfach ist das.»



Der erste Zug nach Chur fährt ein, Marguerite steigt ein, winkt aus dem Fenster dem Mann zu, er winkt paffend zurück. «Die Leute aus der Stadt …»



Knapp eine Stunde später sitzt Marguerite in einem Büro des Churer Bahnhofs einem älteren Beamten gegenüber.



«Sie fahren ohne gültigen Fahrausweis, weigern sich, mir Ihren Namen anzugeben, und behaupten obendrein, bedroht zu werden. Und das soll ich Ihnen glauben?»



«Kann ich einen Kaffee haben? Wenn Sie auch noch ein Croissant hätten – ich hatte keine Gelegenheit zu frühstücken.»



«Auf unsere Kosten vielleicht?» Der Bahnbeamte hämmert auf sein Pult. «Dies ist nicht der städtische Sozialdienst, dies ist die Rhätische Bahn.»



«Und ich habe gedacht, es sei die Heilsarmee.» Sie lächelt müde. «Wegen der Uniform, wissen Sie …»



Er starrt sie an und wartet. Wartet schweigend. Ihre Worte verlieren an Schärfe, ihr Gesicht wird immer grauer, ihre Bewegungen fahriger. Sie hat gedacht, dass sie es schaffen könnte, dass sie wegkommt irgendwie, irgendwohin. Doch ihr fehlt die Kraft. Sie braucht etwas, muss sich beruhigen, muss vergessen können. Der Mann vor ihr sieht aus wie ihr Vater, streng, aber keinesfalls böse.



Endlich bricht es aus ihr heraus. «Mein Name ist Marguerite Duval.»



Er schaut sie erstaunt an. «Marguerite Duval?» Dann öffnet er die Zeitung auf seinem Schreibtisch, vergleicht ihr Gesicht mit dem Foto, das vor ihm liegt. «Marguerite Duval wird trotz Morddrohungen lesen», steht in grossen roten Buchstaben neben einem grob gerasterten Bild.



«Ja, ich bin Marguerite Duval, die Schriftstellerin.