Equinox

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Nach einer kleinen Unendlichkeit merkte ich, dass ich noch immer starrte. Robert sortierte unbeeindruckt und vor allem unbekümmert seine Sachen.

Ich merkte, wie mir das Blut in die Wangen schoss und ich schon wieder hochrot wurde. Wie peinlich!

Robert merkte davon jedoch nichts, denn er drehte sein T-Shirt begutachtend hin und her und sagte: »Naja, es geht noch, oder? Man sieht nur auf dem zweiten Blick, dass ich die Nacht darin verbracht habe. Was denkst du? Tragbar oder nicht? Ich habe ja sowieso keine andere Wahl, als es noch einmal anzuziehen.«

Ehe er meine Verlegenheit sah, murmelte ich im Hinausgehen: »Nicht schlimm. Dein T-Shirt, meine ich … ich bin dann auch mal im Bad.«

»Na klar. Bis gleich«, rief er mir weiterhin unbekümmert hinterher.

Ich putzte mir schnell die Zähne und wusch mein Gesicht gleich mehrmals mit eiskaltem Wasser. Meine Haare kämmte ich eilig und band sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. So, das musste reichen. Beim Blick zum Glas der durch Roberts Duschen noch beschlagenen Duschkabine musste ich schmunzeln. Womit er wohl geduscht hatte? Auf der Ablage standen zwei bunte Fläschchen. Pink Grapefruit von mir und intensiv duftendes Vanilleduschgel von Kristin. Nicht wirklich männlich. Ob er eines benutzt hatte? Und wenn ja welches? Das war leicht herauszubekommen. Ich machte mich auf den Weg zurück in mein Zimmer.

Vor der Tür stehend zögerte ich. An meiner eigenen Tür. Wie grotesk. Aber was, wenn er immer noch nackt war? Ich klopfte lieber an.

»Herein!«, rief Robert gut gelaunt … und angezogen. Glück gehabt, und doch irgendwie schade!

»Du musst doch an deiner eigenen Zimmertür nicht anklopfen!«, neckte er mich.

»Naja …«, murmelte ich, küsste ihn sanft auf den Mund und – ah, Grapefruit. Gut! – sagte: »Komm, wir bereiten schon mal das Frühstück vor.«

»Gute Idee!«, meinte Robert, ich nahm seine Hand und zog ihn in die Küche.

»Tee oder Kaffee für Dich?«, fragte ich ihn.

»Nun ja, ….«, druckste Robert herum: »Das ist mir jetzt fast ein wenig peinlich … aber … hättest du eventuell etwas Milch?

»Milch?«, das meinte er nicht ernst, oder? Ist ja süß.

»Ja?«, kam es mehr fragend als antwortend zurück.

»Klar, Milch habe ich. Milch also für Dich. Einfach nur Milch? Oder mit Kakao? Und vor allem, warm oder kalt?«, ich gebe zu, ich schaffte es nicht, mir ein breites Grinsen zu verkneifen. So ein Bild von einem Mann … und er trinkt Milch zum Frühstück. Womöglich noch warme Milch?!

»Warm …?«, schaute er mich unsicher an. »Lachst Du mich aus?«

»Nur ein bisschen«, gab ich breit grinsend zurück. »Aber ich mache Dir gern eine warme Milch.«

»Vielen Dank! … Wo finde ich nochmal die Teller?«

Ich deutete auf den betreffenden Schrank. »Da oben.«

Während Robert Teller, Tassen und Besteck verteilte, kochte ich Kaffee, Tee und stellte eine große Tasse Milch in die Mikrowelle. Danach räumte ich Honig, Marmelade, Butter und Käse auf den Tisch. Kaum waren wir damit fertig, öffnete sich die Tür im Flur und ein für Kristin ziemlich schüchtern fragendes »Haaallo?« ertönte vorsichtig.

»Wir sind schon in der Küche und freuen uns auf dich und die Brötchen!«

Kristin rumpelte noch kurz im Flur herum und kam dann mit einer überdimensionalen Brötchentüte in die Küche. Ich wunderte mich, wer das wohl alles essen sollte.

»Ihr habt Euch ja noch nicht offiziell kennengelernt. Also, Kristin, das ist Robert. Robert – Kristin«, stellte ich die beiden vor.

»Hallo, schön dich kennenzulernen!«, sagte Robert und schüttelte Kristins ausgestreckte Hand.

»Ganz meinerseits«, antwortete sie und drehte sich kurz zu mir um, ein lautloses »WOW« mit ihrem Mund formend.

»Kaffee für die Dame, Milch für den Herrn und Tee für mich. Guten Appetit«, sagte ich und musste schmunzeln, denn Kristin platzte fast vor Neugier, nahm sich jedoch – noch – zurück und behielt ihren Fragensturm für sich.

»Milch???«, entfuhr es ihr dann trotzdem sichtlich belustigt.

Also doch. Typisch! Ich guckte Kristin strafend an.

»Nun ja, ich scheine die Damen ja mit der warmen Milch gut zu unterhalten«, wenigstens nahm es Robert mit Humor.

Kristin versuchte jetzt doch ihre Neugier zu stillen und probierte, zu mir gewandt, einen Schritt voranzukommen: »Cool, du hast Honig von daheim mitgebracht. Wie lange kennt ihr Euch schon?«

Ich rollte mit den Augen. Ihre Zurückhaltung hatte ja enorm lang gehalten! So gern ich Kristin hatte, aber sie konnte echt indiskret sein. Was machte sie eigentlich schon hier? Sie wollte schließlich erst am Sonntagabend kommen … fiel es mir wieder ein. Doch bevor ich meine Fragen stellen konnte, um einer Auskunft auszuweichen, antwortete Robert schon: »Seit einer Woche.«

Er schien völlig relaxt mit der beginnenden Fragestunde. Eigentlich sprach das nur für ihn, fand ich und freute mich über seine Reaktion.

»Ein Woche?«, sie verschluckte sich fast.

Robert schien es ebenso Spaß zu machen, Kristin sprachlos zu sehen, obwohl er sie kaum kannte und er setzte noch einen drauf: »Ja, vor einer Woche haben wir uns erstmals getroffen, dann leider aus den Augen verloren. Aber seit Freitag kann uns nichts mehr trennen, stimmt’s Elisabeth?«

»Mmmh«, antwortete ich nickend.

Kein Wunder, dass Kristin vergaß, weiter zu kauen und mich anschaute, als wäre ich nicht ich, das brave Mädchen, das ich bisher war. Ich war immer auf irgendeine Art sozial engagiert, liebte meine Welt der Bücher und pflegte meine Freundschaften, die überdies, wenn sie mit Männern waren, nie über herzliche, freundschaftliche Beziehungen hinausgingen. Ich hatte einfach noch nie einen festen Freund und war bislang an allen Herren uninteressiert vorbeigegangen. Es war halt auch nie ein Robert unter ihnen.

»Wir waren am Freitag in der Moritzbastei«, sagte ich zu Kristin, die mich noch immer wortlos fixierte. Als würde dieses nebensächliche Detail die tausend Fragen, die sich hinter ihrer Stirn zu bilden schienen, beantworten.

»Und gestern waren wir mit dem Motorrad am Elsterkanal«, erzählte Robert unbefangen weiter. Oje, merkte er nicht, dass das ganz augenscheinlich zu viele Neuigkeiten auf einmal für Kristin zu sein schienen? Mir wäre es lieber, wir könnten ihr unsere rasanten vergangenen Stunden eher häppchenweise servieren, damit sie sich zwischenzeitlich ein wenig erholen konnte.

Kristin schluckte schwer und starrte mich nun mit offenem Mund an.

»Du. Bist. Motorrad. Gefahren?«, brachte sie mühsam hervor.

»Ja. Es war toll!«, antwortete ich grinsend.

Zugegeben, das machte Spaß. Langsam fand ich auch Gefallen daran, Kristin so sprachlos zu sehen. Das erste Mal in unserer langen Freundschaft, dass ich sie so erlebte.

»Nochmal Kaffee?«, fragte ich sie betont freundlich und beschloss mitzuspielen.

»Nee«, gab sie knapp und tonlos zurück: »Danke. Ein Schnaps wäre mir jetzt lieber!«

»Oh …«, Robert und ich antworteten und lachten gemeinsam.

Kristin blickte uns abwechselnd an und schüttelte danach ihren Kopf.

»Ich begreife das nicht!«, sagte sie daraufhin fassungslos und schaute nochmal kopfschüttelnd erst mich, dann Robert und dann wieder mich an. »Aber ich freue mich für euch!«, stieß sie hervor.

»Vielen Dank!«, wir antworteten schon wieder gemeinsam. Unterm Tisch nahm Robert meine Hand und drückte sie sanft. Wir schauten uns lächelnd an und sofort verlor ich mich wieder in seinen uferlos schönen, intensiven grünen Augen, die mir unendliche Wärme und Zuneigung entgegenbrachten.

Kristin räusperte sich laut und blickte uns nun belustigt an.

»Wollen wir vielleicht abräumen?«, fragte sie und nahm sich, ohne eine Antwort abzuwarten, die Butter und Marmelade. Sie stand auf und sortierte alles in den Kühlschrank. Ich glaube, das war ihre Art, uns mitzuteilen, dass sie erst einmal genug zu verarbeiten hatte.

Robert machte einen Schmollmund und ließ ziemlich unwillig meine Hand los. Wir halfen dennoch, die Küche wieder in Ordnung zu bringen.

»Und was habt ihr zwei Turteltauben heute vor?«

»Oh, schlechtes Thema«, sagte Robert mit schmalen Lippen und verzog das Gesicht wie unter Schmerzen. »Ich muss in spätestens einer Stunde aufbrechen und meine Taschen packen. Ich fliege morgen früh für zwei Monate nach England, um ein Projekt zu betreuen.«

Kristin blickte mich voller Mitgefühl an und sagte leise: »Das tut mir leid. Das ist ja voll blöd, wo ihr doch gerade erst begonnen habt …«

»Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich mich auch nicht danach gedrängelt. Nach dem Projekt natürlich«, meinte Robert leise. Er legte seinen Arm um mich und zog mich eng an seine Seite. Ich kuschelte mich nur allzu gern an ihn. Die unbeschwerte morgendliche Stimmung war jedoch mit einem Schlag wieder verschwunden und die bevorstehende Trennung schwebte abermals wie ein Damoklesschwert über uns.

»Ich muss ’nen Aufsatz schreiben und brauche noch ein Grundsatzurteil dazu. Ich gehe dann mal in die Bibliothek …« Kristin war ein wahrer Schatz! Völlig selbstlos hatte sie sich einen Grund gesucht, um uns noch ein wenig privaten Raum zu schaffen. An mich gewandt, fügte sie, sich ihre Jacke und Schuhe anziehend, hinzu: »Ich bin gegen sechzehn Uhr wieder da. Ich habe am Nachmittag Zeit, wenn Du reden willst …«

»Danke«, erwiderte ich leise.

»Tschüss dann«, sagte sie.

»Gute Reise und bis bald!«, sie schüttelte Robert die Hand und blickte mich danach besorgt an.

»Sechzehn Uhr. Versprochen«, versicherte sie mir mit ernstem Gesicht noch einmal und schloss die Wohnungstür hinter sich.

»Eine Stunde. Was willst du tun?«, fragte mich Robert leise.

 

»Ich denke, erst einmal sollten wir unsere Telefonnummern, Emails und so etwas austauschen.« Praktisch veranlagt zu sein, hatte manchmal auch seine Vorteile.

»Stimmt!«, antwortete Robert. »Hast du eigentlich auch eine Skypeadresse? Wir könnten telefonieren und uns dabei sehen. Das wäre doch schön, nicht wahr?«

»Bis jetzt noch nicht, aber das ist ja sicher schnell eingerichtet.«

»Ich schreibe dir meinen Skypenamen auf, dann brauchst Du mich nur anwählen und landest direkt bei mir.« Er reichte mir ein Blatt Papier mit seinen Kontaktdaten. Seine Handschrift war bildschön. Wie ein exquisiter Schriftstil, den man garantiert nicht bei Word fand. Regelmäßig, charaktervoll, elegant. Beeindruckend, vor allem für einen Mann!

»Okay. Lass mal sehen. Oh, Equinox. Wie ungewöhnlich! Was bedeutet das denn?«

»Na, ich bin doch am dreiundzwanzigsten September um null Uhr geboren oder am zweiundzwanzigsten September um vierundzwanzig Uhr, ganz wie du möchtest. Auf meiner Geburtsurkunde steht der dreiundzwanzigste September. Jedenfalls ist das die Tag- und Nachtgleiche. Und die heißt Equinox. Das fand ich besser, als meinen eigenen Namen. Roberts gibt es ja noch etliche weitere überall auf der Welt.«

Ich hörte ihm gar nicht richtig zu und stand mit dem Zettel in der Hand unschlüssig da.

»Komm noch ein wenig zu mir«, sagte Robert mit einladend warmer Stimme und streckte mir seine Hand aus.

Ich gab ihm meine bereitwillig, und ehe ich mich versah, hatte er mich mit Schwung an sich gezogen und strich mir übers Haar. Er hob mein Gesicht zu seinem und begann mich zugleich fordernd, leidenschaftlich und verzweifelt zu küssen. Ich schob alle Zweifel darüber, wohin dieser Kuss führen würde, weit von mir fort und entgegnete ihm mit der gleichen Leidenschaft. Unsere Zungen tanzten im selben Rhythmus und unsere Hände glitten gegenseitig so gar nicht mehr scheu über unsere Körper. Ich vergaß die Welt um mich herum und tauchte vollkommen ein in meine Achterbahn fahrenden Gefühle. Wir lagen eng umschlungen auf meinem Bett. Ich konnte beim besten Willen nicht mehr sagen, wann und wie wir dort gelandet waren.

Irgendwann hielt mich Robert mit seinen starken Armen zurück und sagte schwer atmend: »Das reicht, Eli, ich möchte dich nicht zu etwas drängen, wozu du augenscheinlich noch nicht bereit bist.«

Irritiert blinzelte ich ihn an, wie aus einem Traum erwachend. »Das musst du doch auch nicht!« Ich wäre in diesem Moment jeden Weg mit ihm gegangen, … auch wenn mein Unterbewusstsein Bedenken anmeldete. Woher wusste er außerdem, dass ich in Sachen Liebe noch absolut unerfahren war? Seine Intuition war einfach bemerkenswert. Oder stellte ich mich so offensichtlich ahnungslos an …?

»Unterschätze mich nicht«, sagte er mit dunkler, rauchiger Stimme. »Du bist eine so wunderschöne, verführerische Frau. Da fällt es mir nicht leicht, mich daran zu erinnern, dass wir uns erst eine Woche kennen und ich dir versprochen habe, die Sache langsam anzugehen.«

So sehr ich seine Worte auch schätzte, so sehr bedauerte ich sie auch. Und seine Worte hatten noch eine ganz andere Wirkung auf mich, als die implizierte. Tief in meinem Bauch krampfte sich etwas in demselben bittersüßen Schmerz zusammen, den ich heute schon einmal mit ihm gespürt hatte. Dieses Gefühl klang wie ein Versprechen auf etwas, dessen Ausgang ich noch nicht kannte und nur atemlos erahnen konnte.

»Eli, ich muss nun …«

Oh nein, unsere Zeit war um.

»Oh …«, mehr konnte ich nicht sagen.

Robert setzte sich auf und zog mich auf seinen Schoß, so dass wir uns gegenseitig in die Augen schauen konnten. Ohne den Blick von mir abzuwenden, sagte er ernst: »Ich weiß, dass das alles viel zu früh ist. Aber alle Konventionen sind mir jetzt egal!«

Ich sah ihn überrascht an und ein Schauer lief mit über den Rücken. Wovon sprach er?

»Eli, ich liebe dich! Das musst du einfach wissen! Ich wusste schon bei unserem ersten Treffen, dass du für mich bestimmt bist! Ich fühle mich, als hätte ich mein Leben lang auf dich warten müssen und nun habe ich dich endlich gefunden.«

Er blickte mich glühenden, intensiv grünen Augen an und ich ertrank völlig in seinem Blick und seinen Worten, unfähig, zu antworten. Dabei lief mir mein Herz über und es gab so viel, was ich ihm gern hätte sagen wollen. Ja, ich liebe dich auch! Lass mich nicht allein! Aber meine Lippen konnten keine Worte formen.

»Ich will dich nicht allein lassen. Es tut mir so leid! Bitte vergiss mich nicht und warte auf mich! Und komme mich wirklich besuchen!!! BITTE!« Er sah mich flehend an.

Ich nickte stumm. Ergriffen. Unfähig zu antworten. In meinem Hals saß plötzlich ein riesiger Kloß. Langsam nahm ich sein Gesicht zwischen meine Hände und küsste ihn vorsichtig. Der Kloß wurde immer größer und meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich war völlig zerrissen. Einerseits war ich über alle Maßen glücklich. Denn hatte mir Robert nicht gerade seine Liebe erklärt? Andererseits war mir, als wäre alle Freude aus der Welt gegangen, denn der Zeitpunkt unserer Trennung war nun da und wir würden uns wochenlang nicht sehen. Tränen sammelten sich in meinen Augen und liefen mir schließlich die Wangen hinunter.

»Weinst du?«, fragte Robert hilflos. »Oh, Elisabeth! Nein! Bitte weine nicht! Es sind nur ein paar Wochen! Bitte!«

»Ich weiß …«, schluchzte ich. »Aber … und …«, ich schaffte es nicht, meine Gedanken in Worte zu fassen und ihm zu antworten.

»Elisabeth …!«, Robert stöhnte gequält und bedeckte mein Gesicht mit tausend Küssen, küsste meine Tränen weg. Ein auswegloses Unterfangen, denn kaum hatte er sie weggeküsst, rannen schon die nächsten.

»Ich muss jetzt wirklich!«, sagte er leise, trostlos.

Ich nickte und rückte langsam von ihm herunter.

Er nahm meine Hand und zog mich zur Tür. Ein letzter Kuss und er ging die Treppe hinab.

Ich stand so lange, bis seine Schritte treppab verhallten und die Haustür sich quietschend hinter ihm schloss. Als ich langsam zurück in die Wohnung ging, hörte ich noch, wie er unten sein Motorrad startete. Oh nein! Ich sank auf mein Bett, das noch warm von uns beiden war, und zog mir die Decke über den Kopf. Meine Tränen kannten nun kein Halten mehr.

Ich weiß nicht, wie lange ich mich in meinem Bett vergrub. Irgendwann war Kristin da. Sie saß neben mir, zog die Decke vorsichtig von mir herunter und streichelte mir wortlos über den Kopf.

»Ich weiß«, sagte sie nach einer Weile. »Weine nur. Das hilft.«

Mein Schluchzen wurde wieder intensiver. Wie sollte ich die kommenden Wochen nur überstehen?

Kristin strich mir weiterhin über Kopf und Rücken. Irgendwann ebbte mein Schluchzen ab und sie fragte vorsichtig: »Tee?«

Ich schaute sie an und nickte dankbar.

»Mit Milch oder lieber mit Schuss?«

»Milch. Vorerst«, quakte ich.

»Na dann, bis gleich in der Küche.« Sie sprang auf und klapperte kurz darauf mit Tassen und Wasserkocher.

Ich erhob mich langsam und versuchte erst einmal, mein verquollenes Froschgesicht im Bad wieder einigermaßen herzurichten. Den Blick in den Spiegel vermied ich tunlichst.

10

Als ich in die Küche kam, hatte Kristin eine große Kanne Kräutertee gekocht und Kekse hervorgezaubert. Sie saß am Tisch und goss den heißen, dampfenden Tee in zwei große Tassen und lächelte mich an. Ich musste unvermittelt zurücklächeln. War es sonst nicht genau anders herum? Unzählige Male hatten wir schon bei Tee und Keksen zusammengesessen und ich hörte Kristin zu, während sie mir von ihrem Liebeskummer erzählte. Kristin war ein hübsches Mädchen. Kein Model, aber sie hatte etwas, worauf die Männer flogen. Sie war kurvig, weiblich und hatte ein unglaublich sonniges Gemüt. Es fiel nicht schwer, ihr mit Sympathie zu begegnen. Selbst ich fühlte mich bei ihrem Anblick, so wie sie mich gerade aus ihren großen braunen Augen lustig anblitzte, gleich ein wenig besser und war froh, dass sie schon hier war und nicht erst heute Abend kam.

»Unglaublich aber wahr, heute sitze doch tatsächlich ich einmal hier und darf dich trösten. Dass ich das noch erlebe!«, neckte sie mich und spiegelte wieder, was ich selbst dachte.

Ich grinste sie an. »Schön, dass du da bist!«, antwortete ich. »Wie kommt es eigentlich …?«

»Ach, weißt du, Tilly hat ’nen echt nervigen Freund zurzeit. Da ist mir doch spontan eingefallen, dass da dieser Aufsatz noch war … der soll zwar erst nächste Woche fertig werden, aber das mussten die beiden ja nicht wissen.« Sie grinste frech und zwinkerte mir zu.

»Bin ich froh, dass Tillys Freund dir auf die Nerven ging! Hattest du sonst eine schöne Woche?«, fragte ich schon etwas besserer Stimmung.

»Ja, es war recht lustig. Wir waren fast jeden Abend in den Clubs unterwegs. Einmal gingen wir nur ins Kino, sozusagen zur Erholung. Aber nun erzähl du doch erst mal. Da lässt man dich kurz allein in der neuen Stadt und schon liegst du mit ’nem fremden Mann im Bett. Vor allem – DU! Wow! Unfassbar! Also. Wer ist er? Was macht er? Ich will alles wissen!«

»Das habe ich befürchtet!«, seufzte ich gespielt genervt und gleichzeitig ein wenig stolz. Wie lächerlich, als wäre Robert eine Trophäe …

»Was hast du befürchtet?«, fragte Kristin leicht irritiert nach.

»Na, dass du so unverschämt nachfragst und alles wissen willst.«, nun musste ich sogar lachen. Kristins unverblümte, liebevolle Art tat mir gut.

»Logo. Denkst du, ich gebe mich mit dem einmaligen Anblick von dir und einem echten Mann in deinem Bett heute Morgen zufrieden? Jetzt will ich die Hintergründe wissen. Im Detail. Also, trink was, iss ein Plätzchen und schieß eeendlich los!« Sie rollte vor Ungeduld mit den Augen und hockte sich vor Übermut zappelnd im Schneidersitz auf den Stuhl mir gegenüber.

»Naja, Robert habe ich schon letzte Woche Freitag kennengelernt. Meine Eltern waren gerade weggefahren. Ich habe das schöne Wetter noch nutzen wollen und bin mit einem Buch dort hinten an dem kleinen Springbrunnen gewesen. Dort sprach er mich dann an …«

Ich gab Kristin einen Kurzüberblick der Ereignisse der vergangenen Woche, ließ auch nicht aus, wie durcheinander ich war, als ich Robert zum ersten Mal getroffen hatte und wie miserabel es mir ging, als wir uns zum zweiten Mal im Tim’s Coffeehouse über den Weg gelaufen waren und wieder aus den Augen verloren hatten. Ich erzählte ihr auch, wie der Rest der Woche für mich wie im Trance verging und ich in Gedanken nur bei ihm war. Ich berichtete ihr von Theresa und Jason, und Kristin freute sich, dass ich so schnell netten Anschluss gefunden hatte.

»Am Freitagnachmittag war ich in einem Kindergarten. Die haben Vorlesepaten gesucht. Ab Dienstag werde ich einmal wöchentlich dort vorlesen.«

»Das ist doch genau das Richtige für dich!«, freute sich Kristin für mich.

»Danach traf ich mich mit Theresa und Jason. Die Zwei wollten mich zu einer Studie zum Spracherwerb mitnehmen. Hätte ich gewusst, dass wir zum Max-Planck-Institut gehen, wäre ich vermutlich nicht mitgegangen!«

»Das kann ich mir gut vorstellen«, meinte Kristin mitfühlend.

»Aber jetzt bin ich natürlich froh, dass ich dort war!«, sagte ich und lächelte verträumt.

Ich berichtete von der Studie und Roberts plötzlichem Auftauchen dort. Als ich Kristin erzählte, wie begeistert Robert war, mich wiederzusehen, klatschte sie verzückt mehrmals kurz in die Hände und hauchte: »Oh, wie romantisch! Eli! Wie schön!«

Ich erzählte auch vom Konzert in der Moritzbastei, ließ aber das eigentümliche Ticken aus, das dort zum ersten Mal auftauchte und uns seitdem zu verfolgen schien. Wie hätte ich das auch erklären sollen?

»Am Samstag hat mich Robert ganz früh abgeholt und zum Picknick am Elsterkanal entführt. Es war wunderschön dort …«, in Gedanken träumte ich mich wieder in die verzauberte Landschaft und spürte Roberts Nähe fast körperlich. Mit einem wohligen Schaudern wandte ich mich wieder Kristin zu, die mich belustigt ansah.

»Oh, Süße, dich hat es wirklich ganz schön erwischt, nicht wahr?«

Ich errötete sofort und nickte glücklich.

»Die Zeit ohne ihn wird vergehen! Glaube mir! Und wir leben ja nicht mehr im Mittelalter. Ihr habt alle Möglichkeiten, um täglich miteinander in Kontakt zu sein. Wirst du ihn in England besuchen?«

»Ja, auf jeden Fall«, antwortete ich leise, aber entschlossen.

»Themawechsel, wie sieht dein morgiger Tag aus und wann fängst du morgen an?«

 

»Ich fange schon acht Uhr mit einer Vorlesung an. Danach habe ich gleich im Anschluss ein Seminar, dann Mittagspause und um vierzehn Uhr noch ein Seminar. Zwischendrin will ich in die Bibliothek gehen.«

»Wow, du willst es aber gleich wissen. Ohne Erstsemesterschonfrist gleich ein volles Programm. Wo wirst du Mittag essen, in der Mensa?«

»Ja, ich denke schon. Wahrscheinlich auch mit Jason und Theresa. Und du? Hast Du vielleicht Lust, Dich uns anzuschließen?«

»Mal sehen, vielleicht schaffe ich es ja und komme auch vorbei.«

»Das wäre prima! Wollen wir jetzt noch etwas kochen? Es ist zwar schon spät …«

Kristin schaute auf die Uhr. Es war schon einundzwanzig Uhr dreißig. Wir hatten Stunden über Stunden verquatscht. Und es hatte gut getan. Der Kloß in meinem Hals war vorübergehend auf eine tolerierbare Größe geschrumpft. Was Robert wohl gerade tun würde?

Kristin wühlte im Kühlschrank und tauchte mit einem Eisbergsalat in der einen Hand und einem Paket gegrillter Hähnchenbrustscheiben in der anderen wieder auf.

»Salat mit Hühnchen und Butterbrötchen? Das dauert nicht so lang …«, schlug sie vor.

»Gut, klingt vernünftig und lecker. Außerdem haben wir dann eine kleine Chance, im Verlauf der nächsten Tage Herr unserer Brötchen-Vorräte zu werden«, erwiderte ich und holte Brettchen und Messer heraus.

»Naja, ich war mir ein wenig unsicher, wie viele wir brauchen würden. Deshalb habe ich lieber ein paar mehr als zu wenig gekauft«, meinte Kristin schulterzuckend.

»Wir können ja morgen Abend Arme Ritter machen«, schlug ich vor.

»Super. Ich werde auf jedem Fall zum Abendbrot zu Hause sein!«, rief Kristin begeistert und hüpfte vor Freude auf und ab wie ein kleines Kind.

Ich schmunzelte über ihr Vergnügen. Es war schön, nun mit ihr zusammenzuwohnen und ich war ihr dankbar, dass sie heute für mich da war. Ich freute mich auf die kommende Zeit mit ihr und beschloss, für heute Abend den Trennungsschmerz von Robert, so gut es ging, zu verdrängen und den unbeschwerten, mädchenhaften Moment mit Kristin zu genießen.

Wir machten es uns in ihrem Zimmer gemütlich, jede mit einem Teller Salat auf dem Schoß und schauten Fotos von Kristins Woche in Halle auf ihrem Laptop an.

Mein Plan, nicht an den Kloß voll Traurigkeit in mir zu denken, ging nicht auf. Als ich Kristin auf einem der Bilder in enger Umarmung mit einem Unbekannten sah, hatte ich sofort wieder Robert vor Augen und die Sehnsucht war zurück. Ich hatte nicht einmal die Kraft, zu fragen, in wessen Arme sie sich da schmiegte. Wenn es etwas zu erzählen gäbe, hätte sie es bestimmt auch schon getan oder würde mir noch davon berichten. Kristin behielt ihre amourösen Abenteuer nie für sich und teilte sie immer freimütig mit mir.

»Ähm … Kristin, ich glaube, ich gehe jetzt schlafen«, sagte ich nach einer Weile zu ihr. Ich wollte nur noch allein sein.

»Eli, es ist erst zweiundzwanzig Uhr!«, entgegnete sie und zog die Stirn in Falten.

»Ja, aber … trotzdem …«, erwiderte ich, unschlüssig, wie ich ihr erklären sollte, dass ich meinen Gedanken nachhängen wollte.

Plötzlich grinste sie neckend und sagte: »Na, wer weiß, was ihr letzte Nacht so getrieben habt. Vielleicht hast du ja auch zu wenig Schlaf abbekommen?«

Ich war entrüstet!

»Kristin! Wie kannst Du nur …!«, rief ich empört. So schnell war ich ganz sicher nicht! … Obwohl ich mir eingestehen musste, dass es durchaus Momente in der letzten Nacht und heute Morgen gab, in denen ich zu wirklich allem bereit gewesen wäre.

»Ist ja gut! Ich habe es verstanden! Ihr folgt der Etikette«, sie lachte laut über meinen verärgerten Gesichtsausdruck.

»Schlaf gut! Träum von deinem Robert!«, rief sie mir nach, als ich die Küche verließ.

»Ja, schlaf auch gut«, murmelte ich im Hinausgehen. Ich spürte wie dieses hilflose, traurige Gefühl, von Robert getrennt zu sein, immer mehr Besitz von mir nahm. Wie sollte ich die vielen Tage und Wochen ohne ihn nur überstehen, wenn mir der Anfang schon so unendlich schwer fiel? Ich war mutlos.

Ich angelte mir missmutig ein frisches T-Shirt und meine karierte Pyjamahose und ging Duschen.

Als ich zurückkam, merkte ich, dass mein Handy brummte. Ich wunderte mich zwar, wer um diese Zeit anrief, aber ohne auf darauf zu schauen, wer es war, nahm ich ab.

»Hallo?«

»Elisabeth? Bist du es?« Roberts tiefe, warme Stimme warf mich buchstäblich um. Ich stolperte vor Überraschung rücklings auf mein Bett.

»Hallo«, hauchte ich. Erstaunt, dass er es war. Glücklich, dass er es war.

»Ich wollte dich unbedingt noch einmal hören, ehe ich nachher zum Flughafen fahre. Wie geht es Dir?« Robert sprach leise. Ich spürte auch in seiner Stimme eine deutlich wahrnehmbare Spur von Traurigkeit.

»Schön, dass du anrufst«, das Sprechen fiel mir schwer. Jedes Wort ein Kampf gegen die Tränen. Mit all meinem Mut gestand ich ihm, wie es mir wirklich ging »… Ich vermisse dich!«

Er antwortete nicht. Ich hörte ihn nur einmal scharf ein- und ausatmen.

»Robert …?«, fragte ich unsicher nach.

»Ich vermisse dich auch! Oh, Eli! Ich melde mich, sobald ich angekommen bin. … Vergiss mich nicht! … ich … liebe … dich!«

Roberts Stimme wurde immer leiser und stockender. Die letzten Worte stieß er nur unter großer Anstrengung hervor. Bloß noch ein gequältes Stöhnen. Kaum hörbar. Mir schossen augenblicklich die Tränen in die Augen. Meinen eigenen Schmerz vergessend, wollte ich nur noch seinen erleichtern. Was gäbe ich darum, ihn jetzt in meinen Armen zu halten und seine Pein mit federleichten Küssen hinweg zu küssen! Zu wissen, dass er genauso litt wie ich, war für mich noch viel schwerer zu ertragen, als mein eigenes Elend.

»Ich liebe dich auch!«, wisperte ich mit letzter Kraft.

»Bis bald!«, ächzte er kaum mehr erkennbar mit rauer, leiser Stimme.

»Versprochen!«, verabschiedete ich mich, nur noch mühevoll den letzten Rest meiner Fassung bewahrend.

Robert legte auf. Ich hörte dem tutenden Freizeichen noch lange zu. Das Telefon an mein Ohr gepresst, liefen mir die Tränen noch einmal hemmungslos die Wangen hinunter. Ich versuchte mein Schluchzen in meinem Kissen zu ersticken. Kristin sollte mich heute Abend nicht noch einmal weinen hören. Ich wollte allein sein. Nach einer Ewigkeit schlief ich ein, das Telefon noch immer am Ohr … als bliebe er bei mir, solange ich selbst nicht auflegte.