Equinox

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»Hast du einen Skypenamen von jemandem, mit dem du skypen möchtest?«, erwiderte Daniel.

»Ja, habe ich«, antwortete ich ihm.

»Na dann mal her damit. Lass uns mal schauen, ob dieser jemand online ist. Wenn nicht, kannst du ihm … ich vermute doch, es handelt sich um einen ihn, oder? … also, wenn nicht, kannst du ihm einen Anfrage schicken. Dann weiß er, dass du jetzt verfügbar ist.«

»Equinox«, sagte ich daraufhin.

»Equi … was?«, Daniel schaute mich mit fragend hochgezogener Augenbraue an.

»Equinox.«

»Das kannst du allein eintippen … bitteschön … Was soll das denn heißen?« Während ich tippte, schaute mir Daniel neugierig über die Schulter.

»Verrätst du mir nun mehr über diesen ›Equinox‹?«, drängelte er.

»Er heißt Robert und hat am dreiundzwanzigsten September Geburtstag. Das ist die Tag- und Nachtgleiche oder auch Equinox«, gab ich zögernd einen Teil meines Geheimnisses preis.

»Na, ich sehe schon, du willst mir nicht wirklich etwas verraten …«, stellte Daniel leicht enttäuscht fest.

»Es ist noch ganz frisch«, versuchte ich zu erklären.

»Ist schon gut. Hauptsache, dir geht’s gut mit ihm. Er ist doch in Ordnung, oder?«, nun guckte mich Daniel kritisch fragend an. »Wissen unsere Eltern eigentlich schon davon?«

»Ja, ist er!«, beeilte ich mich zu antworten. »Oh Mann, kleiner Bruder, du hörst dich an, als wärest du mein Vater! Und nein, um auch deine letzte Frage zu beantworten, Mutti und Vati wissen noch nichts. Ich muss ja schließlich nicht mit der Tür ins Haus fallen.«

»Das nicht. Aber ich muss auf dich aufpassen. Schließlich habe ich nur eine Schwester.«

Ich war gerührt.

»Ich habe dich auch lieb!«, antwortete ich meinem kleinen Bruder leise und umarmte ihn.

Er wand sich schnell aus meiner Umklammerung heraus und brummte etwas verlegen: »Mmmh, lass mal gut sein. Außerdem habe ich dir noch nicht meinen Segen gegeben!«

Ich grinste.

Plötzlich klingelte mein Laptop. Ich erschrak.

Daniel grinste mich an und sagte aufstehend: »Da kommt auch schon die Antwort auf deine Anfrage, Schwesterherz. Du hast einen Anruf. Ich gehe mal schauen, was so im TV läuft …«

Er schloss die Tür diskret hinter sich.

Mein Herz klopfte wie wild, als ich den Annahmebutton anklickte.

Sofort baute sich ein Fenster auf und Robert erschien. Mein Herz vergaß weiterzuschlagen. Gebannt starrte ich auf den Bildschirm.

»Hallo meine Schöne!«, Robert schaute mich vom Bildschirm warm lächelnd an, und mein Herzschlag setzte langsam wieder ein.

»Robert!«, stieß ich hervor, völlig erstaunt, ihn so unerwartet zu sehen.

»Du siehst aber überrascht aus!«, stellte er amüsiert fest.

»Ja, stimmt. Ich habe gerade gar nicht damit gerechnet, dass du so schnell antworten würdest.« Ich verhaspelte mich fast vor Aufregung. Was erzählte ich hier eigentlich? Wozu hatten wir schließlich Skype installiert? Elisabeth! Sammle dich! Atme durch!

»Hallo Robert!«, brachte ich schließlich doch hervor. Ich strahlte von einem Ohr zum anderen. Wer hätte gedacht, dass dieser Abend sich so unverhofft und wunderbar entwickeln würde.

»Wie war dein Tag?«, fragte mich Robert lächelnd. Selbst die nicht ganz kontrastreiche Bildübertragung ließ seine wunderschönen grünen Augen blitzen. Mir nahm es fast den Atem, so schön war er anzusehen.

›Konzentriere dich!‹, wiederholte ich mantraartig und bemühte mich, ihm zu antworten.

»Gut. Kristin und ich sind heute Mittag nach Hause gefahren und bleiben übers Wochenende.«

»Aha, ich habe mich schon gewundert, wo du bist, denn dein Zimmer in Leipzig hatte ich irgendwie anders in Erinnerung … ziemlich ungewöhnlich dekoriert, die Wand hinter dir, zumindest für eine junge Frau …« Robert schaute mich belustigt fragend an.

Ich drehte mich um, nicht wissend, worauf er sich bezog. Ach richtig, ich war ja in Daniels Zimmer. Dank Robert hatte ich die Welt um mich herum schon wieder völlig ausgeblendet.

»Ich bin im Zimmer meines Bruders. Er hat meinen Laptop skypetauglich ausgerüstet. Ich würde mir eher keine Motorcross- und Ringerposter an die Wand hängen!«, erklärte ich schmunzelnd.

»Da bin ich ja beruhigt«, sagte Robert spielerisch. »Das wäre nämlich enorm viel Arbeit, mir so ein breites Kreuz, wie bei dem Typ in den roten Hosen dort hinter dir zuzulegen, vor allem wenn dir das so gefallen würde, dass du sogar Poster von solchen Männern aufhängst.«

»Vermutlich«, antwortete ich, mich noch einmal umsehend und fuhr neckend fort: »Du hast Glück, ich ziehe dich so vor, wie du bist.«

»Hu! Wirklich Glück gehabt! Sag mal, hast du dir schon überlegt, wann du mich hier einmal besuchen kommen könntest?«, fragte er mich gespannt.

»Ja, habe ich. Ich denke, ich werde das Wochenende um den Reformationstag bzw. Allerheiligen nehmen. Der Reformationstag ist ein Feiertag und fällt in diesem Jahr auf einen Mittwoch. Viele meiner Dozenten kommen aus Bayern und Baden Württemberg, Die wollen wohl lieber an Allerheiligen daheim sein, und viele Veranstaltungen fallen dadurch aus. Es bleiben noch zwei Vorlesungen am Donnerstag und Freitag übrig, die ich einfach mal sausen lassen könnte. Das fällt sowieso nicht auf, weil es in diesen beiden Vorlesungen keine Anwesenheitspflicht gibt. Ich könnte also Mittwochnachmittag schon fliegen, käme aber erst ziemlich spät in London an und weiß noch nicht so recht, wie ich von dort aus weiter komme. Aber so hätten wir den ganzen Donnerstag schon für uns. Was hältst du davon?«

»Das klingt super!«, antwortete Robert enthusiastisch. »Und du brauchst dir keine Gedanken machen, wie du aus London wegkommst. Ich hole dich natürlich vom Flughafen ab. Wir werden zwar etwa vier Stunden nach Plymouth benötigen, aber können auf der Fahrt wenigstens auch schon zusammen sein.«

Robert schaute mich erwartungsvoll an.

Ich freute mich über seinen Vorschlag und nickte: »Ja, so machen wir es! … aber ist das nicht ein bisschen viel, also ich meine, acht Stunden Fahrt?«

»Ach, mach dir darüber keine Sorgen. Autofahren finde ich nicht anstrengend und außerdem fahre ich ja nicht acht Stunden am Stück. Ich habe ja auch eine Pause am Flughafen«, antwortete er unbekümmert.

»Wie läuft dein Versuchsaufbau?«, fragte ich Robert.

»Alles ist prima. Wir sind fertig und können ab Montag in die eigentliche Testphase starten. Das wird spannend, denn dieses Mal sind die Probanden Kinder im Alter von acht bis zehn Jahren.«

»Das läuft sicher ganz unkompliziert. Ihr habt eure Testreihe doch bestimmt spielerisch verpackt?«

Robert nickte zustimmend.

»Siehst du. Da werden die Kinder Feuer und Flamme sein. Was untersucht ihr eigentlich?«

»Wir wollen herausfinden, unter welchen Umständen Kinder fremde Grammatikstrukturen intuitiv verstehen und eigene Muster entwickeln. Wir haben dafür extra Englisch ausgesucht, weil hier durch die Sprachentwicklung im Laufe der Jahrhunderte einiges an Grammatik, zum Beispiel die Konjugation von Verben und Deklination von Personalpronomen, verloren gegangen oder vereinfacht worden ist. Wir konfrontieren die Kinder mit der Sprache aus Shakespeares Zeit und lassen sie mit einer Art computergesteuertem Memory Bedeutungszuordnungen zum heutigen Englisch vornehmen. Dafür haben unsere Computerspezialisten in Leipzig ein Spiel entwickelt, das imaginäre Szenen an einem Königshof nachstellt und dadurch versucht, die Kinder zu motivieren. Sie merken eigentlich gar nicht, dass sie es mit Grammatik zu tun haben. Die Kinder müssen dafür aber schon sicher lesen können und sollten außerdem bisher noch keine größeren Berührungspunkte mit dem Englisch des vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts gehabt haben. Deshalb die eingeschränkte Altersgruppe. Mal sehen, ob es funktioniert und wir einige interessante Ergebnisse erlangen können.«

»Wow, das klingt wirklich megainteressant!«

»Mmmh, aber nun mal mit der Arbeit beiseite. Was wirst du heute noch tun? Gehst du aus?«, fragte Robert etwas schmallippig. Was war ihm denn gerade Unangenehmes widerfahren? Ich versuchte kurz unser bisheriges Gespräch zu reflektieren, konnte aber kein Indiz für seine Stimmungsänderung entdecken.

»Nein, ich bleibe zu Hause und werde den Abend mit meiner Familie verbringen«, antwortete ich verwundert. Ich war eigentlich kein großer Partygänger, ganz im Gegenteil zu Kristin, die sich bestimmt nebenan gerade in Schale schmiss.

»Und morgen?«, Robert wirkte immer noch seltsam angespannt.

»Ich habe noch nichts Bestimmtes vor. Mal sehen, was sich so ergibt«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Warum benahm er sich plötzlich so eigentümlich?

»Wirst du niemanden treffen oder irgendwohin gehen?«, bohrte Robert nach.

War er etwa eifersüchtig?

»Nein, ich denke nicht. Ich weiß noch nicht. Ich habe jedenfalls nichts geplant … warum ist das so wichtig für dich?«, fragte ich ihn nun unverblümt.

»Es macht mich verrückt, so weit entfernt von dir zu sein und zu wissen, dass ich nichts tun könnte, wenn dir plötzlich ein attraktiver junger Mann über den Weg liefe, der Zeit für dich hätte und nicht gleich für zwei Monate verschwindet, nachdem er sich flüchtig vorgestellt hat …«, knurrte er leise.

Oh, Robert war eifersüchtig. Aber warum? Und vor allem, auf wen? Es war zwar völlig unsinnig, dass er so fühlte, aber seine Sorge gefiel mir trotzdem. Es zeigte mir doch deutlich, dass sein Herz tatsächlich mir gehörte. Ich jubelte innerlich einmal kurz beseelt, ehe ich ihm antwortete: »Bisher war ich auch recht immun gegen die Verlockungen der Männerwelt, vor allem hier zu Hause, wo die Auswahl an Neuzugängen im Allgemeinen gegen Null tendiert. Also mach dir mal keine Sorgen!«

 

»Hmpf!«

Das klang immer noch recht unbefriedigt. Irgendwie unterhaltsam!

»Wie bitte?«

»Nichts … vergiss mich nicht!«, bat er plötzlich innigst.

So ein Blödsinn! Als müsste er sich Sorgen machen, dass ich ihn vergessen könnte. Es wäre wahrscheinlich nachvollziehbarer, wenn ich Angst hätte, dass mein wunderschöner, liebenswerter, unglaublich attraktiver Robert zu viel Anklang bei den englischen Damen fände.

»Niemals!«, versicherte ich ihm.

»Gut!«, erwiderte er mit einem ziemlich schiefen Lächeln.

Mist! Unten riefen meine Eltern nach mir. Ich wollte ungern mit Robert beim Skypen entdeckt werden, ehe ich ihnen von ihm erzählt hatte.

»Ich muss jetzt leider aufhören«, teilte ich ihm ehrlich enttäuscht mit.

»Love you!«, erwiderte er einfach und schenkte mir ein schüchternes Lächeln. Dann küsste er seinen Zeige- und Mittelfinger und berührte damit seine Kamera. Ich liebte seine kleinen zärtlichen Gesten.

»Ich dich auch!«, sagte ich und klickte schweren Herzens auf den Auflegebutton.

Versonnen lächelnd fixierte ich noch eine Weile meinen Bildschirm, während das Rufen von unten ungeduldiger wurde. Seufzend fuhr ich den Laptop runter und ging zu meinen Eltern hinab, die mich zu einer Runde Scrabble baten. Nun gut, warum nicht. Daniel war mit einem Freund zum Training gegangen und würde sicher nicht vor zweiundzwanzig Uhr zurück sein.

Wir hatten einen schönen Abend zusammen, tranken eine Flasche Rotwein und ich erfuhr die letzten Neuigkeiten aus dem Bekannten- und Verwandtenkreis, als plötzlich das Telefon klingelte. Meine Mutter nahm ab und kam kurz darauf wieder an den Spieltisch zurück, während mein Vater und ich gemeinsam herumalberten.

»Florians Auto springt nicht an. Seine Eltern sind gerade im Urlaub und können nicht helfen. Nun kommen Daniel und Florian nicht aus Weimar weg. Einer von uns soll sie nun abholen kommen.«

»Das kann ich ja machen«, schlug ich vor, denn ich hatte im Gegensatz zu meinen Eltern nur ein Glas Wein getrunken und noch viel Wasser dazu. Ich war definitiv die einzige, die noch fahren konnte.

»Das wäre prima«, sagte mein Vater. »Nimm den Audi, dann bist du schnell wieder da.«

»Okay. Bis dann!«, rief ich und holte das Auto aus der Garage. Auf dem Weg nach Weimar hörte ich eine Edvard-Grieg-CD meines Vaters. Bei der Peer Gynt Suite drückte ich auf Endloswiederholung. Ich liebte dieses Stück über alles.

Nach zwanzig Minuten rollte ich über den knirschenden Kies auf dem Parkplatz von Daniels Ringerklub. Daniel und Florian, Daniels Trainingskamerad und Schulfreund, waren nirgends zu sehen. Anrufen brauchte ich die beiden auf ihren Handys auch nicht, um ihnen mitzuteilen, dass ich da wäre, denn eigenartigerweise hatten sie in ihrem Klubgebäude nie Empfang. Das gefiel mir alles nicht besonders, denn so war ich gezwungen, auszusteigen und in das Trainingsstudio hineinzugehen. Das würde wieder nicht ohne anzügliche Kommentare testosterongeladener, schwitzender Männer, die sich selbst unwiderstehlich fanden, ablaufen. Wie ich das hasste! Seufzend gab ich mir einen Ruck und stieg aus.

Die warme, feuchte Luft im Studio traf mich wie eine Wand. Ein Übermaß an verschiedenen Gerüchen schwappte gleich hinterher. Verschiedene Nuancen Aftershave waren da noch das harmloseste, denn diese waren gepaart mit dem Kunstledergeruch der Bodenmatten, abgestandener Luft, Schweiß und einigem mehr, das ich nicht näher bestimmen konnte und wollte. Mir wurde leicht übel.

Daniel und Florian waren nicht zu sehen. Na super! Jetzt musste ich auch noch entweder den Raum durchqueren, um sie zu suchen, oder einen der schwitzenden Kolosse ansprechen. Ich wünschte mir, dass ich diejenige gewesen wäre, die den meisten Wein getrunken hätte. Stattdessen drückte ich mich unentschlossen in der Tür herum und überlegte, wie ich dieser Situation am schnellsten wieder entkommen könnte. An einer Hantelbank entdeckte ich einen Freund von Daniel, der auch schon ein paar Mal bei uns zu Hause war. Wenn ich zu ihm wollte, musste ich einmal durch das gesamte Studio gehen. Ich atmete tief ein – ein kolossaler Fehler, denn sofort stieg die Übelkeit noch drängender in mir auf – und lief los, ohne nach links und rechts zu schauen. Der erste pfiff mir hinterher und lenkte so die Aufmerksamkeit der anderen auf mich. Oh nein, ich kam mir vor wie ein in die Enge gedrängtes, für alle Blicke entblößtes Tier. Noch fünf Schritte …

»Hallo Alex, weißt du, wo Daniel und Florian sind?«, sprach ich den Mann an der Hantelbank an. Alex war ein wirklich netter Kerl, aber beim besten Willen keine Schönheit. Er hatte ein etwas zu breites Gesicht und derbe Züge, die nur durch seine immer lachenden Augen gemildert wurden. Verschwitzt und hochrot, wie er gerade war, machte er einen eher furchterregenden statt vertrauenswürdigen Eindruck. Die Pfiffe und zweideutigen Kommentare um mich herum nahmen zu, als die anderen sahen, dass ich mit Alex sprach. Nun galten die derben Witze nicht mehr nur mir allein, sondern schlossen auch Alex ein.

»Hallo Elisabeth. Was machst du denn hier?«, Alex setzte seine Hanteln ab und schaute mich verwundert an.

»Ich suche Daniel und Florian«, wiederholte ich mit dünner Stimme. Ich wollte hier nur noch raus! Langsam keimte Wut in mir. Daniel konnte sich auf eine Menge Ärger gefasst machen, mich hier so hängen zu lassen! Das stand fest!

»Die sind noch duschen, denke ich. Ich gehe mal nachschauen«, er guckte mich aufmunternd an und lief los.

»Danke«, murmelte ich voller Unbehagen. Er konnte mich doch nicht allein hier in der Höhle des Löwen lassen! Mitkommen war aber auch keine Option. Ich konnte schließlich schlecht selbst in einer Dusche ausschließlich für Herren nachsehen …

Die Tür, in der Alex verschwunden war, hypnotisierend, versuchte ich meine Umgebung auszublenden und konzentrierte mich darauf, gleichmäßig und vor allem flach zu atmen, um mich nicht von dem Übelkeit verursachenden Geruch übermannen zu lassen.

Ich musste glücklicherweise nicht lange warten. Nur Sekunden, nachdem Alex im Umkleidebereich verschwunden war, kam er mit Daniel, Florian und einige Schritte dahinter mit einem unbekannten Blonden zurück.

»Hi, Elisabeth«, nickte Florian mir zu.

»Hallo Schwesterlein, klasse, dass du uns abholst! Wir waren noch schnell in der Sauna, damit wir während der Wartezeit nicht sinnlos auf dem Parkplatz herumstehen mussten«, erklärte mir mein sorgloser Bruder, als wäre dies das Naheliegendste der Welt. Ich funkelte ihn wütend an und deutete den beiden an, mir zu folgen. Ich wollte einfach nur raus. Der Blonde schaute mich die ganze Zeit interessiert mit leicht geneigtem Kopf an. Wie auf der Fleischbeschau, schoss es mir durch den Kopf. Ich bedachte auch ihn mit einem vor Ärger glühenden Blick und eilte Richtung Ausgang.

Vor dem Studio stellte ich fest, dass der Blonde uns immer noch folgte und auch Richtung Auto hinterher kam. Wütend und fragend schaute ich Daniel am Auto angekommen an, als Mr. Blondschopf an Daniel gewandt, aber mich fixierend, zu Sprechen begann: »Möchtest du mich gar nicht vorstellen?«

»Elisabeth, das ist mein neuer Trainer Stephen. Stephen, meine Schwester Elisabeth«, vermittelte mein Bruder unbeeindruckt.

»Elisabeth. Hoch erfreut!«, antwortete der gegelte Blondschopf anzüglich und drückte mir doch tatsächlich einen eklig feuchten Kuss auf den Handrücken. Ich atmete scharf ein. Wo gab es denn so etwas? Ich war entsetzt und kochte nun komplett vor Wut. Höfliche Entgegnungen verkniff ich mir und zog stattdessen ganz uncharmant meine Hand schnell zurück und wischte sie mir demonstrativ an meiner Hose ab. Widerlich!

Der Blonde grinste mich anzüglich mit Gewinnermiene an und ich funkelte empört zurück. Was bildete der sich eigentlich ein?

»Einen schönen Abend noch!«, sagte er dann und fügte an mich gewandt hinzu: »Es war mir eine Ehre. Ich hoffe, du kommst jetzt häufiger hier vorbei. Schöne Mädchen, die uns beim Training bewundern, können wir immer gut gebrauchen.«

Meine Brechgrenze war fast erreicht. Konnte es noch schlimmer werden? Ich wies die Jungs an, einzusteigen und schlug selbst grußlos die Fahrertür hinter mir zu.

»Alles okay, Eli?«, fragte mein fröhlicher Bruder.

»Nein! Nichts ist okay! Und wer war überhaupt dieser Kotzbrocken?«, polterte ich ungehalten heraus.

»Kotzbrocken?«, fragten Daniel und Florian gemeinsam erstaunt.

»Meinst du Stephen? Der ist doch ganz cool«, stellte Florian fest.

»Stimmt. Finde ich auch. Wir können ganz froh sein, dass er sich bereit erklärt hat, von Erfurt zurück hierher zu wechseln, um die Nachfolge von Werner, der ja jetzt im Ruhestand ist, anzutreten. So bleibt die Trainingsqualität auf dem gleichen hohen Niveau wie zuvor.«, bestätigte Daniel.

»Ich weiß gar nicht, was du hast«, meinte Daniel noch schulterzuckend.

»Frauen!«, erdreistete sich Florian auch noch kennerhaft. »Ich habe drei Schwestern zu Hause. Ich weiß, wovon ich spreche!«

»Mmmh, sonst ist Eli eigentlich immer ganz easy drauf«, sagte Daniel leise entschuldigend zu Florian.

Konnte es noch absurder werden?

Ich verkniff mir einen weiteren Kommentar, denn ich wusste, dass die beiden Jungs sowieso nicht verstehen würden, warum ich so aufgebracht war.

Für den Rest der Fahrt schwiegen wir alle. Peer Gynt hatte ich gegen meine eigene Best-of-CD von Metallica getauscht, die ich in meinem Rucksack mit dabei hatte, den ich mir vor der Abfahrt schnell geschnappt hatte, um nicht ohne Papiere loszufahren. Ich brauchte jetzt etwas Deftigeres.

Daniel und Florian ließen den überlauten Sturm von Schlagzeug und E-Gitarren klaglos über sich ergehen. Vielleicht hatten sie ja doch ein schlechtes Gewissen?

Wir setzten Florian ab und fuhren die wenigen verbleibenden Minuten zu unserem Haus, als Daniel mich vorsichtig antippte und fragte: »Noch sauer?«

»Ja!«

»Tut mir leid … wofür auch immer. Okay?«, tastete er sich vorsichtig vorwärts.

»Mmmh, mal sehen«, murmelte ich und wusste genau, dass er es damit längst geschafft hatte, dass mein Zorn verrauchte. Warum konnte ich meinem Bruder eigentlich nie lange böse sein? Wahrscheinlich, weil er für mich immer mein knuffig kleiner Bruder bleiben würde. Und seine ewige Frohnatur trug ihr Übriges dazu bei.

13

Es war vierzehn Uhr am Mittwoch, Reformationstag, als mich Kristin zum Flughafen fuhr. Ich würde erst nach Frankfurt und von dort weiter nach London fliegen. Zu Robert! Die ersten fast vier Wochen ohne ihn waren vorbei. Halbzeit! Und wir würden uns endlich wiedersehen. Ich zappelte ungeduldig auf dem Beifahrersitz herum und musste mir die eine oder andere amüsiert-spitze Bemerkung von Kristin gefallen lassen. Egal, vor Vorfreude konnte ich wirklich nicht mehr still sitzen!

Meine Flüge waren beide pünktlich. Es fiel mir schwer, konzentriert zu lesen oder der Musik auf meinem MP3-Player zu lauschen. Ständig schaute ich auf die Uhr, nur um zu sehen, dass seit dem letzten Mal Nachschauen erst wieder nur weitere fünf Minuten vergangen waren. Warum kroch die Zeit ohne Robert immer so unendlich langsam und beschleunigte dann um ein Vielfaches, sobald wir zusammen waren?

Endlich setzte das Flugzeug zum Landeanflug in London Heathrow an. Es war siebzehn Uhr Ortszeit und mich trennten nur noch Minuten von Robert. Ich schnappte mir meine Tasche vom Kofferband und eilte Richtung Ausgang. Ein gewohnter Anblick. Ich hätte im Juni im Traum nicht daran geglaubt, so schnell wieder zurück nach England zu kommen. Noch während ich darüber nachdachte, was seitdem alles in meinem Leben passiert war, sah ich Robert inmitten der vielen wartenden Leute stehen. Dank seiner Größe überragte er die meisten ein wenig und hatte so freie Sicht auf die sich endlos öffnende und schließende Glastür, die ständig neue Ankömmlinge ausspuckte.

Als er mich sah, hob er ganz klassisch ein großes, mit seiner exquisiten Handschrift selbstbeschriebenes Pappschild mit der Aufschrift »Elisabeth für Robert« hoch und strahlte mir glücklich entgegen.

Ich drängte an den anderen Leuten vorbei und wurde von Roberts starken Armen aufgefangen. Wir hielten uns gegenseitig fest, als hätten wir Angst, im Strom der vielen Menschen um uns herum auseinandergerissen zu werden. Unsere Lippen fanden sich sofort und wir küssten uns, als gäbe es kein Morgen. Vergessen war die lange Zeit ohne ihn. In diesem Augenblick zählte nur noch das Hier und Jetzt für uns beide. Nach einer Ewigkeit lösten wir uns voneinander und Robert fragte mich, mir sanft über die Wange streichelnd, ob wir den Weg nach Forecastle bei Plymouth antreten sollten.

 

Wenig später saßen wir im Auto seines Vaters, einem bulligen Landrover. Meine Hand ruhte auf seinem linken Oberschenkel. Ich konnte mich einfach nicht von ihm lösen. Ihn zu berühren, gab mir die Sicherheit, nicht zu träumen und wirklich hier mit ihm im Auto zu sitzen.

»Schön, dass du da bist«, sagte Robert einfach, als wir uns in den fließenden Verkehr einreihten. Wir lächelten uns kurz an und sagten lange Zeit gar nichts, denn es war genug, den anderen neben sich zu wissen.

Die vier Stunden Fahrt vergingen wie im Flug. Inzwischen war es stockdunkel. Eine mondlose Nacht mit grau und schwarz eilig dahin treibenden, dichten Wolkenbergen. Gerade, als wir durch die Stadt von Plymouth fuhren, war alles noch hell beleuchtet. Die letzten Kilometer nach Forecastle führte jedoch eine dunkle, enge von hohen Hecken und dicht stehenden Bäumen gesäumte Straße entlang. Auch als wir den kleinen Ort erreichten, wurde es nicht heller, denn es gab keine Straßenbeleuchtung. Nur hier und da war ein schwacher Lichtschein durch die Bäume hindurch zu erahnen. Die beleuchtete Fenster der wenigen Häuser.

Plötzlich schien der Ort wieder hinter uns zu liegen, als Robert auf einen holprigen Pfad abbog. Nach etwa dreihundert Metern sah ich im Scheinwerferlicht eine hohe Mauer mit einem geöffneten Tor. Robert fuhr hindurch und mir stockte der Atem vor Überraschung, als er direkt vor einem Haus etwa zweihundert Meter gegenüber des großen Tores anhielt.

Hatte er nicht etwas von einem Landhaus erzählt? Das, was ich in der Dunkelheit erkennen konnte, war kein Landhaus, sondern ein Anwesen. Kleine Lichtspots säumten den kreisförmig angelegten Weg, der von beiden Seiten eine Zufahrt zum Eingang des Haupthauses bot. Breite steinerne Treppen führten zu einer imposanten, trutzigen Holztür. Das Haus selbst war in der für diese Gegend typischen dunkelgrauen Natursteinbauweise errichtet und erweckte den Anschein, als stünde es bereits mehrere Jahrhunderte hier. Über der Tür war ein Stein mit Inschrift eingebaut, der etwas herausragte. Vielleicht das Baujahr? Es war zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen. Ich nahm mir jedoch vor, dies morgen bei Tageslicht genauer zu betrachten. Links und rechts des Haupthauses waren noch je ein weiteres Gebäude, beide nur unwesentlich kleiner als das mittlere.

Robert war indes ausgestiegen und um das Auto herum gegangen. Gleich einem Gentleman öffnete er mir die Tür und reichte mir die Hand, um mir das Herausklettern aus dem hohen Auto zu erleichtern. Staunend sah ich mich weiter um.

Mit einem seine Lippen umspielenden Lächeln sagte er mit warmer, einladender Stimme: »Willkommen auf Lender’s Mound.«

Lender’s Mound? Das klang, als hätte seine Familie hier eine längere Tradition aufzuweisen. Ich war sprachlos.

»Mound?«, fragte ich atemlos.

»Kleiner Hügel. Wir Engländer sind in Ermangelung eines ordentlichen Gebirges auf alles stolz, was nicht ganz flach ist. So werden auch Hügel als Besonderheit hervorgehoben«, er grinste.

»Und Lender?«, fragte ich weiter. »Ich dachte, deine Eltern wären nicht verheiratet gewesen?«

»Waren sie auch nicht. Aber meine Mutter konnte sich bei meiner Geburt aussuchen, ob ich wie sie oder mein Vater heißen sollte. Und sie entschied sich für Lender, weil das zur damaligen Zeit wohl deutlich weltmännischer klang als Schuberth. So heißt meine Mutter.«

»Aha«, ich grinste amüsiert zurück, nur um gleich im Anschluss meine Bewunderung zum Ausdruck zu bringen: »Es ist wunderschön hier!«

»Naja, vordergründig ist es gerade kalt und dunkel hier. Also lass uns mal hineingehen«, schlug Robert leicht verlegen vor. Er holte meine Tasche von der Rückbank und nahm meine Hand, um mit mir die Treppen hinaufzusteigen. Noch ehe er die schwere Tür selbst öffnen konnte, ging diese mit einem lauten Quietschen auf. Eine sympathische schlanke Frau um die fünfzig mit rotem Bob und vielen Sommersprossen schaute uns freundlich entgegen und umarmte mich sofort ohne zu Zögern.

»Elisabeth! Welcome! Come in! I’m Judy. Robert has already told us so much about you, so to say he’s been talking about you incessantly. We are so happy to get to know you by ourselves now. Are you hungry, dear?«, sie blickte mich erwartungsvoll an.

»Sure. Hello Judy. Nice to meet you, too!«, antwortete ich überwältigt und fügte mit einem Blick um mich herum hinzu: »It’s a lovely place to live.«

»Thank you. See you in the kitchen, kids«, zwitscherte Judy und ging eilig durch eine der Türen.

»Nun komm erst mal richtig rein«, drängte mich Robert sanft weiter in eine große, lichtdurchflutete Diele. Eine helle Holztreppe führte in ein oberes Stockwerk und links und rechts gingen mehrere, zum Teil vollverglaste Türen ab. So modern und offen hätte ich mir das uralte Haus von außen nie vorgestellt. Die Diele verströmte eine einladend warme, zeitgemäße Atmosphäre. Und es roch gut! Jetzt erst merkte ich, wie hungrig ich tatsächlich war.

Robert nahm mir meine Jacke ab, stellte die Tasche zur Seite und zog mich in seine Arme. Er küsste mich sanft auf die Stirn und schaute mich verliebt an.

»Schön, dass du da bist!«, wiederholte er strahlend und führte mich durch die Tür, in der auch Judy verschwunden war, in eine große Küche.

Weiß lasierte Holzmöbel, ein dunkelbraun gefliester Fußboden, eine schwere, dunkle Holzarbeitsplatte und erstaunlich große, bodentiefe Fenster überraschten mich ein weiteres Mal. Dieses Haus war einerseits uralt und gleichzeitig ganz modern. Diese Mischung verhalf ihm zu einer Gemütlichkeit, durch die ich mich sofort wohlfühlte, trotzdem alles neu und fremd war. An einer großen Kochinsel in der Mitte der Küche rührte Judy in einem Topf und winkte mich gleich zu sich heran. Ich durchquerte den Raum und sah, dass aus dem Nachbarzimmer ein sportlicher Mann mit demselben fast schwarzen Haar und verblüffend ähnlich tiefgrünen Augen wie Robert auf mich zukam und mich ohne Umschweife herzlich in die Arme nahm.

»Herzlich willkommen, Elisabeth! Ich bin Roberts Vater Geoffrey. Du kannst mich gern Jeff nennen!«, sagte er in fehlerfreiem Deutsch mit stark britischem Akzent. Richtig, fiel es mir ein, er hatte ja einige Zeit in Berlin gelebt.

»Hallo Jeff. Vielen Dank für die herzliche Begrüßung! Ihr habt es sehr schön hier!«, antwortete ich ihm und betrachtete Robert und Jeff erstaunt. Die beiden sahen sich wirklich unglaublich ähnlich. Wäre da nicht der deutliche Altersunterschied, könnte man sie glatt für Brüder halten.

»Hattest Du eine gute Reise?«, fragte mich Jeff.

»Ja, vielen Dank«, nickte ich.

»Dann bist du jetzt bestimmt halb verhungert. Lasst uns essen!«, schlug er vor und sagte an Robert gewandt: »Würdest du bitte den Wein noch von der Terrasse holen?«

Ich schaute Robert fragend an.

»Der beste Kühlschrank für Weißwein«, erklärte er lächelnd und ging durch eine der großen Glasfenstertüren ein paar Schritte nach draußen.

»Komm, es gibt Fischauflauf und Apfelstreuselkuchen, oder so ähnlich. Also Fishpie und Apple Crumble, falls dir das was sagt«, erklärte Robert augenzwinkernd.

»Klar. Lecker! Ich freue mich drauf!«, antwortete ich ihm und nahm zusammen mit seinen Eltern im Nachbarzimmer, das sich als das Esszimmer entpuppte, Platz. Als Robert den Wein geöffnet hatte, kam er ebenso hinzu und setzte sich erwartungsvoll neben mich.

Das Essen war köstlich! Wir saßen auch nach dem Essen noch lange gemeinsam an dem großen Tisch im Esszimmer und wechselten später auf die bequemeren Sitzgelegenheiten im Wohnzimmer. Jeff erzählte mir dabei die Historie des Hauses. Er konnte so lebhaft und interessant erzählen, dass auch Robert und Judy, die übrigens auch recht gut Deutsch sprach, ebenso gebannt zuhörten wie ich, obwohl den beiden die Geschichte nicht neu war.

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