Equinox

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4

Wie ich den Rest des Wochenendes überstand, kann ich nicht mehr sagen. Es verging … irgendwie und unendlich langsam.

Ich war froh, als ich am Montagmorgen aufstehen, und mit dem Ziel der ersten Vorlesung meines Studiums in Richtung Uni aufbrechen konnte.

Als ich den Hörsaal in der Beethovenstraße betrat, wäre ich fast wieder rückwärts zur Türe herausgekippt. Nach den letzten Tagen, die ich versunken in meine Gedanken an Robert, den Unbekannten, verbracht hatte, schlugen mir die Geräusche des schon mit Studenten gut gefüllten Raumes entgegen wie eine Welle hunderter lärmender Spatzen. Ich suchte mir einen der wenigen noch freien Plätze recht weit hinten. Die vorderen Sitzreihen waren noch nicht so dicht belegt, doch mir war einfach nicht danach, im Vordergrund zu sitzen. So war ich schlichtweg dankbar, zwischen all den anderen sprichwörtlich untergehen zu können. Ich kannte sowieso noch niemanden und war daher froh, mich nur auf mich selbst konzentrieren zu können.

Kurze Zeit später betrat eine junge Frau forschen Schrittes den Hörsaal, legte ihre Tasche ab und stöpselte ihren Laptop an den Beamer. Eine Professorin, damit hatte ich nicht gerechnet. Zwar hatte ich mich im Vorlesungsverzeichnis über die Veranstaltung und ihren Lektor erkundigt. Aber soweit ich mich erinnern konnte, stand da Prof. Dr. Chr. Rosenberg. »Early American Short Stories«, für dieses Thema und noch dazu mit der Abkürzung Chr. hatte ich mir irgendwie einen älteren Herren vorgestellt. Christoph, Christian oder so ähnlich, aber ihre Fußzeile in ihrer Powerpointpräsentation enthüllte nun ein schlichtes Chris.

Warum also nicht? Ich lehnte mich zurück und lauschte ihren Ausführungen über Nathaniel Hawthornes Initiationsgeschichte »Young Goodman Brown«. Die in ihrem Vortrag untersuchte vielfältige Symbolik, die darstellt, welchen seine Tugend bedrohenden Versuchungen der Protagonist auf seinem Weg zum Glück ausgesetzt ist, faszinierte mich und zog mich für die folgenden neunzig Minuten in ihren Bann. Die Geschichte musste ich mir unbedingt in der Bibliothek besorgen und noch einmal in Ruhe lesen.

Viele der um mich herum sitzenden Kommilitonen verfolgten das Geschehen nicht ganz so begeistert. Der alte Hörsaal mit seinen Holzklappstühlen und ausklappbaren Holztischchen, die immer an den davor stehenden Rückenlehnen der Stühle angebracht waren, war erfüllt mit einem nicht abebben wollendem leisen Gemurmel. Dies störte die Professorin jedoch ganz offensichtlich nicht. Sie sprach betont, überzeugend und schien die störenden Geräusche auszublenden. Wie in einem Bienenstock, schoss es mir durch den Kopf, ehe ich mich wieder der Vorlesung zuwandte.

Anschließend hatte ich ein Seminar zum Thema »Sociolinguistics«. Darunter konnte ich mir noch nichts vorstellen. Ich ließ mich also überraschen. Da ich mich mit den verschiedenen Räumlichkeiten der Uni noch nicht auskannte, hatte ich die Zeit, die ich von dem Gebäude in der Beethovenstraße zu meinem nächsten Seminarraum am anderen Ende der Stadt benötigen würde, völlig unterschätzt und kam gerade noch rechtszeitig. Ich setzte mich gleich nahe der Tür neben ein recht hübsches, sportlich gekleidetes Mädchen mit einem frechen blonden Kurzhaarschnitt und lustigen Sommersprossen. Ihre männliche Begleitung, offensichtlich ein Austauschstudent, der sich auffallend laut und mit starkem nordamerikanischen Akzent mit ihr auf Englisch unterhielt, schien eng vertraut mit ihr zu sein. Er, betont lässig in khakifarbenen Chinos und einem hellen T-Shirt mit braunem Pullover darüber, zeigte durch seine Körperhaltung deutliches Interesse an dem Mädchen, schien sie aber nicht offensiv zu umwerben. Sie bemerkte seine Flirtversuche jedoch nicht oder ignorierte sie gekonnt und verhielt sich ihm gegenüber einfach nur unbefangen und freundlich. Kaum saß ich, unterbrachen die beiden ihre Unterhaltung und er sprach mich auch schon an.

»Hi, ich bin Jason und das ist Theresa. Welches Semester bist Du?«

»Ähm, hallo, ich bin Elisabeth. Erstes Semester. Und ihr?«

»Ich bin im vierten«, antwortete das Mädchen, das Theresa hieß. »Jason hat schon seinen Bachelor. Er kommt aus Vancouver und verbringt zwei Austauschsemester hier.«

»Ja, das ist schon mein zweites Semester in Leipzig. So, also bist du ein Freshman, aren’t you?«, fragte Jason.

»Sozusagen … oh, es scheint loszugehen«, sagte ich, als ein Mann mittleren Alters mit dunklem Tweedjackett und alter, abgetragener Ledertasche hereinkam und sich als Dr. Gallington vorstellte. Während er seine Unterlagen auspackte und eine Teilnehmerliste herumgehen ließ, erläuterte er steif die Prüfungsanforderungen für sein Seminar.

»Oh, er sieht eindeutig ›very British‹ aus«, flüsterte Theresa mit belustigtem Blick auf die antiquierte, abgewetzte Jacke von Mr. Gallington und deutete dabei Gänsefüßchen an.

»Ja, wie ein alter Landlord«, lachte Jason leise in meine Richtung.

Ich musste zugeben, die beiden waren mir wirklich sympathisch und ich war erleichtert, wenigsten schon einmal zwei neue Namen zu kennen. Und mit der Einschätzung Mr. Gallingtons als Sinnbild eines britischen Landlords hatten die beiden irgendwie Recht, musste ich ihnen schmunzelnd zugestehen.

Die folgenden neunzig Minuten mit Mr. Gallington waren nicht ganz so kurzweilig wie die Vorlesung zuvor und ich ertappte mich immer wieder dabei, wie ich mit den beiden neben mir plauderte. Zudem schaute ich wieder und wieder sehnsuchtsvoll nach draußen, hoffend, dass der elende Dauerregen endlich nachlassen würde, was er aber nicht tat. Im Gegenteil, es schien mir, als würde es mit jedem Blick nach draußen nasser und dunkler. Meine Pläne, meine heimliche Hoffnung, Robert bald wieder zu sehen, vielleicht unter den Bäumen am Ende der Straße, rückten ins Unerreichbare. Gleichzeitig schalt ich mich wegen meiner Träume. Hatte er mich nicht zugunsten einer anderen am Samstag im Café verlassen? Schlag ihn dir aus dem Kopf, sagte ich mir ein ums andere Mal. Er ist sowieso nicht interessiert an dir. Und trotzdem konnte ich einfach nicht aufhören, an ihn zu denken. Wie er mich angesehen hatte …

Ich schloss die Augen und sah ihn sofort wieder vor mir. Nein, konzentriere dich, versuchte ich mich aus meinen Tagträumen zu reißen und strengte mich halbherzig an, dem wenig fesselnden, monotonen Redefluss des Dozenten zu folgen.

»Wir gehen nachher Mittagessen. Hast Du Zeit und Lust? Dann komm doch mit!«, forderte mich Theresa auf, als wir nach einer gefühlten Ewigkeit knochentrockener Textanalyse endlich unsere Sachen packten und eilig aus dem viel zu warmen Seminarraum flohen.

»Ja, gern«, antwortete ich und freute mich, so netten Anschluss gefunden zu haben.

»Oh Mann, den überleben wir nie!«, polterte Jason mit rollenden Augen auf dem Weg zur Mensa. »Dabei dachte ich mir, dass man gerade dieses Thema doch leicht mit Leben füllen und interessant gestalten könnte. Das hat der steife Brite aber voll vermasselt!« Jason, der, abgesehen von seinem verräterischen Akzent, ein bewundernswertes Deutsch sprach, betonte vermasselt eher wie vermesselt, was Theresa und mich schmunzeln ließ.

»Waaas?«, frage er gespielt genervt.

»Nichts! Ich sehe schon, das wird der harte Montagvormittag dieses Semester!« witzelte Theresa und lachte auffordernd in meine Richtung. »Was ist, bleibst du dabei oder suchst du dir eine Alternative?«

»Klar bleibe ich! Mit Euch beiden könnte man es dort schon überleben!«, und lachte mit.

Während des Mittagessens setzte sich unsere Unterhaltung fort und ich spürte, dass ich in den beiden tatsächlich die ersten neuen Freunde gefunden zu haben schien. Sie schafften es durch ihr unbekümmertes, freundliches Wesen sogar, mich von meinen sehnsuchtsvollen, schmerzhaften und vor allem sinnlosen Erinnerungen an Robert fern zu halten.

»Woher kennt ihr Euch? Seid ihr ein Paar?«, wagte ich mich am Ende der Mittagspause zu fragen, denn der vertraute Umgang der beiden miteinander war auffällig und die Frage nach ihrem Verhältnis zueinander nur naheliegend.

Jason lachte kurz gespielt amüsiert und leicht wehmütig auf und sagte dann, Theresa schelmisch anlächelnd: »Nein, als hätte ich jemals eine Chance bei Theresa! Wir sind zufällig beide zu Beginn des vergangenen Semesters in der gleichen WG gelandet, sind also sozusagen Zimmernachbarn. Und da wir auch noch die gleichen Fächer belegen, verbringen wir notgedrungen viel Zeit miteinander.«

Postwendend knuffte Theresa ihn in die Seite und entgegnete neckend: »Es scheint dich ja auch mächtig zu stören, ständig mit mir herumzuhängen!«

»Nun ja, es gibt schon noch Schlimmeres!«

»Sag mal Elizabeth … hast Du am Freitagnachmittag schon was vor? Es werden noch Leute für eine Studie zum Zweitspracherwerb gesucht. Weißt du, was das ist?«, fragte Theresa und beantwortete die Frage gleich selbst: »Klar, sicher weißt du das. Du bist ja schließlich vom Fach. Wir machen übrigens auch mit und das nicht zum ersten Mal.«

»Und was passiert dann da?«, fragte ich sie interessiert. Alles war gut, solange es mich ablenkte und beschäftigte, stellte ich etwas grimmig mit mir selbst fest.

»Das ist immer ganz lustig, man bekommt einen kleinen Test vorgelegt, füllt den aus oder spricht eine Testrunde lang mit den Leuten dort und am Ende gibt es meist sogar zwanzig Euro dafür.« Theresa schaute mich erwartungsvoll an.

»Ja, cool. Klingt interessant. Wo muss ich da hin und vor allem wann?«

»Wir können uns ja alle sechzehn Uhr am Bahnhof treffen und gemeinsam hinlaufen. Es ist nicht weit«, meinte sie.

»Okay, abgemacht.«

»Und danach wollen wir mit ein paar Leuten in die Moritzbastei zur Semesteranfangsparty. Es spielen auch zwei ganz gute Bands. Wenn Du willst, bist Du mit dabei!«, lud Jason mich ein.

 

»Ja, mal schauen«, zögerte ich.

»Ach komm schon, es soll die ganze Woche so weiter regnen,« sagte Theresa mit einem genervten Blick aus dem Fenster. »Da tut ein bisschen Ablenkung doch ganz gut!«

»Okay, einverstanden. Ich komme mit«, sagte ich, da ich nun bestätigt bekam, dass meine Pläne, jeden Abend den kleinen grünen Platz in unserer Straße aufzusuchen, in der stillen Hoffnung ihn zu treffen, endgültig durchkreuzt waren. Wenn das Wetter so bleiben sollte, brauchte ich dort nicht hinzugehen. Aber wenn es besser werden sollte … könnte ich immer noch absagen. Jedenfalls war gegen ein bisschen Ablenkung nichts einzuwenden, fand ich.

»Prima«, freuten sich Jason und Theresa gemeinsam. »Wir müssen nun los, mach’s gut, Elisabeth.« Bevor sie gingen, tauschten wir noch schnell unsere Telefonnummern aus, und dann waren sie auch schon weg.

Auf meinem Weg zur Bibliothek sah ich an der Eingangstür eines liebevoll gestalteten Kindergartens ein Schild hängen, auf dem ich las, dass Vorlesepaten für die Kinder gesucht würden. Da könnte ich mich doch melden, dachte ich mir. Denn Kinder hatte ich immer gern um mich. Meine Kleinen aus Exeter fehlten mir richtiggehend, als ich darüber nachdachte. Na, und Lesen … das war ja schließlich ich.

5

Die Woche schritt voran und der Regen hielt an. Am Donnerstagvormittag, als ich in der Bibliothek saß und Literatur für mein erstes Kurzreferat in einem Germanistikseminar in zwei Wochen zusammentrug, schien es, als wollten sich die Wolken etwas lichten. Hoffnung durchströmte mich mit einer derartigen Intensität, dass es mir fast unmöglich war, mich wieder auf meine Arbeit zu konzentrieren. Doch schon, als ich zur Mittagszeit aus dem modernen Bibliotheksgebäude heraustrat, war es wieder dunkelgrau und ich tappte tief enttäuscht meinem nächsten Seminar entgegen. Es schien, als würde sich das Wetter belustigt meiner Hoffnung auf einen regenfreien Abend in den Weg stellen, um mir ein ums andere Mal zu sagen, dass ich ein Dummkopf sei und nicht meinen unerreichbaren Träumen hinterherhängen sollte.

Ich war froh, dass ich meine Tage über das vorgeschlagene Maß hinaus mit Veranstaltungen vollgepackt hatte. Vorbereitung, Nachbereitung. Ich hatte zu viel zu tun, als dass ich häufig Raum für meine mittlerweile schon fast surreale Erinnerung an Robert hatte.

Nachts jedoch schlief ich kaum und versuchte, meinem sich rastlos drehenden Gedankenkarussell zu entkommen, während ich mich endlose Stunden im Bett hin und her wälzte.

Ich musste mir eingestehen, ich hatte mich in einen völlig fremden Menschen verliebt. Das erste Mal in meinem Leben überhaupt. Und nichts in meinem Leben war bisher je aussichtsloser gewesen als diese Liebe, die ich so deutlich und heftig wie körperlichen Schmerz empfand. Irgendwann, jede Nacht aufs Neue, schlief ich dann unter Tränen ein, mir der absoluten Hoffnungslosigkeit meiner Gefühle bewusst, nur um im Traum Roberts smaragdgrünen Blick wieder und wieder auf mir ruhen zu sehen.

Der Freitagmorgen verlief höhepunktlos und nachdem meine letzte Vorlesung der Woche vorbei war, hatte ich noch ausreichend Zeit, nach Hause zu gehen, bevor ich mich mit Theresa und Jason für die Studie und vielleicht auch für die Party in der Moritzbastei treffen wollte. Ein ums andere Mal ertappte ich mich dabei, meiner Versuchung nachzugeben, die beiden anzurufen und ihnen zu sagen, dass ich eine Erkältung hätte, nur um nicht mit zu müssen. Ich tat es dann doch nicht, denn noch mehr fürchtete ich, wieder allein zu Hause zu hocken und von meinen deprimierenden Sehnsüchten eingeholt zu werden. Ich brauchte definitiv Ablenkung, so viel stand fest. Sonst würde ich noch verrückt werden!

Unschlüssig stand ich wenig später vor meinem Kleiderschrank. Ich war nicht der Typ Frau, der sich gern aufbretzelte. Ich hielt es lieber schlicht und vor allem unauffällig. So verließ ich am Nachmittag das Haus in meinen altbekannten Bluejeans und einem einfachen dunkelblauen Shirt mit dreiviertellangen Ärmeln, alles gut versteckt unter meinem Parka, denn es regnete noch immer unaufhörlich. Meine dunkelblonden, lockigen Haare ließ ich einfach offen und Make-up trug ich sowieso nie.

Bevor ich mich mit Theresa und Jason traf, fiel mir der Kindergarten wieder ein, den ich am Montag entdeckt hatte. Da noch ausreichend Zeit bis zu unserem Treffen am Bahnhof war, beschloss ich, dort noch vorbeizugehen und mich als vielleicht neue Vorlesepatin für die Kinder vorzustellen. Auf meinem Weg dahin überlegte ich, ob die beiden eigentlich überhaupt erwähnt hatten, wohin wir zu dieser Studie gehen würden. Ich konnte mich einfach nicht an einen Ort erinnern. Egal, das war auch nicht so wichtig, sagte ich mir und klingelte an der Eingangstür zum Kindergarten. Ein junger Mann mit millimeterkurzen Haaren in dunklen Camouflage-Cargohosen und einem Wacken-T-Shirt öffnete mir und schaute mich amüsiert an. Meine Überraschung, einen Mann im Kindergarten anzutreffen, schien mir vermutlich ziemlich offen im Gesicht zu stehen.

»Hallo, wie kann ich Ihnen helfen?«, frage er und fügte gleich, bevor ich antworten konnte, hinzu: »Viele sind überrascht. Aber glauben Sie es mir, es gibt immer mehr Erzieher.«

»Aha? Also, hallo, ich bin Elisabeth Bergmann und habe draußen gelesen, dass sie für die Kinder Vorlesepaten suchen.«

»Oh, das ist ja schön«, freute er sich und fuhr fort: »Ich heiße Johannes Winter. Dann bringe ich Sie mal zur Kindergartenleiterin, das ist Frau Weiße. Sie wird sich bestimmt freuen, dass sich endlich mal jemand auf den Aushang meldet. Also dann, einfach hinterher kommen.«, sagte er mit einer einladenden Handbewegung und verschwand in Richtung eines Treppenaufgangs. Das Büro war schnell gefunden und ich vereinbarte mit der Leiterin namens Susan Weiße für die nächste Woche am Dienstagnachmittag eine erste Vorlesestunde.

»Wie ist es mit den Büchern … ich habe eigentlich keine Kinderbücher mehr zu Hause, könnte aber sicher welche aus der Bibliothek besorgen …«, fragte ich sie indirekt.

»Nein, nein. Das ist nicht nötig. Wir haben neulich einen ganzen Karton voller neuer Bücher vom Goetheinstitut im Rahmen des Vorlesetages geschenkt bekommen. Die Kinder freuen sich darauf, erst einmal alle Bücher aus dieser Kiste kennen zu lernen.«

»Ach, das ist gut. Also dann, ich freue mich! Bis Dienstag«, verabschiedete ich mich und lief weiter zu meinem Treffpunkt mit Theresa und Jason am Haupteingang des Hauptbahnhofs. Ich musste nicht lange warten, denn ich stand kaum, als ich die beiden schon aus einer ankommenden Straßenbahn auf der Straße gegenüber springen und mir zuwinken sah.

»Hallo, du bist ja schon da!«, Theresa umarmte mich stürmisch und Jason nickte mir freundlich zu.

»Hi«, sagte er.

»Hallo. Wo gehen wir jetzt eigentlich hin?«

»Zum Deutschen Platz. Ziemlich cool dort. Es ist nicht weit von hier, etwa in der Nähe der Deutschen Nationalbibliothek. Wir können hinlaufen oder auch kurz mit der Straßenbahn fahren«, erklärte Theresa.

Da es gerade einmal nicht in Strömen regnete, sondern nur stetig vor sich hin nieselte, antwortete ich: »Wenn es euch nichts ausmacht bei diesem Wetter, können wir gern laufen.«

»Okay«, antworteten beide gleichzeitig und nahezu synchron setzten wir alle unsere Kapuzen auf, zogen sie tief ins Gesicht und liefen los. Unterwegs sprachen wir nicht viel, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach und nach einer Weile rief Theresa: »Et voilà, da sind wir.«

Wir standen schon fast in einer Drehtür und gingen weiter ins lichtdurchflutete Foyer eines absolut imposanten Glasbaus. Wegen des Regens hatte ich mich auf unserem Weg hierher in den Tiefen meiner Kapuze versteckt und war leicht geduckt mit ständigem Blick auf meine Füße hinter Theresa und Jason hergegangen. Nun konnte ich mich gar nicht so recht erinnern, wo wir entlang gegangen und letztendlich gelandet waren. Aber das würde ja sicher gleich herauszubekommen sein. Ich setzte meine Kapuze ab und drehte mich einmal um meine eigene Achse. Die Treppen zu den Etagen führten offen mit Verbindungsbrücken durch die mit Glas und Stahl ummantelte Halle. Eine Wand war als vertikaler Kletterparcours gestaltet und im rechten Teil des riesigen Raumes schien eine permanente Ausstellung mit großen Glaskästen und Monitoren installiert zu sein.

»Sag ich doch, ist cool hier. Stimmt’s?«, grinste mich Theresa an.

Jason war unterdes schon zu einer Art Rezeption mitten im Raum gegangen und meldete uns an. Er kam zurück und teilte uns mit, dass wir gleich abgeholt würden.

Ich staunte noch immer sprachlos und blieb, mich weiter umsehend, stehen, während Theresa und Jason auf einer Sitzgruppe hinter der Rezeption Platz nahmen und sich aus ihren Jacken schälten.

Gerade wollte ich fragen, wo wir uns nun eigentlich befanden, als eine hübsche dunkelhäutige Frau in einem grasgrünen, figurbetonten Kleid aus dem Fahrstuhl trat, uns mit lustig blitzenden schwarzen Augen aufmunternd ansah und völlig akzentfrei ansprach: »Hallo, ich bin Momo. Willkommen im Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Kommt mit. Wir müssen nach oben. Ihr müsst gar nicht warten und seid gleich dran.«

Jason und Theresa standen auf, schnappten ihre Jacken und Taschen und schickten sich an, ihr zum Fahrstuhl zu folgen, als meine Beine urplötzlich ihren Dienst versagten und ich rückwärts stolpernd auf einen Sitzwürfel sackte, auf dem soeben noch Jason gesessen hatte.

»Max-Planck-Institut?«, frage ich geschockt.

Alle drei schauten mich mit großen Augen an, völlig überrascht über meine sonderbare Reaktion.

»Geht’s Dir gut?«

»Alles klar?«

»Elisabeth???«

Sie fragten durcheinander und warteten verwundert und besorgt auf eine Antwort. Doch die konnte ich nicht geben. Stattdessen schaute ich die drei mit einem völlig gequälten Gesichtsausdruck an und suchte panisch nach einer halbwegs logischen Erklärung, die mein eigenartiges Verhalten wenigstens ansatzweise erklären könnte. Doch es gelang mir nicht, meine Gedanken irgendwie funktionsfähig zu sortieren. Das Einzige, was ich denken konnte, war: Max-Planck-Institut? Das Max-Planck-Institut, wo Robert arbeitete? Oh Gott, nein! War er auch hier? Was sollte ich machen, wenn ich ihn hier treffe? Er würde doch sicher denken, ich würde ihm hinterherlaufen! Oder nicht? Oh, wie furchtbar! Ich musste hier weg! Sofort!

Ein Blick in die total verwirrten Gesichter meiner zwei Freunde und dieser Momo zeigte mir, dass sie immer noch auf eine Antwort warteten. Logischerweise!

»Mir … ist schlecht geworden«, brachte ich mit Mühe hervor.

»Das ist ja komisch!«, meinte Theresa und blickte mich ein wenig argwöhnisch an. Sie nahm mir meine Ausrede nicht wirklich ab, fragte aber erst einmal nicht weiter nach.

»Geht’s dir wieder besser?«, fragte Momo. Ich nickte schwach, was blieb mir auch weiter übrig?

»Dann lass uns mal nach oben gehen«, sagte sie und wies auf den Fahrstuhl hinter ihr. »Dort bekommst du ein Glas Wasser. Oder besser einen Kaffee?«

»Wasser wäre toll«, murmelte ich. Als ich aufstehen wollte, stützte mich Jason plötzlich. Oh Mann, so viel Aufmerksamkeit war mir überhaupt nicht recht. Und laufen konnte ich auch alleine. Ich wünschte, ich könnte augenblicklich in der Erde versinken. Aber um nicht noch dusseliger da zu stehen, musste ich wohl oder übel mitspielen. Wie blöd! Ich ärgerte mich total!

Theresa schnappte sich meine Jacke und Tasche und Jason zerrte mich Richtung Fahrstuhl. Eigentlich wollte ich da gar nicht hoch. Aber das konnte ich ja schlecht erklären.

Im Fahrstuhl schwiegen alle betreten und schauten mich immer wieder besorgt von der Seite an.

Schon ging die Fahrstuhltür im zweiten Stock wieder auf und Momo rief herausspringend: »Hier entlang!« Während sie uns einen hellen Gang entlang führte, fragte Theresa Momo, wo sie so gut Deutsch gelernt hätte. Lachend erzählte sie ihr, dass sie eigentlich aus Nicaragua stamme, aber als kleines Kind von deutschen Eltern adoptiert wurde und in Deutschland aufgewachsen wäre. Fast alle Bürotüren waren weit geöffnet und erlaubten im Vorbeigehen einen Blick auf Leute, die konzentriert am Computer arbeiteten, sich angeregt unterhielten oder auch einfach nur schauten, wer vorbei lief und uns dann freundlich zunickten. Momo führte uns in ein halboffenes Kabinett mit Sitzgruppen und niedrigen Tischen und fragte noch mit einem eindeutig neugierigen Blick zu Jason, ob einer von uns nicht Deutsch als Muttersprache hätte. Sonderbare Frage, dachte ich mir. Aber rückblickend fiel mir auf, dass Jason außer einmal »Elisabeth« in Momos Anwesenheit noch nicht gesprochen hatte und sie sich deshalb vielleicht nicht sicher war, ob er nun Muttersprachler war oder nicht. Da Jason als Kanadier diese Frage auf jeden Fall bejahen musste, erklärte sie uns, dass er den gleich folgenden Test dann in Englisch beantworten würde, damit die Ergebnisse am Ende vergleichbar würden.

 

Sie bot uns an, von dem bereitgestellten Saft und Wasser zu nehmen und wies uns an, kurz zu warten.

Kaum war sie aus dem Raum gegangen, bestürmten mich Jason und Theresa auch schon wieder mit ihren Fragen.

»Was war denn mit dir da unten plötzlich los?«

»Du hast ausgesehen, als hättest du den Teufel persönlich getroffen! Krass! Was hattest du?«

»Geht’s Dir nun wieder gut?«

»Ja, alles prima«, antwortete ich knapp und war froh, auf die anderen Fragen nicht antworten zu müssen, denn Momo kam wieder und sagte: »Kommt mit. Es geht los. Lasst Eure Sachen hier. Die braucht ihr zum Test nicht mitnehmen. Wir schließen hier ab.«

Im Hinausgehen wandte sie sich noch einmal mir zu und fragte mich mit besorgter, leiser Stimme: »Fühlst du dich wirklich wieder gut? Du kannst auch gern einfach nur auf deine Freunde warten. Du musst nicht an der Studie teilnehmen, wenn es dir nicht gut geht.«

»Nein, nein. Vielen Dank. Es ist alles in Ordnung. Wirklich! Ich mache auf jedem Fall mit!«, versuchte ich Momos Bedenken zu zerstreuen.

»Okay, wie du meinst«, sie zuckte mit den Schultern und führte uns in einen abgedunkelten Raum, in dem kleine mit Seitenwänden versehene, beleuchtete Kabinen mit Schreibtischen aufgebaut waren.

»Der Herr aus Kanada setzt sich bitte in Kabine eins, die beiden Damen wählen je eine der verbliebenden Kabinen. Ihr findet auf Euren Plätzen einen Fragenbogen, den ihr bitte erst umdreht, wenn das Klingelsignal ertönt. Anschließend folgt ihr genau den Anweisungen auf dem Fragebogen. Ihr habt exakt fünf Minuten Zeit zum Ausfüllen. Bitte steht nicht auf, bevor die Klingel das Ende der Testzeit angibt. Falls ihr schon eher fertig sein solltet, bleibt also bitte trotzdem sitzen. Wenn die Zeit vorbei ist, dreht ihr den Testbogen wieder um. Bitte sprecht nicht miteinander. Soweit alles klar? Noch Fragen?«

»Nö«, sagte Theresa und auch Jason und ich signalisierten unser Verständnis.

»Okay, super! Dann geht’s jetzt los. Achtung!«, und die Klingel ertönte.

Während ich den Bogen ausfüllte, betrat eine weitere Person den Raum. Ich war jedoch mit der Fülle der Aufgaben auf dem Testpapier so beschäftigt, dass ich keine Zeit hatte, um nachzuschauen, wer da hereingekommen war.

Die fünf Bearbeitungsminuten waren schneller um als gedacht, und als die Klingel ertönte, fehlten mir sogar noch zwei Aufgaben. Tief durchatmend drehte ich mein Blatt um und wartete auf das Signal, wieder aufstehen zu dürfen.

»Vielen Dank«, sagte eine mir nur allzu bekannte Stimme und ließ mich auf meinem Stuhl erstarren. »Ihr werdet vielleicht nicht alles geschafft haben, aber das war so gewollt. Also macht euch keinen Kopf. Ihr habt nicht zu langsam gearbeitet. Momo nimmt nun noch eure Daten auf und gibt euch einen Link, auf dem ihr in etwa einem Vierteljahr die anonymisierten Testergebnisse nachlesen könnt, wenn ihr wollt.«

Theresa und Jason sagten beide »Okay« und erhoben sich Richtung Ausgang.

Ich stand langsam auf und drehte mich unsicher um. Du musst einfach nur ›Hallo‹ sagen und dann weitergehen, redete ich mir ein. Tu’s einfach und sei cool! Wenn das so einfach wäre! Mein Puls raste und meine Beine fühlten sich schon wieder an wie Wackelpudding.

Doch dann kam alles völlig anders, als ich es erwartet hatte.

Kaum hatte ich mich umgedreht, erkannte mich Robert und ein Strahlen erhellte sein Gesicht.

»Elisabeth!«, rief er hocherfreut.

Ich war völlig durcheinander. Geschockt!

Noch ehe ich mich sammeln konnte, war er die wenigen Meter durch den Raum zu mir geschritten und nahm meine beiden Hände in seine. Mein Herz vergaß einen Schlag lang, was es tun sollte und hielt einfach an, um danach mit noch höherer Geschwindigkeit weiterzurasen.

»Elisabeth!«, stieß er erneut hervor. »Ich hatte schon gedacht, ich sehe Dich nie wieder! Was für ein Idiot war ich, als ich am Samstag gegangen bin, ohne Dich vorher wenigstens um Deine Telefonnummer oder so zu bitten. Dabei war es letztendlich noch nicht einmal so dringend, denn ich stand noch mindestens eine halbe Stunde am Bahnsteig, ehe meine Cousine dann schließlich kam. Ihr Zug hatte kurz vor Leipzig noch eine Panne und konnte daher nur langsamer fahren als sonst.«

Ich hörte ihm atemlos zu und versuchte, das, was er mir da gerade erzählte irgendwie zu verarbeiten. Cousine? Meine Hände lagen noch immer in seinen. Er kam überhaupt nicht auf die Idee, mich wieder loszulassen.

»Deine Cousine?«, war das Einzige, was ich hervorbrachte. Ich konnte mein Glück gar nicht fassen. Von Cousinen ging keine Gefahr aus, soviel ich wusste. Oder doch?

Er war nicht aus dem Café geeilt, um seine Freundin zu treffen. Nur seine Cousine. Erleichterung, Freude, Überraschung. Ich fühlte alles durcheinander und gleichzeitig.

»Ja, meine Cousine. Sie ist gerade achtzehn und macht bald Abitur. Sie hat begonnen, nach einer geeigneten Uni für sich suchen, um nach der Schule Medizin zu studieren. Marburg und Jena hatte sie sich schon angesehen und am Wochenende wollte sie dann Leipzig kennenlernen. Naja, und ich hatte ihr angeboten, sie durch die Stadt zu führen und zum Tag der offenen Tür der medizinischen Fakultät zu begleiten.«

Er schaute mich liebevoll und ein wenig besorgt an. Dabei bildeten sich zwei Grübchen zwischen seinen Augenbrauen, was mich, wie immer, wieder nur ablenkte und mir auch ausgesprochen gut gefiel.

»Bist du mir sehr böse, dass ich dich da einfach allein in dem Coffeeshop sitzen gelassen habe?«

»Nein. Nicht wirklich. Ich dachte nur …«

»Was dachtest du?«

»Ach, nicht wichtig.« Es war egal, all der Schmerz der vergangenen Tage war wie weggeblasen und zum ersten Mal konnte ich mich einfach nur freuen, Robert zu sehen. Ich lächelte ihn glücklich an.

Er reagierte sofort auf mein Lächeln. Die besorgte Unsicherheit, mit der er mich soeben noch betrachtet hatte, wich einem ebenso liebenswerten Lächeln.

»Wollen wir das Ganze noch einmal beginnen, zum dritten Mal, vielleicht mit einem Kaffee?«, fragte er mich.

»Sehr gern!«, hauchte ich eher, als ich sprach. Mehr brauchte ich nicht zu sagen und schaute ihm in seine grünen Augen, die im Halbdunkel des Labors aussahen wie die Tiefsee.

In der Tür räusperte sich auf einmal Jason ziemlich vernehmlich.

Oh je, die zwei hatte ich ja vollends vergessen. Ich wandte mich um und sah wie sie mich und Robert beide überrascht musterten. Mit einem Blick auf meine Hände in seinen fragte Theresa grinsend: »Ihr kennt euch wohl?«

»Ja, sozusagen«, antwortete ich und lächelte Robert wieder an.

»Und was ist jetzt mit heute Abend?«, fragte Jason stirnrunzelnd.

Theresa knuffte ihm derb in die Seite.

»Aua!«

»Oh, du hattest schon etwas vor?«, Robert schaute mich enttäuscht an.

»Nun ja, wir drei wollten auf die Semesteranfangsparty in der Moritzbastei«, antwortete ich völlig unschlüssig, was ich nun tun sollte.

»Wenn Ihr nichts dagegen habt«, wandte sich Robert Theresa und Jason zu, »entführe ich euch Elisabeth für eine Weile und wir kommen dann beide heute Abend in die Moritzbastei.«

»Na, ich habe nichts dagegen!«, freute sich Jason mit einem Seitenblick auf Theresa. Diese rollte betont übertrieben mit den Augen und antwortete, an Jason gewandt: »Wenn es denn sein muss, verbringe ich den Rest des Nachmittags halt notgedrungen mit dir allein.«