Gestern Kollege – heute Vorgesetzter

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Gestern Kollege – heute Vorgesetzter
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Dagmar Kohlmann-Scheerer

Gestern Kollege – heute Vorgesetzter

So schaffen Sie den Rollentausch

Dagmar Kohlmann-Scheerer

Gestern Kollege – heute Vorgesetzter

So schaffen Sie den Rollentausch


Information der Deutschen Nationalbliothek

Die Deutsche Nationalbliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Lektorat: Susanne von Ahn,Hasloh

Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen

Umschlagfoto: Zefa Visual Media,Hamburg

Satz und Layout: Lohse Design, Büttelborn

©2015 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Das E-Book basiert auf dem Buch „Gestern Kollege - Heute Vorgesetzer“ von Dagmar Kohlmann-Scherer, ©2004 GABAL Verlag GmbH, Offenbach.

ISBN Buchausgabe: 978-3-89749-463-3

ISBN epub: 978-3-95623-292-3

10. Auflage 2013

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise,

nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

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Inhalt

Zu Beginn: Was der Rollentausch mit sich bringt

Zwischen den Stühlen

Der Rollentausch – gestern noch Kollege, heute Vorgesetzter – fällt schwer, denn der neue Chef wird von allen Seiten mit Argusaugen betrachtet. Alles, was er in seiner neuen Rolle tut, kommt auf den Prüfstand. Er spürt einen hohen Erwartungsdruck. Die Exkollegen hoffen, dass einerseits alles beim Alten bleibt, der zukünftige Boss andererseits endlich die Interessen der Gruppe nach oben durchsetzt. Er weiß ja genau, welche Verbesserungen sich die Mitarbeiter schon lange wünschen. Die Geschäftsleitung wiederum hofft, dass der ehemalige Mitarbeiter genügend Durchsetzungsvermögen hat, um die Unternehmensziele nach unten zu vermitteln. Der Zweifel, ob nicht „einer von außen“ durch straffere Führung mehr Erfolg hätte, wird ihn eine Weile begleiten. So sitzen die frisch gebackenen Chefs oft zwischen allen Stühlen.

Kaum kontrollierbar sind die Gefühle der „Zurückgebliebenen“, also der Kollegen, die ebenfalls auf die Position reflektiert haben. Diese Mitarbeiter können dem frisch gekürten Chef nicht loyal folgen. Erschwerend kommt hinzu, dass über diese Enttäuschung meistens nicht gesprochen wird.

Die Beziehung zu den ehemaligen Kollegen verändert sich klammheimlich. „Der muss sich ja jetzt auf die Seite der Geschäftsleitung stellen – irgendwie ist er doch einer von ihnen ...“ Skepsis und Misstrauen begleiten die neue Konstellation. Aus ehemaliger Nähe wird abwartende Distanz. „Was tue ich“, fragt sich vielleicht der neue Vorgesetzte, „um beliebt zu bleiben, auch wenn ich gezwungen bin, schwache Leistungen zu kritisieren und ungeliebte Veränderungen durchzusetzen?“

„Opfer“, „Retter“ und „Verfolger“

Solche Gefühle verändern unmerklich das Betriebsklima, rufen „Opfer“, Retter“ und „Verfolger“ auf den Plan. Der ehemalige Kollege, der um die enge Beziehung zum neuen Chef bangt, wird immer eine Warnung auf den Lippen haben: „Du, pass auf, die Kollegen in der Buchhaltung reden über dich ...“ – ganz in der Rolle des Retters aufgehend. Der Verfolger hingegen wird keine Gelegenheit auslassen, dem Neuen zu beweisen, dass er ständig Fehler macht. Bleibt noch der Opfertyp: Immer wieder wird jemand in Not geraten und um Hilfe bitten: „Du, ich bin doch nicht aus dieser Abteilung, deshalb kann ich das noch nicht . . .“

Nicht nur die Mitarbeiter müssen sich an die veränderte Situation gewöhnen, auch den nächsthöheren Vorgesetzten beschäftigt vielleicht die Angst vor neuer Konkurrenz, sollte der jüngst Beförderte seine Aufgabe zu gut meistern. Er hört womöglich schon Sägegeräusche an seinem Stuhl, meint, sein Terrain schützen zu müssen. Das zeigt er etwa dadurch, dass er den potenziellen Konkurrenten nicht hinreichend informiert. Die neue Führungskraft erfährt beispielsweise erst in einer Besprechung von einer wichtigen Entscheidung – und ist bloßgestellt.

Veränderungen stoßen auf Widerstand

Ein frischer Wind wirbelt zunächst einiges durcheinander. Halten Sie die Unruhe der neuen Situation aus; und treten Sie nicht in die Falle, alles sofort sachlich regeln zu wollen. Menschen reagieren auf Veränderungen häufig mit Widerständen. Sie befürchten, dass ihnen liebe Gewohnheiten genommen werden, und das löst Verunsicherung aus. Gerüchte verbreiten sich, die Mobbinggefahr wächst. Jede Abweichung von Erwartungen wird als Bedrohung aufgefasst, und dies führt zu Ablehnung. Das erklärt auch, weshalb es oft so schwierig ist, neue Ideen, Visionen, Ziele in eine bestehende Ordnung zu implementieren. Blicken Sie hinter die Kulissen und erspüren Sie die Hintergründe der Ablehnung. Das erfordert ein wenig Übung. Erst wenn Sie verstehen, dass die Ablehnung Ihrer neuen Ideen nichts mit Ihnen zu tun hat (sondern mit der Angst vor Veränderungen), können Sie gelassen und „richtig“ reagieren.

Ganz wichtig: Transparenz

Sie können die Gerüchteküche in Schach halten, indem Sie möglichst viele Informationen fließen lassen. Je mehr die Menschen über Pläne und Projekte wissen, desto weniger müssen sie darüber spekulieren. Transparenz heißt das Zauberwort.

Manche Probleme bedürfen keinerlei Reaktion Ihrerseits, vieles legt sich nach einiger Zeit von selbst. Lassen Sie Ihren Mitarbeitern Spielraum für Konflikte, für negative Emotionen. Greifen Sie zu früh ein, wird der Konflikt öffentlich und Sie sind gezwungen zu handeln: Gespräche zu führen, zu lenken, zu beschwichtigen usw. Zu erspüren, was los ist, den richtigen Riecher fürs Eingreifen, Handeln oder Lenken zu bekommen, wird eine Ihrer neuen Aufgaben sein.

Dieses Buch will Ihnen dabei helfen.

Viel Erfolg, Sie schaffen das!

PS: Um das lästige „Verweiblichen“ der Substantive zu vermeiden (Ihr/e Chef/in), bitte ich um freundliches Verständnis dafür, dass mit der allgemeinen Bezeichnung „Chef“ automatisch auch die Chefin gemeint ist.

1 Gestern Kollege – heute Vorgesetzter

Ziel des Kapitels:

Sie lernen, aus dem Rollentausch resultierende typische Fußangeln zu erkennen und zu bewältigen.

Fallstrick 1: Versprechungen

Beispiel: Autoritär oder freundschaftlich?

Gertrud Liehner lässt die Korken knallen – sie ist zur Leiterin der Buchhaltung aufgestiegen. Sie feiert mit ihren Exkollegen bei einem Glas Prosecco die Beförderung. In der sehr harmonischen Runde (alle freuen sich mit ihr) gelobt man sich, dass zwischen den jetzigen Mitarbeitern und ihrer Chefin alles beim Alten bleibt. Sie verspricht ihren früheren Kollegen fest in die Hand, dass sie sich für veränderte Arbeitszeiten stark macht. Schließlich hat sie jetzt ja mehr Einfluss.

Das Aus von oben kommt prompt: „Leider“, bedauert der Geschäftsführer, „können wir im Moment in dieser Hinsicht nichts für Sie tun, denn wir planen in Kürze eine generelle Umstrukturierung der Kernzeiten, somit können wir vorab keine Zusagen für einen Teilbereich des Unternehmens machen. Bitte behalten Sie die Information für sich, das Projekt ist noch nicht spruchreif.“

Schluss mit den Plänen, als frisch gebackene Chefin für die Mitarbeiter etwas zu bewirken. Zusätzlich noch die Verpflichtung zu schweigen ...

Die Enttäuschung der Mitarbeiter ist deutlich spürbar. Immer öfter sitzt Gertrud Liehner außerhalb der Kernzeiten allein in ihrem Büro: keine Aufforderungen mehr, mit zum Squashen zu gehen. Überhaupt fällt ihr auf, dass immer, wenn sie ihr früheres Büro betritt, plötzlich alles schweigt. Sie ist nicht mehr eingebunden in das, was die Mitarbeiter bewegt – sie fühlt sich isoliert.

Lange überlegt Gertrud Liehner, ob sie ihre Exkollegen auf diesen Zustand ansprechen soll. „Aber was, wenn die alles abstreiten?“, denkt sie im Stillen, „beweisen kann ich es ihnen ja nicht, dass sie sich verändert haben.“ Sie beschließt, erst einmal abzuwarten

„Hallo Frau Liehner“, fragt bei der nächsten Begegnung ihr Vorgesetzter, „na, wie geht es unserer neuen Chefin? Alles im Griff? Bringen Sie ruhig ordentlich Schwung in die Abteilung, wir zählen auf Sie!“

Sie erkennt die Gefahr, die sich aus der neuen Situation ergibt: Entweder sie versucht, nun wieder in engeren Kontakt mit den Kollegen zu treten und nicht mehr Vorgesetzte, sondern guter „Kumpel“ zu sein, damit ihre Isolation ein Ende hat. Oder sie fasst die ganze Gruppe mal ein bisschen härter an. Schließlich hat sich unter der früheren Leitung in der Buchhaltung ein gewisser Schlendrian eingeschlichen, da hat der Chef schon Recht. Da sind schon ein paar ganz kräftige Veränderungen nötig.

Sie beschließt, am nächsten Morgen ihr Team zu sich zu rufen, um die Aufgaben neu und klar zu verteilen. Nicht zuletzt deswegen, um den Exkollegen zu zeigen, wer hier jetzt das Sagen hat. Es ist ihr zwar nicht ganz wohl bei der Sache, aber so, wie die Stimmung bislang war, kann es auch nicht weitergehen. Die Mitarbeiter trudeln langsam ein. Deutlich ist den Gesichtern anzusehen, dass sie diese komische Sitzung als lästige Zeitverschwendung empfinden. Mit einem Ohr hört Gertrud Liehner Bemerkungen wie: „Das hat es früher nicht gegeben, da wurde alles am Arbeitsplatz besprochen, die will wahrscheinlich jetzt den Chef rauskehren.“

Guter Rat ist teuer. Frau Liehner – immer noch mit der Absicht, alles „richtig“ zu machen – wird langsam zornig. So ablehnend hatte sie sich ihre Mitarbeiter nicht vorgestellt. „Gut“, sagt sie sich im Stillen, „wenn die Herrschaften so wenig Einsicht zeigen, ich kann auch anders!“ Sie eröffnet die Runde mit einem kühlen „Hallo, kommen wir gleich zur Sache“, erläutert kurz die nötigen Umstrukturierungen, erstickt jede Kritik im Keim und beendet die Sitzung ebenso knapp mit dem Satz: „Ich hoffe, auch in Ihrem Interesse, dass wir in Zukunft gut zusammenarbeiten.“

 

Sie findet, dass die Mitarbeiter selbst schuld sind, dass sie so rigide vorgeht. Sie kann ja nichts dafür, dass sie nun auch in die „Geheimnisse“ der Geschäftsleitung eingeweiht ist. Außerdem muss sie in Zukunft ihrem Vorgesetzten gegenüber Rechenschaft ablegen.

Tja, hier haben wir schon den ersten Konflikt: Was ist der bessere Weg? Despot oder Kumpel? Autoritär oder freundschaftlich? Die Kernfragen lauten:

Welcher Führungsstil ist der richtige (siehe Kapitel 2)?

Was motiviert die Menschen (siehe Kapitel 5)?

Was lässt sich delegieren, was überfordert (siehe Kapitel 6)?

change to „Wie geht man mit Beschwerden aus dem Mitarbeiterkreis um (siehe in diesem Kapitel)?“

Wie werden Mitarbeitergespräche geführt – wie Vier-Augen-Gespräche (siehe Kapitel 3)?

Rein sachlich lassen sich Konflikte nicht lösen

Das größte Problem beim Wechsel vom Kollegen zum Vorgesetzten ist, dass unendlich viele Gefühle im Spiel sind. Weil unsere Denkweise stark an Daten und Fakten orientiert ist, haben Gefühle wie Kummer, Neid, Angst vor Neuem, Angst vor Versagen usw. darin keinen Platz. Man glaubt, alles mit Richtlinien lösen zu können. Es müssen nur die richtigen Maßnahmen her, und schon löst sich alles von alleine. Das heißt, dass Störfaktoren nach der klassischen Weise behandelt werden: Die Ursache wird erkannt und an Ort und Stelle mit raschen, wirksamen Methoden behoben. Ist der Mitarbeiter der Störfaktor, so hat er sich so anzupassen, dass die Störung verschwindet.

In Unternehmen verbreitet: Gefühllosigkeit (Alexithymie)

Die Reduktion aller Störungen auf „Sachprobleme“ und damit das Ausblenden von Gefühlen ist in Unternehmen so weit verbreitet, dass man fast von einer „Krankheit“ sprechen kann. Diese „Krankheit“ heißt mit einem Fachterminus Alexithymie (Verminderung der Fähigkeit, Gefühle zu empfinden). In einem solchen Umfeld ist vertrauensvolle Zusammenarbeit schwierig.

Geben wir hingegen verletzten Gefühlen genügend Spielraum zu heilen, schaffen wir ein Umfeld von Vertrauen und gegenseitiger Achtung. Damit ist die Gefahr, entweder Despot oder Weichei zu werden, umschifft. Klare Ziele können genannt und Teams gebildet werden.

Lösungsansatz

Abwandlung des Beispiels

Drehen wir die Szene noch einmal zurück:

Frau Liehner lässt die Korken knallen ... Sie feiert mit ihren Exkollegen ihre Beförderung, alle freuen sich mit ihr.

Diesmal macht sie keine Versprechungen, sondern bittet ihre Mitarbeiter darum, sie bei eventuell anstehenden Umstrukturierungen zu unterstützen. „Klar“, hört sie von allen Seiten, „gemeinsam packen wir das schon!“ So haben die Mitarbeiter das Gefühl, dass sie nach wie vor wichtig sind. Gertrud Liehner fühlt, dass die Exkollegen und sie am selben Strang ziehen. Die Feier endet fröhlich und in allgemein guter Stimmung.

Gertrud Liehner beobachtet einige Zeit in Ruhe die Tagesabläufe und macht sich Gedanken zu den bevorstehenden Umstrukturierungen. Bevor sie allerdings endgültige Entscheidungen trifft, bittet sie ihre Mitarbeiter um ein Treffen zum Thema „Veränderung“. Man einigt sich auf den kommenden Montag, 16 Uhr.

Da Frau Liehner das Thema und den Inhalt der Sitzung vorher bekannt gegeben hat, kommen die Mitarbeiter ohne Angst zum vereinbarten Termin. Gertrud Liehner erläutert ganz offen, was sie unter „notwendigen Veränderungen“ versteht, und bittet um weitere Anregungen, wie das Ziel erreicht werden könnte. Klar: Nicht alle sind mit der gleichen Begeisterung dabei, die Skepsis ist teilweise noch fühlbar. Dennoch ist ein kreativer Aufwind zu spüren und man verabschiedet sich mit einer neuen Terminvereinbarung. Beim nächsten Treffen sollen dann die neuen Ideen auf ihre Haltbarkeit geprüft werden.

Lösung: Die Mitarbeiter beteiligen

Mit dem geschilderten Verhalten hat Frau Liehner eine gefahrvolle Klippe umschifft: nämlich die Mitarbeiter zu Schachfiguren zu degradieren, die lediglich ausführen, was von ihnen verlangt wird. So entsteht ein offenes Klima, die Menschen fühlen sich ernst genommen und in den Prozess der Veränderungen mit eingebunden. Die neue Vorgesetzte hat sich (und der Abteilung) Zeit gelassen, in Ruhe über notwendige Veränderungen nachzudenken, und die neuen Vorstellungen reifen lassen. Ein weiterer Gefahrenpunkt wurde somit ebenfalls umgangen: mangelnde Information und fehlende Transparenz. Dies hätte zu Gerüchten und Spekulationen geführt. Die Fantasie der Mitarbeiter wäre regelrecht angespornt worden, sich allerlei Unsinn auszudenken.

Lenken Sie die Energien Ihrer Mitarbeiter auf lohnende Objekte!

Hätte sich Frau Liehner entschieden, ihre Umstrukturierungen von oben herab zu befehlen, dann wäre dies zwangsweise auf Ablehnung gestoßen. Denn die wenigsten Menschen führen gerne Befehle aus, deren Sinn sie nicht erkennen. Frau Liehner kann sich jetzt, nachdem sie die Feuerprobe als neue Chefin bestanden hat, den 40 Prozent sachlichen Aufgaben und den 60 Prozent Führungsaufgaben widmen, die sie erwarten, ohne mit Querschüssen aus ihrer Abteilung rechnen zu müssen.

Fallstrick 2: Ein Mitarbeiter zieht nicht mit

Beispiel: Umgang mit übergangenen Kollegen

Am 1. Juli hat Uwe May die Nachfolge seines ehemaligen Chefs angetreten, der in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet wurde. Er hat sich selbst ein wenig gewundert, dass die Wahl ausgerechnet auf ihn gefallen ist, da er zu den Jüngsten in der Abteilung zählt. Wenn es streng nach der „Rangfolge“ gegangen wäre, hätte sein Kollege Richard den Posten bekommen müssen. Schließlich war Richard als Nachfolger immer mal wieder im Gespräch. Er ist schon 20 Jahre im Unternehmen und Uwe selbst war bei ihm in der Ausbildung. Richard hatte im Stillen fest damit gerechnet, dass er nun endlich befördert wird.

Uwe May macht sich auf den Weg zur offiziellen Ernennung zum Gruppenleiter, sein nächsthöherer Vorgesetzter stellt ihn seinen jetzigen Mitarbeitern vor. Ein klein wenig aufgeregt ist Uwe May schon, aber Gott sei Dank, die meisten nehmen es gelassen zur Kenntnis, man kennt sich ja sich bereits aus früheren Zeiten. Richard verlässt allerdings kommentarlos den Raum.

Voller Vorfreude tritt Uwe May ein wenig später an seinen neuen Arbeitsplatz. Er hat sich entschieden, zunächst seinen Schreibtisch im Großraumbüro zu belassen. So kann er sich schnell einen umfassenden Überblick verschaffen.

Bald stellt sich heraus, dass Richard schwierig wird. Er erkrankt zunächst, dann macht er Dienst nach Vorschrift und liegt ständig auf der Lauer, ob er nicht seinem ehemaligen Kollegen einen Fehler nachweisen kann. Weiter versucht er, Kollegen auf seine Seite zu ziehen, nach dem Motto: „Wollt ihr euch tatsächlich von einem so jungen Spund etwas sagen lassen? Der hat doch kaum Erfahrung.“ Sein Verhalten Uwe May gegenüber ist nicht direkt unfreundlich, aber wenig kooperativ. Deutlich ist spürbar: Das Klima in der Abteilung verschlechtert sich zusehends.

Der typische Fall tritt ein: Ein fauler Apfel in der Kiste steckt die gesunden an. Es entsteht dringender Handlungsbedarf für Uwe May. Was soll er tun?

1 Seinem nächsthöheren Vorgesetzen die Situation schildern und dann ein Gespräch zu dritt führen?

2 Die Sache zunächst auf sich beruhen lassen, damit Richard von alleine die Chance bekommt, sich einzugliedern?

3 Mit Richard reden?

4 Die Mitarbeiter durch neue Herausforderungen motivieren, um so Begeisterung zu wecken, von der sich eventuell auch Richard anstecken lässt?

Um nichts zu überstürzen, wägt Uwe May die verschiedenen Möglichkeiten zunächst in Ruhe gegeneinander ab.

Er verwirft Möglichkeit 1: Die Konfliktsituation würde durch das Gespräch mit dem Chef auf die nächsthöhere Ebene übertragen, und das wäre nicht im Sinne seiner Führungsstrategie. Außerdem würde er dies als eigenes „Versagen“ werten.

An Möglichkeit 2 knabbert er länger. Wie lange soll „auf sich beruhen lassen“ dauern? In der Gruppe hat sich das Klima spürbar verschlechtert. Er muss also etwas tun.

Möglichkeit 3: Richard fragen, warum er sich so verändert hat? Und wenn er dann alles abstreitet? So tut, als ob er sich so benimmt wie immer? Gar nicht verstehen will, was man ihm sagt? Nein, Uwe May entscheidet sich dagegen.

Lösungsansatz

Lösung: Motivation durch neue Herausforderungen

Uwe May wählt Möglichkeit 4: Begeisterung wecken. Den Menschen das Gefühl geben, dass sie gebraucht werden. Motivation durch Herausforderungen, Ziele und neue Aufgaben!

Richard könnte sich wieder wichtig fühlen und hätte so die Chance, seine Enttäuschung zu überwinden. Dadurch, hofft Uwe May, würde sich das Klima dann so verbessern, dass er mit Richard ein persönliches Gespräch über dessen Wünsche und Bedürfnisse führen könnte.

Er entscheidet sich also für die vierte Möglichkeit und trennt sich von einigen vermeintlich wesentlichen Aufgaben, um sie an sein Team zu delegieren. Er nennt Problemstellungen und bittet um Lösungsansätze. Er informiert über Ziele und bespricht einzelne Schritte, er entwickelt eine „Fehlerkultur“, in der die Mitarbeiter die Möglichkeit haben, angstfrei neue Ideen auszuprobieren. Er lässt Experimente zu. Kurz: Die Arbeit macht wieder Spaß!

Damit ist allen geholfen: Uwe May hat durch Delegieren verschiedener Aufgaben mehr Spielraum gewonnen, um seine Mitarbeiter zu führen und zu motivieren. Sein Team sieht neue Horizonte und zeigt Eigeninitiative, was zu guten Leistungen führt.

Fallstrick 3: Neue Besen kehren gut

Beispiel: Überstürzte Veränderungen

Es ist seit langem bekannt, dass Dirk Schneider am 1. Oktober die Leitung des Callcenters übernimmt. Sein Vorgänger wurde ebenfalls befördert, jeder erreichte somit die nächste Stufe der Karriereleiter. Alle haben es als selbstverständlich angesehen, dass Dirk die vakante Position übernimmt.

Dirk freut sich schon riesig auf den 1. Oktober, denn dann kann er endlich die Organisation so gestalten, wie er sich das immer schon vorgestellt hat. Raus aus dem alten Muff, ein flotterer Ton am Telefon ist schon lange nötig! So wie die Schreibtische stehen, findet er das auch nicht optimal – seiner mittendrin –, er ist dann doch schließlich der Chef, da braucht er schon mehr Abstand und einen größeren Arbeitsplatz.

Das Gespräch mit seinem zukünftigen Vorgesetzten hat ihn zwar ein bisschen gewundert, ließ dieser doch leichte Skepsis durchblicken, ob die Gruppe unter Dirks Führung so viel Leistung erbringt wie unter einer „straffen“ Führung von außen: „Es sind doch immerhin gute Kumpel von Ihnen ...“ Na, dem wird er es zeigen – gerade weil es gute Kumpel sind, werden sie alles daransetzen, dass die Abteilung super läuft. Da ist er sich ganz sicher.

Allerdings hat sein bester Freund und engster Mitarbeiter beim abendlichen Kneipenbummel schon verlauten lassen, dass er auf Dirks Loyalität baut, bezüglich Gehalt und so . . .

Überhaupt hat die Gruppe schon durch die Blume zu erkennen gegeben, dass man keine Zweifel daran hat, dass er zukünftig die Interessen der Gruppe (in puncto Spesen, Arbeitsbedingungen usw.) wesentlich besser nach oben vertreten kann.

Am 1. Oktober, pünktlich um 8 Uhr, steht ein übermotivierter Dirk Schneider an seinem Arbeitsplatz und wartet auf das Eintreffen seiner Kollegen. Er braucht sie, damit sie bei der Umräumaktion kräftig mit anpacken.

 

Die ersten Telefone klingeln, noch sind nicht alle da, und Dirk jagt von Apparat zu Apparat. Allmählich trudeln auch die Letzten ein, nehmen sich erst einmal eine Tasse Kaffee und erzählen, was gestern „so abging“. Im Grunde ein Arbeitsbeginn wie jeden Tag. Dirk kann es nicht fassen. Wenn einer unpünktlich kommt, müssen die anderen das ausbaden – so hat er das bis gestern noch gar nicht gesehen.

Er nimmt sich den letzten „Zuspätkommer“ gründlich zur Brust. Er hat jetzt hier die Verantwortung und kann diesen Schlendrian nicht gutheißen. Und wo er gerade dabei ist, erklärt er allen ohne Umschweife, dass Zuspätkommen nicht mehr toleriert werde, und falls diese Warnung nicht genüge, würde er auch vor einer Abmahnung nicht zurückschrecken.

„So, nun lasst uns aber in die Hände spucken und meinen Schreibtisch dort in die Ecke stellen. Fasst mal mit an. Nein Boris, dein Schreibtisch bleibt da stehen, ich stell meinen dazu, mehr Verantwortung – mehr Platz, ha, ha, ha. Ja Boris, du teilst dir den Platz mit Biggi, der war für eine so zarte Person sowieso zu groß, ha, ha, ha.“

Außer bei Dirk Schneider ist nirgends Heiterkeit zu spüren. Unverdrossen räumt er ein, aus und um. Nach Vollendung seines Werkes betrachtet er seine Arbeitsstätte voller Bewunderung, ist sie doch jetzt viel größer – so hat auch mal ein Besucher Platz, hier kann er in Ruhe Mitarbeitergespräche führen, die wahrlich nicht für alle Ohren bestimmt sind.

So, jetzt gleich die andere Neuerung bekannt geben, der frische Schwung muss ausgenutzt werden. „Hört mal alle her – was haltet ihr davon, wenn wir uns am Telefon in Zukunft mit dem Satz „Was kann ich für Sie tun?“ melden? Klingt flotter, freundlicher und aufmerksamer. Außerdem habe ich mir überlegt, dass wir die Gleitzeit ändern, die Kernzeiten sind jetzt ... “ Lähmende Stille, null Reaktion!

Jetzt merkt auch der übermotivierte Dirk Schneider, dass etwas nicht stimmt. Sein Schwung und Elan sind auf blanke Ablehnung gestoßen. Selbst bei seinem besten Freund entdeckt er nur Widerstand in der Mimik. Er kann sich das befremdliche Verhalten seiner Mitarbeiter nicht erklären. Als er noch „einer von ihnen“ war, hatte sich die Gruppe vorgenommen, im kommenden Jahr das „Spitzenteam“ zu werden. Wo ist jetzt die Motivation? Er war sich sicher, die Gruppe auf seiner Seite zu haben – und jetzt das!

Wichtig: Den Rollentausch realisieren

Halten wir hier die Szene an. Was ist passiert?

Nichts Greifbares und doch etwas ganz Wesentliches! Die Distanz zu seinen früheren Kollegen hat sich verändert. Ob Dirk Schneider es wahrhaben will oder nicht, er ist nicht mehr „einer von ihnen“.

Obwohl seitens seiner Kollegen hohe Erwartungen in Richtung Interessenvertretung an ihn gerichtet werden, entsteht gleichzeitig ein gesundes Misstrauen. Denn naturgemäß vertritt er zukünftig auch die Interessen der Geschäftsleitung und wird somit zum „Geheimnisträger“. Er kann deshalb gar nicht mehr (wie früher) zur Gruppe gehören.

Lösungsansatz

Lösung: Neuerungen nicht übers Knie brechen

Im Grunde kann Dirk Scheider schon auf die Loyalität seiner Mitarbeiter zählen, nur darf er das „Rad nicht sofort anhalten“. Er muss sich und der Gruppe erst die Möglichkeit geben, sich an den Rollentausch zu gewöhnen. Das heißt im Klartext: zunächst das „Wesentliche“ ein Weilchen beim Alten lassen, das Vertrauen der Gruppe unter den veränderten Vorzeichen gewinnen und erst dann gemeinsam an der Erreichung neuer Ziele arbeiten. Zum Beispiel den neuen Telefonspruch „Was kann ich für Sie tun?“ nicht als rhetorische Frage in den Raum stellen, sondern auch die Vorschläge aus der Gruppe berücksichtigen.

Wenn Dirk Schneider dann spürt (auch hier ist Einfühlungsvermögen gefragt), dass sich das Klima normalisiert und eventuell aufgewirbelter Staub sich wieder gesetzt hat, dann kann er gemeinsam mit der Gruppe Neuerungen einführen.

Jeder Mensch führt grundsätzlich lieber seine eigenen Ideen aus als solche, die ihm „aufs Auge gedrückt“ werden!