Buch lesen: «Der Tote vom Oberhaus»

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Von Dagmar Isabell Schmidbauer

Der Tote vom Oberhaus

Kriminalroman

Imprint

Der Tote vom Oberhaus

Dagmar Isabell Schmidbauer

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2012 Dagmar Isabell Schmidbauer

www.der-passau-krimi.de Konvertierung: Sabine Abels | www.e-book-erstellung.de

Prolog

Nach dem Tod der geliebten Großmutter hatte Sunny das kleine Häuschen am Anger kaum verändert. Es gab ihr das Gefühl von Geborgenheit und Liebe. Gefühle, die nur in ihrer Erinnerung existierten. Nach Jahren des Schmerzes symbolisierte die hölzerne Eingangstür mit ihrem blauen Farbanstrich, der an vielen Stellen bereits abblätterte, das Versprechen auf ein besseres Leben. Daran konnte nicht einmal die Feuchtigkeit, die von der Donau heraufstieg, um sich in allen Winkeln des Hauses auszubreiten und die verblichenen Tapeten von den Wänden zu lösen, etwas ändern. Sie hätte mehr aus dem Häuschen und seiner wunderbaren Lage, mit Blick direkt auf den Fluss und allem, was sich darauf bewegte, machen können. Aber für Sunny war es gut, so wie es war.

Ihr reichte der wackelige Küchenstuhl, auf dem sie saß, während sie mit den Händen zärtlich über ihren runden Bauch streichelte. Sie mochte es, wenn er sich soweit vorwölbte, und genoss es immer wieder, wenn die winzigen Fäustchen in ihrem Inneren sanft gegen die Bauchdecke drückten und die kleinen Füßchen strampelten, als könnten sie das Leben kaum erwarten. Beinahe schade, dass es schon bald vorbei sein sollte.

Während an diesem kalten Februartag im Garten der Schnee von einem eisigen Wind erfasst und durch die Luft gewirbelt wurde, sah sie sich in der aus Kindertagen vertrauten Küche um. Auf dem Tisch standen noch die Cornflakesschüsseln und die halb vollen Kakaobecher ihrer Kinder, an ihrer eigenen Tasse hatte sie bisher nur genippt. Die letzte Nacht sei die kälteste in diesem Jahr gewesen, hatte der Nachrichtensprecher am Morgen verkündet, und Sunny hatte sich gefragt, wie er das hatte wissen können. Schließlich war der Winter ja noch nicht vorbei, und man konnte den bevorstehenden Frühling wirklich nur erahnen. Dabei liebte Sunny nichts so sehr wie den Sommer und die Zeit, die sie mit ihren Buben im Garten verbringen konnte. Die Kinder spielten auf der alten verrosteten Schaukel oder in dem kleinen Sandkasten, in dem sie ständig alle möglichen Schätze fanden, während sie selbst zwischen Gemüse und Kräutern nach Unkraut suchte.

Über ihr Gesicht huschte ein zufriedenes Lächeln. Es gab nichts Wichtigeres in ihrem Leben. Das dachte sie jeden Abend, wenn sie im Kinderzimmer stand, die Kleinen im Schlaf betrachtete und den unschuldigen Geruch einer glücklichen Kindheit einatmete. Einer Kindheit, die sie nie erlebt hatte. Sunny hatte nicht viel zum Leben, aber ihr größter Reichtum war ohnehin das fröhliche Lachen, das schon am Morgen durch das kleine Häuschen schallte, und auch die vielen Fragen, die ihre Kinder an sie und das Leben stellten.

Sie bemühte sich, nicht an die Vergangenheit zu denken, und doch lag sie wie ein dunkler Schatten über ihrem Leben. Was passiert war, kam Sunny wie ein Film vor, der immer wieder zurückgespult und abgespielt wurde, und den sie einfach nicht löschen konnte.

Für einen Moment schloss sie die Augen. Ihre Wünsche waren so einfach, kitschig, rosarot. Nur hin und wieder erlaubte sie sich, an diesen Traum zu denken. Er war wie eine Droge: ohne Gestern, ohne Gewalt und ohne Schuld. Und während ihre Hände weiterhin beschützend auf ihrem Bauch lagen, begann Sunny zufrieden zu lächeln. Sie musste sich beruhigen – und das Kind. Sie musste ihm sagen, dass sie beide nichts dafür konnten.

Aber ihr fehlten die Worte, die ihr ungeborenes Kind glauben konnte. Ihr fehlten die Worte, die es am Ende verzeihen ließ.

Urplötzlich erstarb ihr Lächeln.

Die Wehen kamen jetzt alle drei Minuten.

Und sie taten weh. Sehr weh!

Doch letztlich war der Schmerz, der gerade so heftig ihren Bauch durchzuckte, nichts. Viel schlimmer waren das Gefühl der Hilflosigkeit und die Angst, ob sie es am Ende wirklich schaffen würde.

Dann, wenn es kein Zurück mehr gab.

Sunny begann, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren. Sie hatte gelernt, richtig zu atmen, und sie wusste, dass es ihr helfen würde. Zumindest gegen den Schmerz, den sie gerade fühlte. Tief und immer tiefer einatmen. Den Bauch ganz groß aufblasen. Den Schmerz von ihrem Ungeborenen wegführen, um ihm zu zeigen, dass sie es ihm leicht machen wollte.

Doch gegen ihre Angst half das alles wenig.

Als die Wehen ihr eine kurze Pause gönnten, erhob sich Sunny schwerfällig von ihrem Stuhl. Sie hatte noch so viel zu erledigen, und doch war sie froh, dass es so schnell voranging. Bis die nächste Wehe kam, blieben ihr nicht mehr als zwei Minuten. Entschlossen schob sie den Stuhl an seinen Platz.

Dann musste sie sich eben beeilen.

Das Kind kamfrüher als erwartet. Aber was hatte sie denn überhaupt erwartet? Jeden Tag hatte sie gehofft und gebangt. Und jetzt sah es so aus, als ob sie es wirklich geschafft hatte. Aber sie durfte sich nicht zu früh freuen, das Schlimmste lag ja noch vor ihr. Wer wusste schon, was noch passieren würde, nach allem, was sie zugelassen hatte?

Immer wieder …

Mit schweren Schritten schleppte sie sich die Treppe hinauf ins Badezimmer. Im Flur lagen die Schlafanzüge der Kinder, Hausschuhe und Spielsachen.

Es war eine schwere Entscheidung, aber sie hatte keine andere Wahl.

Schwerfällig sammelte sie die Wäsche ein und schob die Schuhe zur Seite.

Als sie sich wieder aufrichtete, spürte sie, dass es ernst wurde. Sunny suchte Halt am Treppengeländer, das unter ihrem Gewicht leise knarzte. Nach vorn gebeugt begann sie einzuatmen. Tief und immer tiefer, bis es nicht mehr ging. Sie musste die Luft wieder aus ihren Lungen hinaus lassen und den Schmerz empfangen. Und wirklich, als sie ausatmete,

griff er augenblicklich und grob nach ihrem prallen Leib, als wollte er die Mitte ihres Körpers einfach in zwei Teile reißen. Mühsam unterdrückte sie einen Schrei. Zwar würde sie ohnehin niemand hören, aber Sunny verbot sich diese Schwäche.

Sie hatte noch nie geschrien. Egal, was passiert war.

Als alle Luft aus ihrem Körper gewichen war, begann sie, wieder tief einzuatmen, sog die Luft in ihre Lungen, bis in ihren Bauch, bis sie meinte, sie müsste zerplatzen. Sie hielt den Atem an, wollte den Moment hinauszögern. Sie dachte, sie hätte alles im Griff.

Und dann schrie sie doch auf. Vor Schreck, vor Scham und vor Angst. Sie war einfach nicht so stark, wie sie es sich wünschte.

Das Wasser, das plötzlich an ihren Beinen hinunterlief, zeigte ihr, dass die Zeit gekommen war. Sunny betrachtete die kleine Pfütze zu ihren Füßen, sie war hell und klar. Es gab überhaupt keinen Grund zur Sorge.

Wie in Trance riss sie ein paar Handtücher aus dem Regal und zog die nasse Unterhose aus. Dann kniete sie sich hin, und als die nächste Wehe kam, gab sie dem Druck einfach nach, öffnete sich und entließ mit ihrer ganzen Kraft ihr Kind ins Leben.

Als er schließlich vor ihr lag, blutverschmiert und rosig, lächelte sie matt und nahm den Kleinen in ihre Arme. Er war ein bisschen zerknautscht, und die Strapazen der Geburt hatten seinen Gesichtszügen zugesetzt. Trotzdem konnte sie jetzt schon erahnen, wie er später einmal aussehen würde.


Wochen später

Das Gefühl, dass ihm jemand folgte, hatte ihn zum ersten Mal ergriffen, als er den letzten steinernen Torbogen passiert hatte und in den Burghof der Veste Oberhaus schritt. Natürlich war das blanker Unsinn, warum sollte ihn ausgerechnet hier jemand verfolgen? Und wenn doch, dann hätte er es sicher nicht bemerkt, schließlich wuselten hier oben, auf dem Oberhausberg, Hunderte von Menschen herum. Es war Mitte Juni, und um diese Jahreszeit war die Stadt voller Touristen. Die meisten Besucher, die auf die Burg kamen und in die Welt der Fürstbischöfe eintauchten, wollten in die Vergangenheit reisen, dem Mythos Mittelalter und allem, was davor und danach kam, begegnen. Natürlich gab es auch einige, die einfach nur einen besonders schönen Blick auf die Stadt werfen wollten. Doch die meisten, ob bewusst oder unbewusst, wollten von den Vorfahren lernen, um es in der Gegenwart vielleicht ein bisschen besser zu machen.

Auch Xaver Mautzenbacher suchte nach der Vergangenheit, oder besser gesagt: Sie suchte ihn.

Typisch für ihn war allerdings, dass er nichts davon ahnte. Vielleicht wollte er aber auch gar nicht begreifen, was er falsch gemacht hatte und warum er dafür leiden würde.

Es war früher Montagnachmittag. Mautzenbacher hatte eine Verabredung. Es ging um eine Angelegenheit, für die ihm dieser Ort hoch über der Stadt Passau zwar geeignet, aber höchst ungewöhnlich schien. In der Regel lag es an ihm, den richtigen Treffpunkt auszuwählen, aber in diesem Fall hatte er nicht kleinlich sein wollen.

Es stand zu viel auf dem Spiel.

Während er über den mit Kies bedeckten Hof schritt, warf er einen raschen Blick auf seine Uhr. Es war erst kurz vor zwei. Bis zu seiner Verabredung um drei hatte er noch viel Zeit. Er würde sich in aller Ruhe umsehen können.

Doch als er die Tür zum Empfang öffnete, sah er im Spiegel des Glases ein bekanntes Gesicht und wusste endlich, warum er das Gefühl, verfolgt zu werden, die ganze Zeit über nicht hatte abschütteln können.

Er löste sein Eintrittsticket, erkundigte sich nach dem Weg zum Rittersaal und stieg dann die Treppe hinauf. Mautzenbacher hatte nicht vor, sich die ganze Ausstellung anzusehen, es genügte, wenn er in der Mitte begann. Im ersten Stock angekommen wandte er sich nach links und blieb vor einer Installation stehen, die wiedergab, wie Passau und sein regierender Fürstbischof infolge der Napoleonischen Kriege ihre Selbstständigkeit verloren hatten und fortan zu Bayern gehörten. Im Grunde interessierte ihn das alles nicht. Er war ein Mann, dem es auf andere Sachen ankam. Wissen bedeutete für ihn nicht, die geschichtlichen Zahlen einer Stadt zu kennen. Er wollte nur sicher sein, dass ihn sein Verfolger nicht aus den Augen verlor.

Nichts liebte Mautzenbacher so sehr wie das Spiel, welches er in diesem Moment zu spielen begann. Es begeisterte ihn, dass ihn jemand beschattete – nein: Es erregte ihn. Er genoss, dass er sowohl den Weg als auch das Ziel selbst bestimmte. Er war Herr der Lage, der Gejagte, der zum Jäger wurde. Er fühlte sich nie besser als in diesen Situationen. Und er freute sich schon jetzt auf den Augenblick, in dem sein Verfolger bemerkte, dass er zum Opfer geworden war. So betrachtet waren die Ausstellungsräume also Nebensache. Für Mautzenbacher ging es ausschließlich darum, seinen Verfolger, ohne dass dieser es merkte, hinter sich herzulocken und den geeignetsten Ort für sein Vorhaben zu finden.

Er schlenderte durch den Arkadengang hinein in den Raum mit dem Wohnturm und den Werkzeugen vergangener Zeiten, durch die Kältekammer, die für seine Zwecke leider nicht infrage kam, und durch alle möglichen bunten Aufbauten. Schließlich erreichte er schon den Burghof und hatte noch immer nicht gefunden, was er suchte. Doch dann, er sah das Gesicht

seines Verfolgers schon erhitzt um die Ecke schauen, entdeckte er die Glastür, die ihn in den Fürstenkeller führte.

Dort, wo niemand die Schreie hören würde.

Durch die vergitterten Fenster wurde der Raum nur spärlich ausgeleuchtet, und seine Augen mussten sich erst an das Zwielicht gewöhnen. Doch rasch erkannte er, welch gute Wahler getroffen hatte. Mit zwei schnellen Schritten verschwand er hinter der Tür, in voller Spannung auf den nächsten Moment. Nicht einmal sein Atem hatte sich beschleunigt. Er war ein Mann, der Überraschungen liebte. Natürlich nur, wenn er sie selbst bestimmte, wenn seinem Gegenüber der Schock in die Glieder fuhr.

Schreckensschreie liebte er über alles.

Zögernd, wie nur ängstliche Menschen gehen, wenn sie nicht wissen, was auf sie zukommt, kamen die Schritte näher und tasteten sich schließlich in den Raum hinein. Xaver Mautzenbacher erwartete jeden Moment ein schüchternes „Hallo? Ist da jemand?“.

Als sein Verfolger den Raumbetreten hatte, schloss Mautzenbacher leise die Tür und baute sich in voller Körpergröße vor dem einzigen Fluchtweg auf. Dann begrüßte er seinen Gast, und als er den unterdrückten Schrei vernahm, begann sein ganzer Körper vor Erregung zu kribbeln.

Er musste lächeln. Ach, war das schön, wenn man sich auf etwas freuen konnte!

Zufrieden beobachtete er das Zurückweichen seines Verfolgers, und mit Genugtuung setzte er sich Schritt für Schritt in Bewegung, vorwärts, direkt auf seinen verängstigen Gast zu. Jetzt. Jetzt war es gleich so weit.


Andächtig beugte sich Samantha Halmgaard über ihre fast fertige Skizze und erschrak, als die alte Uhr, die neben dem Fenster hing, zur vollen Stunde schlug. Sie hatte sich von ihren Ideen in andere Welten tragen lassen und dabei vollkommen die Zeit vergessen. Hastig schob sie die Papiere zusammen und legte sie in eine Arbeitsmappe. Dann streckte sie sich, schob den schweren Stuhl zurück und stand auf. Dabei fiel ihr Blick erneut auf die Mappe, und ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Es war der Entwurf für eine Installation zur Kaiserhochzeit von Leopold I. und Eleonore von Pfalz-Neuburg. Nachdem das Museum dieses Jahr an den großen Stadtbrand von 1662 erinnert hatte, wollte Samantha als Nächstes das zweite große Ereignis, das Passau berühmt gemacht hatte, in den Mittelpunkt der Dauerausstellung rücken.

Neues zu ersinnen und Visionen in die Tat umzusetzen, das war es, was ihren Beruf als Direktorin des Oberhausmuseums für sie so einzigartig machte. In ihrer Fantasie war alles möglich. Sie konnte Pläne schmieden, ohne zu fragen, ob sie sich später wirklich realisieren ließen. Damit musste sie sich erst herumschlagen, wenn es ums leidige Geld ging.

Wenn sie mitten in den Planungen steckte, war ihr alles andere lästig. Jeder Anruf, jede Störung. Und so war sie durchaus froh darüber, dass ein überraschender Besucher, der sich für die Mittagszeit angekündigt hatte, nicht gekommen war.

Natürlich sprach sie wie alle Künstler gern über ihre Arbeit, und im Grunde liebte sie Abwechslung und kleine Überraschungen. Aber sie hatte gelernt, Privatangelegenheiten außerhalb des Museums zu lassen. Da war sie sehr streng mit sich, und letztlich hatte sich das ausgezahlt.

Mit einem wohligen Stöhnen dehnte sie ihre verspannten Muskeln und gähnte herzhaft. Seit drei Jahren war sie hier die Museumsdirektorin, und seither hatte sie nicht nur ihren Kleidungsstil verändert. Als sie ihren Kopf in den Nacken legte, wanderte ihr Blick über die hohe Decke und an den Wänden ihres großzügigen Büros entlang. Es war ein wunderschöner Raum, alt und geschichtsträchtig, untergebracht im ehemaligen Gästehaus – was von Unkundigen oft mit einem Lächeln quittiert wurde. Von einem der Fenster aus konnte man über ganz Passau blicken. Genau so wie einst die regierenden Fürstbischöfe.

Die zierliche Frau fuhr zusammen. Sie sah zur alten Biedermeieruhr, und erkannte erschrocken, dass es bereits kurz vor halb fünf war. In Kürze schloss das Museum, und sie wollte unbedingt noch eine Runde durch die Ausstellungsräume drehen und sich bei dieser Gelegenheit den ausgeräumten Raum im Fürstenkeller ansehen. Sie hatte es versprochen und es dann beinahe vergessen, vor lauter Kaiser Leopold I. und seiner jungen Frau, Eleonore Magdalena Theresia.

Samantha Halmgaard lächelte. Sie hatte viel vor mit den beiden. Kaiserglanz stand hoch im Kurs bei den Besuchern, und wenn Passau schon etwas so Einzigartiges zu bieten hatte, was ja letztlich auch nur dem besonderen Vertrauensverhältnis zu Fürstbischof Sebastian von Pötting geschuldet war, dann durfte sie diesem Umstand ruhig in einer Ausstellung huldigen.

Nur unwillig löste sie sich von ihren Plänen, holte den Schlüssel aus der Schublade ihres Schreibtisches und verließ das Büro. Sie schenkte sich den ganzen Rundgang durch die Ausstellung und überquerte den Hof, um in den gegenüberliegenden Keller hinunterzusteigen. Im Vorbeigehen grüßte sie wie immer die Bruderschaft der Salzhändler, zog den Kopf ein, als sie die fünf Stufen hinunterging, wandte sich nach links und studierte kurz den Zettel, der an der Tür angebracht worden war und darauf hinwies, dass hier umgebaut wurde. Dann streckte sie die Hand aus, um die Tür zu öffnen – doch im selben Moment fiel ihr Blick auf den Spalt unter der Tür. Verärgert bückte sie sich. Verdammt, was war denn das wieder? Warum begriffen manche Leute nicht, dass es Dinge gab, die so alt waren, dass man sie einfach schützen musste!


Kriminalhauptkommissar Schneidlinger saß an seinem Schreibtisch und massierte sich mit zwei Fingern die Nasenwurzel. Das konzentrierte Lesen von Akten strengte ihn zunehmend an, und der Stapel vor ihm auf dem Schreibtisch verriet, dass Schneidlinger damit so schnell noch nicht fertig sein würde. Dabei konnte er sich noch nicht einmal bei jemandem beschweren. Josef Schneidlinger war der neue Chef im K1, zuständig für Kapitalverbrechen: Mord und Totschlag. Vier Wochen war es her, dass man ihn ins neue Amt eingeführt hatte, und doch war ihm das Bild vor dem Fenster seines Büros noch immer fremd.

Darum hatte er am frühen Nachmittag jeden, der nicht zwingend im Dezernat gebraucht wurde, nach Hause geschickt. „Zeit um Überstunden abzubauen!“, hatte er gesagt und auf seine ganz eigene Art gelächelt, denn das war natürlich nicht der wirkliche Grund.

Er brauchte endlich eine Gelegenheit, um sich einzugewöhnen. Er wollte wissen, wie die neuen Kollegen tickten, und er hatte keine Lust, mit jedem deswegen erst einmal einen trinken zu gehen!

In den ersten Tagen hatte man ihn herumgereicht, hatte von ihm wissen wollen, wie er seinen Job in der Mordkommission angehen wolle und, ja, man hatte ihn sogar gefragt, was ihm eigentlich die Ehre verschaffte, den alten Chef zu beerben. Natürlich waren diese Fragen durchaus berechtigt, zumindest aus Sicht der Kollegen. Denn Schneidlinger war in Passau ein unbeschriebenes Blatt, und alles, was man von ihm wusste, war, dass er verheiratet war, vier Kinder hatte und zurzeit wieder auf dem großen Bauernhof im Rottal lebte, auf dem er geboren worden war. Hinzu kam seine Leidenschaft für seinen Porsche Boxster, den er sommers wie winters fuhr.

In München hatte er sich den respektablen Ruf erarbeitet, ein harter Hund zu sein. Einer, der nicht nur seine Nase überall hineinsteckte, sondern, wenn es sein musste, auch tief graben konnte. Diese Eigenschaft und ein effektives Netzwerk wollte er jetzt einsetzen, um seine Position in Passau zu stärken, um zu beweisen, dass er die richtige Wahl für den freien Posten gewesen war.

Daher hatte er in den vergangenen Tagen, wann immer es seine Zeit erlaubte und er sich unbeobachtet fühlte, die alten Fälle gewälzt. Akten, die ihn Tag für Tag mehr gelangweilt hatten, bis er, vor zwei Stunden, auf den Fall der getöteten Sopranistin Sophia Weberknecht gestoßen war. Sofort hatte er erkannt, dass hier etwas nicht stimmte.

Sein Vorgänger, Kriminalhauptkommissar Berthold Brauser, hatte die junge Frau schon vor ihrem Tod gekannt und sich heimlich mit ihr getroffen. Natürlich stand das nicht so direkt in den Akten, und Brauser selbst war inzwischen in Pension und konnte zum derzeitigen Stand der Recherche nicht dazu befragt werden. Fest stand aber: Nachdem die junge Frau tot aufgefunden worden war, hatte Brauser den Fall an seine jungen Kollegen abgegeben.

Allerdings nicht, und das ging aus den Akten eindeutig hervor, aus Befangenheit, sondern weil er sich in Kombination mit dem zum damaligen Zeitpunkt ebenfalls ungeklärten Mord an Klaus Wallenstein überfordert gefühlt hatte.

Während Schneidlinger die Zusammenhänge erfasste, stellten sich ihm die Nackenhaare auf – ein sicheres Vorzeichen für eine neue Fährte. Solchen Märchen hatte er noch nie Glauben geschenkt. Dafür hatte er selbst schon zu viel erlebt, und als er weiterlas, huschte ein kaum wahrnehmbares sardonisches Lächeln über sein Gesicht. Das also war das Geheimnis, das die Kollegen mit sich herumtrugen!

Jetzt war er nicht mehr zu halten. Seite für Seite las er die Berichte und fand schließlich den Hinweis auf eine Tonaufnahme, in welcher der Dreifachmörder Joachim Herlau den Kollegen Brauser des Mordes an Sophia Weberknecht bezichtigte.

Schneidlinger lächelte zufrieden, um im nächsten Moment irritiert festzustellen, dass dieses Band auf geheimnisvolle Weise verschwunden und Joachim Herlau tot war, und seine Beschuldigung somit auch nicht mehr wiederholen konnte.

Energisch klappte der Hauptkommissar die Akten zu und schob sie auf seinem Schreibtisch zusammen. Schluss für heute, dachte er und schüttelte über sich selbst den Kopf.

„Man könnte meinen, du hast nichts Besseres zu tun“, lästerte er über seine eigene Beflissenheit und griff nach seinem Handy. Schon als er dem Freizeichen lauschte, entspannten sich seine Züge, und als er die vertraute Stimme hörte, breitete sich ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht aus.

„Hallo Paulina, hier ist Josef!“


€8,99

Genres und Tags

Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
405 S. 10 Illustrationen
ISBN:
9783745015089
Verleger:
Rechteinhaber:
Bookwire
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