Schöner sterben in Wien

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Schöner sterben in Wien
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Dagmar Hager



Schöner sterben in Wien



Kriminalroman









Impressum



Personen und Handlung sind frei erfunden.



Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen



sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.



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Alle Rechte vorbehalten



Lektorat: Teresa Storkenmaier



Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht



Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart



unter Verwendung eines Fotos von: © aleksandr khomenko /

unsplash.com



ISBN 978-3-8392-6984-8




Widmung



Für dich, Papili




PROLOG



Sie war ein Monster.



Die Haut aufgequollen, übersät mit Quaddeln, entzündet und vernarbt, der Kopf im Verhältnis zum Körper riesig. Die Wangen blähten sich, die Augen tränten ununterbrochen. Da, wo sich einst ihr Hals befunden hatte, rollten sich Fleischwülste. Der Arzt meinte, sie sei für immer entstellt.



Sie hätte sich das billige Silikon vom Schwarzmarkt nicht selbst ins Gesicht injizieren sollen. Und schon gar nicht das viele Speiseöl. Aber sie hatte doch keine Wahl gehabt! Man hatte sich geweigert, ihr noch einmal zu helfen. Sie solle lieber zum Psychiater gehen, anstatt sich erneut unters Messer zu legen. Außerdem sei die Haut bereits maximal ausgedehnt, nahe am Platzen.



Also hatte sie sich selbst behandelt. Es war gar nicht so schwierig gewesen, das Silikon aufzutreiben. Viel mehr Probleme hatte es ihr bereitet, vor dem Spiegel mit der Nadel die richtigen Stellen zu treffen. Und als sie feststellte, dass das Zeug nicht ausreichen würde, füllte sie kurzerhand die noch übrigen Stellen mit Speiseöl auf. Im Internet hatte gestanden, es würde funktionieren.



Hatte es aber nicht. Sofort war ihr Gesicht angeschwollen, die Schmerzen hatten begonnen und waren schlimmer und schlimmer geworden.



Sie wollte doch nur schön sein!



Mit 18 hatte sie ihre Brüste machen lassen und mit Botox und Säurepeelings angefangen. Dazu kamen Fettabsaugungen, Laserbehandlungen, aufgespritzte Lippen. Aber das hatte noch lange nicht gereicht. Sie gierte nach mehr, das änderte sich auch nach den richtig heftigen Operationen nicht. Jetzt allerdings, Jahrzehnte später, hatte sich das Blatt gewendet. Aus dem Spiegel blickte ihr ein aufgedunsener Fleischklumpen entgegen. Unwiderruflich verstümmelt und von allen entsorgt.



Sie ging kaum noch vor die Tür. Die Kinder vom Hof waren unbarmherzig, riefen ihr böse Dinge nach. »Gulaschgesicht! Netzhautpeitsche! Hackfresse!« Außerdem musste sie starke Schmerzmittel schlucken, die sie müde und unaufmerksam machten, weshalb sie zuletzt nach dem Einkaufen den Haufen Kot vor ihrer Tür nicht gesehen hatte und hineingetreten war. Direkt vor den Handykameras einiger grölender 14-Jähriger, die das Video umgehend ins Netz gestellt hatten. Unauslöschlich und viel geklickt.



Heute war sie allerdings nicht nur wegen ihrer hässlichen Fratze und der Beschwerden niedergeschlagen, denn heute hatte sie wieder ihren Termin mit den Schatten aus der Vergangenheit.



Es läutete.



Niemand kam sie je besuchen. Gewiss waren es nur wieder die herzlosen Gören, die eine Fortsetzung ihrer Grausamkeiten für YouTube drehen wollten. Aufseufzend schnitt sie noch mehr Karotten klein.



Erneutes Klingeln.



Sie legte das Messer zur Seite, zögerte, näherte sich der Wohnungstür und lugte, nun doch ein wenig neugierig, durch den Spion.



Erschrak furchtbar.



Brauchte ein paar Sekunden, um sich zu fangen.



Und wusste: Nichts würde mehr so sein wie zuvor.




1

LILLY

Wien, Mittwoch



Mein Grab.



Es war schlicht, eine grasbewachsene Fläche mit ein paar Vergissmeinnicht darauf und einem Findling am Fußende. Keine Kerzen. Keine Einfassung. Kein Name. Eine Wand aus mannshohen Thujen rahmte es ein.



Ich kam gerne hierher an den nördlichen Stadtrand von Wien. Die unzähligen Bäume und vor allem die Einsamkeit beruhigten mich, halfen mir beim Grübeln und Nachdenken über meine furchtbaren Fehler.



Heute war wieder einer dieser Tage. Prinzipiell ein wunderbar sonniger Juli-Mittwoch. Pure Idylle. Wie üblich zeigte sich keine Menschenseele – der Hauptgrund dafür, mir diesen Friedhof auszusuchen.



Doch die zauberhafte Stimmung prallte an mir ab.



Wie so vieles.



Mein Grab war bisher das einzige in diesem Bereich des Gottesackers. Es lag direkt an einer hohen Steinmauer, in die eine eiserne Pforte eingelassen war. Wer hindurchschritt, traf auf einen schmalen Pfad, der 30 Meter weiter in einer Sackgasse endete, in der stets mein Auto parkte. So konnte ich ungesehen und auf kürzestem Weg hierhergelangen. Und ich kam oft. Um ehrlich zu sein, fast täglich.



Über ein Jahr lang hatte ich gesucht, bis ich diesen Ort gefunden hatte – die für meinen Zweck perfekteste der über 600.000 Wiener Grabstellen. Die Fläche war frisch parzelliert worden. Ich hatte das Nutzungsrecht für zehn Jahre bezahlt und bei der Friedhofsverwaltung den Hinweis, auf jeden Fall verlängern zu wollen, deponiert. Was allerdings nichts hieß. Wer in Wien auf den fristgerechten Antrag vergaß, dem konnte blühen, dass das Grab plötzlich verschwunden war.



Ich würde also gut aufpassen.



Nachdenklich nahm ich eine Handvoll Erde, ließ sie durch meine Finger rieseln und rief mir die Heidenarbeit in Erinnerung, die trotz der lockeren Erde nach einigen Regentagen nötig gewesen war, um die flache Grube auszuheben. Alles natürlich möglichst unauffällig. Die ganze Zeit über waren die vielen Vergissmeinnicht fröhlich vor sich hingewelkt. Ein riesiger Rollwagen voll, zur Tarnung.



Als alles fertig war, hatte ich die Blumen ab- und Georg aufgeladen, nachdem ich ihn zuvor, gut versteckt unter den Thujen, hierhergeschleppt hatte – verpackt in einen extra reißfesten, glänzend schwarzen Plastiksack.



Zum Schluss musste ich nur noch den Findling aus dem Kofferraum rollen. Weil er so schwer war, konnte ich nicht genau zielen, sodass er knirschend auf Georgs Unterschenkeln landete, gefolgt von meinem Frühstück Sekunden später. Entsetzt starrte ich auf meine nun vollgekotzte Grabdekoration. Aber ich hatte Glück. Niemand schien etwas bemerkt zu haben, niemandem musste ich vorlügen, lediglich die noch leere Gedenkstätte verschönern zu wollen. Mit den Blumen. Den Sträuchern. Und dem Stein.



Als es mir etwas besser ging, hatte ich eine Trauerfeier im intimsten Kreis abgehalten und geflüstert: »So, mein Geliebter, fast zwei Jahre lang musstest du in meiner Gefriertruhe im Keller ausharren, jetzt bist du angekommen! Ruhe sanft!«



Das Grab war also schon besetzt. Mein verstorbener Mann hatte darin seine voraussichtlich letzte Ruhestätte gefunden. Es sei denn, man würde noch vor meiner eigenen Beerdigung herausfinden, was ich getan hatte.



Ich war alles andere als ein netter Mensch.



Hatte getötet.



Eine Verkettung unglücklicher Umstände und ein Unfall hatten dazu geführt. An den irreversiblen Tatsachen änderte es nichts.



Ich hatte mich in einen Mann verliebt, den alle wollten, und das Pech gehabt, ihn auch zu bekommen. Ihn, den aufstrebenden Schauspieler voller Ehrgeiz und dunkler Geheimnisse, den Ex-Callboy mit kaputter Seele. Von Anfang an belog und betrog er mich, war verschlossen, verletzend, zerstörend.



Was mich nicht daran hinderte, ihn zu heiraten.



Danach wurde es noch schlimmer. Nach nicht einmal zwei Jahren hatte ich jegliches Vertrauen verloren. Unsere Beziehung war eine nach außen perfekte Hülle, doch die seltsamen Ereignisse häuften sich und ich begann mich vor Georg zu fürchten. Ich sah mich in meiner Angst bestätigt, als mich direkt vor meinem Haus ein Auto niederstieß und einfach weiterfuhr. Der Fahrer – ich erkannte es genau: Georg!



Was hätte ich tun sollen, als er mich um eine finale Aussprache in meiner Wohnung bat und mit einer Waffe kam? Mich angriff? Der Elektroschocker war in diesem Augenblick die logische Wahl gewesen. Ich wollte ihn keine Sekunde lang töten, nur überleben! Doch er war einfach nicht mehr aufgestanden, hatte zusammengesunken auf meinen Eichendielen gelegen – mit verwunderten, starren Augen und einem Brief in der Hand – der »Waffe«. Seiner Entschuldigung, seinem klaren Bekenntnis für eine gemeinsame Zukunft ohne Lügen.



Eine Wolke schob sich vor die Sonne. Ich schreckte hoch und sah mich um. Auch das passierte mir immer wieder. Dieser Sog aus Schuld und Hoffnungslosigkeit zerrte so sehr an mir, dass ich darüber meine Umgebung vergaß.



Nach wie vor befand ich mich allein in dieser entlegenen Ecke ohne Schatten. Stöhnend massierte ich meine verkrampften Beine. Hinter der Mauer lachten Kinder. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und stopfte meine langen dunklen Haare unter den riesigen Strohhut. Einen Moment ließ ich mich von den umherschwirrenden Bienen ablenken, dann übermannten mich wieder die düsteren Bilder.

 



»Ich war so dumm, Georg«, flüsterte ich, »und das musstest du mit deinem Leben bezahlen. Wenn ich deine wahren Absichten gekannt hätte, hättest du nicht sterben müssen. So aber dachte ich, du seist mein Ende.«



Ich war barfuß, ertrug keine Schuhe in dieser brütenden Hitze. Die leichten Sandalen standen fein säuberlich neben einer der hässlichen Thujen. Wie oft ich schon hier gesessen hatte, mit Gedanken, die wie Torpedos durch meinen Kopf schossen! Was hätte ich anders machen sollen? Was wäre gewesen, wenn? Und was hatte Georg wirklich umgebracht? Es gab verschiedene Möglichkeiten, jede denkbar, keine bestätigt. Fragen konnte ich ja schlecht. Also reimte ich mir zusammen, dass er wohl so etwas wie eine unentdeckte Herzschwäche gehabt haben musste. In der Regel starb niemand an einem billigen Elektroschocker aus dem Internet.



Doch das, was mich seither verfolgte und an mir klebte wie Leim, waren die Momente danach, diese Augenblicke bar jeglicher Vernunft. Das, was in mir zerbrochen war und mich zu einer Handlung getrieben hatte, die mir aus heutiger Sicht vollkommen unerklärlich erschien.



Anstatt die Polizei zu rufen und alles einzugestehen, den Ermittlungen ihren Lauf zu lassen, herauszufinden, was Georg tatsächlich das Leben gekostet hatte, ihn zu beerdigen und danach mit den Folgen umzugehen, traf ich eine völlig irrationale Entscheidung und versteckte seine Leiche in meiner Kühltruhe. Das Nachdenken kam erst, als es schon längst zu spät war. Jetzt musste ich mit den Konsequenzen der Vertuschung leben, einem Riesenhaufen stinkender Altlasten.



Jeder Blick in den Spiegel zeigte mir den abscheulichen Menschen, der ich war, jeder Tag verhöhnte mich mit schlaflosen Nächten, Albträumen, schlechtem Gewissen und bohrender Sehnsucht. Auch die Einsamkeit war treu. Seit Georgs Tod hatte ich nur eine einzige kurze Affäre gehabt. Es gab nicht viele Menschen, die ich ertrug. Wie denn auch, wo ich mich doch selbst kaum aushielt!



Wie an den anderen Tagen war ich an diesem Tag, dem letzten, bevor sich alles ändern sollte, hierhergekommen, führte meine nun schon gewohnten Selbstgespräche, haderte.



Noch einmal legte ich wehmütig lächelnd die flache Hand auf die Erde. Dann wandte ich mich ab, um mich dem zu stellen, was mein Dasein jetzt bestimmte.



Eine Stunde später war ich wieder zu Hause in meiner kleinen Wohnung direkt gegenüber dem Haus des Meeres im 6. Bezirk.



Ich sah aus dem Fenster. Die Menschenschlange am Einlass des Zoos, der in einem alten Flakturm aus dem Zweiten Weltkrieg untergebracht war, reichte wieder einmal bis auf den Vorplatz. Ein wenig neidisch beobachtete ich die vielen fröhlichen Menschen, die sich auf Haie, Schlangen und die traumhafte Aussicht von ganz oben freuten.



Seufzend holte ich mir ein Glas Wasser aus meiner modernen Designerküche und suchte mein iPad. Es war ungewöhnlich für einen Mittwoch, aber in der Tat wollte heute niemand ins Fernsehen. Morgen stand allerdings eine Spendengala im Rathaus an. Als Chefreporterin für Society-Themen eines nationalen privaten TV-Senders würde ich hingehen. Es handelte sich um eine der etwa 800 Veranstaltungen jährlich im Amtssitz des Wiener Bürgermeisters, und gefühlt war ich, wie auch er, bei mindestens der Hälfte dabei.



Seit Georgs Tod hatte ich mich – wenig verwunderlich – noch mehr in die Arbeit gestürzt. Sie war so schön hohl und damit die perfekte Ablenkung. Unser Team war klein, ich konnte mich also austoben, hätte jeden Tag zweimal auf Dreh fahren können. Mein Chef liebte mich für so viel Einsatzbereitschaft.



Die innere Unruhe fraß mich auf. Heute war Georg präsenter denn je und schlich sich in jeden meiner Gedanken. Ich brauchte Aufmunterung. Was immer half: eine Runde Laufen. Also holte ich mein Auto aus der Tiefgarage und fuhr in den Park des Schlosses Schönbrunn. Auch hier traf ich auf jede Menge sorglose Familien, viele mit Kindern, die zielstrebig auf den Zoo zuströmten und damit auf die Tierbabys, die er um diese Jahreszeit beherbergte.



Eine Stunde später war ich ausgepowert, aber immer noch zappelig. Mittlerweile war es später Nachmittag. Ich hatte keine Lust auf meine kleine Wohnung, deshalb setzte ich mich, verschwitzt, wie ich war, in einen Gastgarten und bestellte ein Bier. Lautes Lachen umgab mich. Ich war umringt von ausgelassenen Menschen, die ihren Feierabend und ihre Gesellschaft genossen, und fühlte mich wie ein Alien.



Irgendetwas musste passieren. So konnte ich nicht weitermachen. Dieser Klotz, der sich Herz nannte, schrie nach Leben, Freude, Spaß, Erleichterung. Doch die Kralle, die ihn seit Georgs Tod umklammert hielt, ließ es nicht zu. Ich steckte fest in einer Senkgrube aus Erinnerungen.



Die Frau war nackt.



Es war ihr Job, aber wie viele der Anwesenden empfand ich es trotzdem als unpassend, befanden wir uns doch im Wiener Rathaus, einem altehrwürdigen Ringstraßenbau. In dem hatte zwar auch Europas freizügigste Aids-Gala, der Life Ball, stattgefunden, aber der Event heute war eine andere Liga.



Benefiz. High Class. Teuer. Gut betuchte Gäste. Aufwendigste Deko.



Auch wenn die Frau für den Klimaschutz kämpfte, hätte ihr etwas mehr Kleid gutgetan. Es ließ kaum Interpretationsspielraum. Gut gemachte Brüste trafen ungebremst auf frische Luft, 400 Milliliter pro Implantat, grob geschätzt. Dennoch war es für das Weltklima wohl hilfreicher, an Kohlendioxidemissionen zu sparen als an Stoff.



Soeben hatte ich also ein waschechtes amerikanisches Supermodel vor der Kamera. Blutjung, mit dezent aufgespritzten Lippen und 50 Kilo Lebendgewicht, verteilt auf einen Meter 80. Die Veranstalter hatten sie wegen der weltweiten PR extra aus Los Angeles eingeflogen. Im Privatjet übrigens, was ich in meinem Beitrag sicherlich erwähnen würde. Als trüge der Stargast einer Demonstration gegen Tierversuche einen Pelzmantel.



Aber bitte. So wie die Kollegen drängelten, war das Kalkül aufgegangen und der Gala jede Menge Aufmerksamkeit gewiss, weit über unsere kleinen österreichischen Grenzen hinaus. Die deutschen Kollegen hatten das Material bereits angefragt.



Das Mädel setzte einen ihrer zwei möglichen Gesichtsausdrücke auf: den gelangweilten. Ich war selbst eine attraktive Frau, vielleicht deshalb. Neben mir drängte sich der etwas abgehalfterte Kollege eines Konkurrenzsenders ins Bild und ich wurde Zeugin, wie Gesichtsausdruck Nummer zwei zum Zug kam: mäßiges Interesse. Ich hatte sie noch nie lächeln sehen, schob es aber, bei ihrem Nettoverdienst, nicht unbedingt auf schlechte Zähne.



Mein Lieblingskameramann Ferdl deutete auf einen anderen Interviewgast. Schließlich standen genug herum und ich würde ohnehin nur die Nahaufnahme der Supermodel-Brustwarzen in den Beitrag schneiden, garniert mit den weltbewegenden Worten: »Oh yes, I like Vienna very much. Please take care of our climate!«



Nachdem ich auch noch den wie stets sehr adretten Bundeskanzler und einen erfolgreichen Skirennläufer in der Sommerpause vors Mikro gezerrt hatte, schickte ich Ferdl allein los, um Schnittbilder zu drehen, und suchte mir eine Bar.



Der Gin Tonic war hervorragend, so wie die Band, die es schaffte, in der richtigen Lautstärke zu spielen, damit die Gäste sich nicht anbrüllen mussten. Man hatte die bunt angestrahlte Glastheke in einer Ecke des großen Festsaals aufgebaut. Ich lehnte daran, nippte an meinem Drink und genoss den schönsten Moment des Abends: Job erledigt, Zeit für die Meute.



Wie immer in diesem beeindruckenden Gebäude ließ ich mich von der großartigen Architektur verzaubern. Der Bürgermeister höchstpersönlich hatte einmal für mich den Fremdenführer gespielt und mir das Haus gezeigt. Seither wusste ich, dass 71 Meter zwischen den beiden Orchesternischen an den Stirnseiten lagen. Und dass die in den Boden eingelassenen Schmiedeeisengitter früher als Heizung gedient hatten. »Darunter hat man Kohlefeuer erhitzt, damit die warme Luft aufsteigen konnte!« Rauchgasvergiftung inklusive? Ich hatte nicht gefragt.



Mein Gin Tonic war fast leer. Mir reichte es, deshalb hielt ich Ausschau nach Ferdl. Kein leichtes Unterfangen in dem Gewühl. Leider fiel er nicht so auf wie das grüne Plüschmaskottchen, das fröhlich herumhüpfte und den Daumen nach oben reckte. Mir tat der, wie ich annahm, Student darunter leid. Es war mit Sicherheit höllisch, den ganzen Abend verpackt in jede Menge Plastik zu verbringen. Mein Blick fiel auf den Stargast. Ob sie sich nach all den OPs auch so fühlte? Nur der Plüsch fehlte.



Eine Smoking-Kehrseite nahm mir die Aussicht. Ein Mann war eben von einem der aufwendig dekorierten Tische aufgestanden und drängte sich an mir vorbei. Weil ich große grauhaarige Männer mochte, betrachtete ich ihn genauer. Er bestellte ebenfalls GT, wobei ein Hauch von Akzent mitschwang. Definitiv kein Wiener, vermutlich der Grund, weshalb ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Nach Jahren in meinem Job liefen mir auch in unserer Großstadt immer wieder dieselben Leute über den Weg.



In diesem Augenblick tauchte Ferdl auf und mahnte zum Aufbruch: »Hab alles. War keine Hetz heut’. Sammas?«



Das Material würde auf jeden Fall ausreichen. Schneiden und ausstrahlen würden wir die ganze Pracht dann in der extralangen Samstagssendung, unserem Quotenbringer. Wir klapperten die ganze Woche über möglichst viele Events ab, oft gebucht, weil jeder sich selbst gerne im Fernsehen sah oder wissen wollte, wer da gewesen war. Simples Konzept. Sichere Einnahmen. Daran konnten auch die Sozialen Medien und YouTube nicht knabbern.



Wir sagten also »Pfiat Gott« und waren weg.



Müde, aber völlig überdreht kam ich zu Hause an. Es war nach 23 Uhr an diesem lauen Abend, der sich über die Stadt gelegt hatte. Glücklicherweise war es nicht mehr ganz so heiß wie in den letzten Tagen, als wir unter der schon zweiten Hitzewelle dieses Sommers gestöhnt hatten, während die staubige, flirrende Luft alles verklebte und es sich kaum atmen ließ.



Ich öffnete meine große Terrassenschiebetür und zog mein verschwitztes Kleid aus. Danach ging ich unter die Dusche und ließ das kühle Wasser eine gefühlte Ewigkeit auf mich herabprasseln.



Mein Kühlschrank beherbergte einen herrlich kühlen Pinot Grigio. Normalerweise hätte ich jetzt bei meiner besten Freundin und Nachbarin Regina geklopft, um ein Glas mit ihr zu trinken und noch ein wenig zu plaudern. Doch mittlerweile hatten die Sommerferien begonnen. Sie war mit ihren beiden zehnjährigen Jungs nach Kärnten auf Urlaub gefahren. Warum bloß hatte ich es abgelehnt mitzukommen? Wem schadeten schon ein paar Tage Spaß am Wörthersee? Spontan beschloss ich, mir freizunehmen und sie zu besuchen.



Nach einem weiteren Schluck des leckeren Weins schnappte ich mir mein iPad und checkte kurz Facebook und Instagram, verlor allerdings bald das Interesse. Auch meine Lieblingswebsites konnten mich nicht reizen. Schließlich landete ich auf Netflix und stolperte über eine Folge von »Aufräumen mit Marie Kondo«. Ich blieb dran, sah mir eine zweite an und nahm es als Zeichen.



Meine Wohnung lag ebenerdig, war klein und spärlich möbliert. Ich mochte es hell – und leer. Neben dem offenen Hauptraum gab es noch ein großes Schlafzimmer mit einem kuscheligen Boxspringbett sowie ein Bad mit Wanne. Meine Kleidung befand sich hinter einer nachträglich errichteten Trennwand im Schlafzimmer, die an das mexikanische Betthaupt anschloss und beidseitig begehbar war.



Ebendort stand ich nun in Shorts und T-Shirt, rieb mir die Hände und legte los. Mitternacht. Eine bescheuerte Zeit für Vollchaos. Jeder andere hätte sich einen Schlechtwettertag und eine andere Uhrzeit ausgesucht. Egal, ich war niemandem Rechenschaft schuldig.



Eine Stunde später betrachtete ich fix und fertig das Ergebnis. Ausmisten war anstrengend, auch wenn ich gut wegwerfen konnte und definitiv nicht zu denen gehörte, die alles horteten. Der Caritas-Laden »Carla« würde sich bald über tonnenweise Zuwachs freuen.



Die Flasche war mittlerweile beinahe leer und mir schwummrig. Intelligent geht anders, Speltz, schimpfte ich mit mir, in ein paar Stunden musst du fit sein, der Tag wird endlos werden. Auf dem Programm stand diesmal der gefühlt hundertste Geburtstag eines Stadtbaumeisters, der beim Reden immer spuckte wie ein Kamel, besonders wenn er angesäuselt war. Nichts, worüber ich im Augenblick auch nur ansatzweise nachdenken wollte.



Stattdessen nippte ich an meinem Glas, verwundert über die Zufriedenheit, die ich verspürte. Es tat wirklich gut, sich von altem Plunder zu trennen, auch wenn mir der Schweiß in Strömen herunterlief und ich dringend noch einmal duschen musste.

 



Verwaschen drangen die Geräusche der Stadt herein und vermischten sich mit der Klaviersonate auf meinem Smartspeaker. Leise summte ich ein paar Takte mit. Autsch! Mein schwer beleidigter Rücken protestierte! Ächzend drückte ich ihn durch.



Da piepste mein Telefon. Es steckte noch in meiner riesigen schwarzen Arbeitshandtasche im Flur. Steif stakste ich hin, kramte ein wenig herum, bis ich es fand, und musterte das Display. Ein Kollege des Öffentlich-Rechtlichen hatte getwittert. Ich mochte seine Kommentare zwar, aber jetzt war keine Zeit dafür. Damit es in meinem Tohuwabohu nicht verloren ging, legte ich das Handy auf mein Vorzimmertischchen und