Selbstoptimierung und Enhancement

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Kritiker des Selbstoptimierungstrends bestreiten auch einen ursprünglichen inneren Drang der Individuen zur Selbstverbesserung, weil sich die Subjekte lediglich dem steigenden sozialen DruckDruck, sozialer anpassen (vgl. KingKing, Vera u.a., 285). Gemäß vielen aktuellen Gesellschaftsdiagnosen stellt die Selbstoptimierung für den Einzelnen längst keine Option mehr dar, sondern eine gesellschaftliche Pflicht oder einen „moralischen Imperativ“ (vgl. SelkeSelke, Stefan 2014a, 189/GammGamm, Gerhard, 34). Der von außen kommende Fremd-Zwang werde zum Selbst-Zwang umverwandelt, wobei sich der Einzelne die „Illusion der Autonomie“ erschaffe (vgl. KingKing, Vera u.a., 286; 289): Die institutionelle „Verbesserungslogik“ knüpfe nur an das moderne Autonomieideal und Selbstverwirklichungsstreben an, um das „Maß der Unterwerfung“ zu kaschieren (vgl. KingKing, Vera u.a., 286). Zu unterwerfen hätten sich die Menschen den Idealen der Effizienz- und LeistungssteigerungEffizienz-/ Leistungssteigerung, wie sie v.a. für die Arbeitswelt mit ihrem verschärften WettbewerbsdruckLeistungsdruck, hohen Ansprüchen an Flexibilität, Mobilität und Selbstorganisation und einer Beschleunigung der Arbeit typisch sind. Aufgrund der Totalität beruflicher Anforderungen und einer fortschreitenden Ökonomisierung der Lebenswelt Ökonomisierung der Lebensweltweite sich dieses ökonomische Effizienz- und Konkurrenzdenken des neoliberalenNeoliberalismuskritik Selbstoptimierungnegative AspekteKapitalismus von der Arbeitswelt auf das Privatleben, die sozialen Beziehungen und die gesamte Lebensführung aus (vgl. ebd., 284/Becker u.a., 5/Kap. 1.2). Da die ungünstigen Arbeits- und Lebensbedingungen bestehen bleiben, bedeute die „Ermächtigung“ zu Freiheit und Selbstverbesserung paradoxerweise eine Anleitung zur ständigen kompromissbereiten Anpassung an gegebene Umstände (vgl. DuttweilerDuttweiler, Stefanie, 8). Die Einzelnen unterwerfen sich aus dieser Sicht den gesellschaftlichen Anforderungen lediglich aus Angst vor dem Verlust an Anerkennung, dem sozialen Abstieg und dem Scheitern im permanenten Ausscheidungswettkampf (vgl. BröcklingBröckling, Ulrich, 289/UhlendorfUhlendorf, Niels u.a., 32; 46). Statt um einen Imperativ zur Selbstoptimierung handle es sich dabei genau genommen um einen „Imperativ zur SelbstausbeutungSelbstausbeutung“, weil die Getriebene unter den Zwängen leiden (vgl. UhlendorfUhlendorf, Niels u.a., 46). Während viele Menschen die destruktiven Risiken und psychischen und somatischen Symptome bagatellisieren, liegen bei anderen Erschöpfung und ohnmächtiges Leiden offen zutage (vgl. ebd., 32f./Salfeld u.a., 10f.). Obwohl es für das mediale Schlagwort BurnoutBurnout bis heute keine validen allgemeingültigen Diagnosekriterien gibt und die komplexen inneren und äußeren Ursachen noch erforscht werden, fungiert der Begriff in öffentlichen Selbstoptimierungs-Debatten geradezu als Synonym für Leistungsträger, die rund um die Uhr erreichbar sind und bis zur Erschöpfung arbeiten (vgl. MühlhausenMühlhausen, Corinna 2013, 122f.).

Diese neoliberalismuskritische Darstellung des Selbstoptimierungsstrebens als einverleibter Fremd-Zwang ist allerdings genauso einseitig und tendenziös wie die radikale Autonomiethese. Die skizzierten neuzeitlichen Emanzipations- und IndividualisierungsbestrebungenIndividualisierungsprozesse lassen sich schwerlich auf eine reaktive Anpassung an wirtschaftliche Anforderungen reduzieren, weil sich die Menschen vom Kampf um mehr Freiheit und ein individualisiertes Glücksstreben vielmehr eine Steigerung der Lebensqualität erhofften. Die „Verschmelzung“ steigender individueller Ansprüche und marktrelevanter Forderungen ist also viel komplexer und konzeptuell schwer zu fassen (vgl. KingKing, Vera u.a., 286). Auch gibt es in der gegenwärtigen Optimierungsgesellschaft durchaus positive Muster der Lebensführung, bei denen eine begeisterte Bejahung der zahllosen Möglichkeiten des Optimierens mit angemessener Selbst- und Fremdsorge einhergehen (vgl. Salfeld u.a., 10/UhlendorfUhlendorf, Niels u.a., 34). Menschen scheitern offenkundig nur, wenn bestimmte ungünstige psychische Startbedingungen wie niedriges Selbstbewusstsein und mangelnde Zuwendung in Primärbeziehungen und unerfüllbare äußere berufliche Anforderungen oder unsichere Arbeitsverhältnisse aufeinandertreffen (vgl. ebd., 32; 44/KingKing, Vera u.a., 287). Sie zerbrechen dann aber nicht am generalisierten Zwang zur permanenten Selbstoptimierung, sondern an Überlastung z.B. infolge von ArbeitsverdichtungArbeitsverdichtung, unrealistischen Arbeitserwartungen oder entgrenzter Arbeitszeit, prekärer befristeter Arbeitsverhältnisse, Doppelbelastung durch Beruf und Familie etc. Folgerichtig müsste sich die Kritik auch gegen solche ganz konkreten Missstände richten. Da nur unter bestimmten problematischen Bedingungen der Appell zur Selbstoptimierung negativ als Zwang und nicht positiv als Motivationsschub erlebt wird, gibt es keinen einfachen Zusammenhang zwischen Optimierungs- und Leistungsdruck und Erschöpfungsreaktionen oder BurnoutBurnout (vgl. UhlendorfUhlendorf, Niels u.a., 33; 47). Aus psychologischer Sicht sind die wenigsten Menschen masochistisch veranlagt und verschreiben sich auf Dauer Selbstoptimierungsprogrammen, die autodestruktiv sind und weder Vergnügen noch Befriedigung bringen (vgl. Balandis u.a., 148). Die befürchtete Entsolidarisierung der individualisierten Gesellschaft drohte nur dann, wenn der gesellschaftliche Ruf nach Selbstoptimierung zur Entlastung von Politik und Gesellschaft führte und der Einzelne ungeachtet unwürdiger Erwerbs- und Lebensbedingungen auch für sein Unglück selbst verantwortlich sein soll. Der sozialethisch höchst problematische Umkehrschluss zur positiven liberalen Maxime „Jeder ist seines Glückes Schmied“ lautete dann: Wer im Leben nicht alles erreicht hat und nicht sein Glück macht, hat sich nicht genug angestrengt!

3) Notwendigkeit einer Ambivalenztoleranz

Klare Einordnungen der Selbstoptimierung in oppositionelle Kategorien wie „positiver Ansporn“ oder „Selbstausbeutung“, „Freiheitszuwachs“ oder „sozialer Druck“, „Weg zum Glück“ oder „Wahn“ werden der Komplexität der Thematik nicht gerecht und behindern die gesellschaftliche Debatte. Bei multifaktoriellen und vielschichtigen kulturellen Entwicklungsprozessen ist es nicht leicht auseinanderzuhalten, was „von innen“ von den Menschen selbst oder „von außen“ von der Gesellschaft kommt, deren Teil die Menschen sind. Individuelle Autonomie und gesellschaftliche Orientierungsmuster und Wertstandards schließen einander in demokratischen Gesellschaften keineswegs kategorisch aus. Optimierungsbemühungen führen nicht zwingend zu Selbstausbeutung und Erschöpfung, sondern viele Menschen haben Spaß an den neuen Möglichkeiten der Weiterentwicklung, der erhöhten Selbstkontrolle und Selbstverantwortung und dem besseren Erreichen ihrer Ziele (vgl. Balandis u.a., 134; 148/KingKing, Vera u.a., 292). Selbstoptimierungnegative AspekteSchwerlich ist schon das typisch menschliche Bestreben problematisch, sich selbst zu verändern und das Beste aus sich und seinem Leben zu machen. Nur unangemessene, unerreichbare Perfektionsideale und ein übersteigerter PerfektionismusPerfektionismus/perfektionistisch und Kontrollzwang führen zu Selbstüberforderung und Minderwertigkeitsgefühlen. Weder ein erfolgszuversichtliches, strukturiertes und effektives Handeln und lebenslanges Lernen zum ständigen Effizienz-/ LeistungssteigerungErwerb neuer Kompetenzen noch auch erhöhte Selbstverantwortung, Eigeninitiative und Selbstorganisation sind einem guten Leben abträglich, sondern begünstigen es im Gegenteil. Verwerflich sind nur die sich darauf abstützenden, maßlos gesteigerten und unerfüllbaren beruflichen oder gesellschaftlichen Anforderungen an die Einzelnen. Werden auch unverantwortete, sozial oder natürlich bedingte Kosten und Risiken dem Einzelnen angelastet, so werden die Ansprüche an die individuelle Selbstverantwortung deutlich überzogen und die „Pflicht zum Glück“ wird „asozial“ (vgl. SchmidSchmid, Wilhelm 2012, 7ff./GugutzerGugutzer, Robert, 2). Es braucht eine gelassene und sachlich-nüchterne Einstellung, um diese grundlegende und hochgradige Ambivalenz der Selbstoptimierung erst einmal wahrnehmen zu können (vgl. Balandis u.a., 148). Ins Zentrum der gesellschaftlichen Debatten sollten dann jedoch die zukunftsgerichteten Fragen rücken, welche Aspekte des Selbstoptimierungstrends sich positiv oder negativ auf das individuelle oder gesellschaftliche Leben auswirken und mit welchen Regulierungsmaßnahmen sich seine Weiterentwicklung gezielt beeinflussen lässt. Die Anwendungskontexte und verschiedenen Formen von Selbstoptimierung sind allerdings so vielfältig, dass pauschale Urteile wenig sinnvoll sind und sorgfältige Einzelfallanalysen durchgeführt werden müssen (vgl. AchAch, Johann 2016, 141).

1.3 Wunscherfüllende Medizin und die Abgrenzung von Therapie und Enhancement

Zum Zwecke der Selbstoptimierung werden immer stärker auch die ständig erweiterten und präziseren Verbesserungsmöglichkeiten der Medizin nachgefragt. Parallel zum Selbstoptimierungstrend wird infolgedessen auch ein Gestaltwandel im traditionellen Grundverständnis der Medizin hin zu einer wunscherfüllenden MedizinMedizinwunscherfüllende/kurative diagnostiziert (vgl. KettnerKettner, Matthias, 81f./Junker u.a., 66f.): Während die traditionelle Medizin wesentlich kurativ war und der Heilung und Prävention von Krankheiten diente, werden medizinische Verfahren in der modernen Medizin zunehmend zur Erfüllung individueller Wünsche nach Vitalität, Lifestyle, Lebensplanung, Verschönerung des Körpers und Optimierung der normalen Funktionsfähigkeiten eingesetzt. Traditionell war die Medizin am Krankheitsbegriff orientiert und konzentrierte sich auf die Pathogenese als Entstehung von Krankheiten, wohingegen Gesundheit negativ als Abwesenheit von Krankheit definiert wurde. Im Gegensatz dazu wendet sich die wunscherfüllende MedizinMedizinwunscherfüllende/kurative der Gesundheit als einer positiven und beliebig steigerbaren komplexen „soziobiologischen Qualität“ zu und kümmert sich um die Salutogenese, d.h. die Entstehung und Erhaltung von Gesundheit (vgl. KettnerKettner, Matthias, 86). Zu diesen tiefgreifenden Strukturveränderungen gehört auch ein grundlegender Wandel im Rollenverständnis und in der wechselseitigen Beziehung von Arzt und Patient: An die Stelle des zu behandelnden Patienten als einem bedürftigen, kranken oder krankheitsgefährdeten Menschen in der kurativen Medizin tritt im Rahmen der wunscherfüllenden Medizin ein gesunder und autonomer Klient oder Kunde, der eine von ihm gewünschte individualisierte Dienstleistung nachfragt. In seiner traditionellen Rolle beurteilt der Arzt mit objektivem Blick und nach etablierten Kriterien die Indikation, d.h. die Behandlungsbedürftigkeit des Patienten und übernimmt die Verantwortung für die allenfalls einzuleitende angemessene Therapie. Im neuen wunschorientierten Modell wird das Angebot hingegen nicht durch den Arzt mit seinem medizinischen Wissen und Können gesteuert, sondern letztlich durch die Nachfrage der Klienten (vgl. ebd., 87). Im Verlauf des Paradigmenwechsels in der Medizin gewinnt somit die Patientenautonomie gegenüber dem ärztlichen Paternalismus an Bedeutung, und es kommt zu einer Deregulierung und Kommerzialisierung des Gesundheitssystems. Aufgrund der dabei vorwiegend zum Einsatz kommenden biomedizinischen Methoden ist die wunscherfüllende Medizin zu einem großen Teil Enhancement-MedizinMedizinEnhancement-. Zur wunscherfüllenden Medizin zählen außerdem noch die gegen die „Schulmedizin“ gerichtete „Komplementär“- oder „Alternativmedizin“ mit einem ganzheitlichen Gesundheitsbegriff und die von den Kunden selbst zu zahlenden, medizinisch sinnvollen, aber nicht notwendigen „individualvertraglichen Gesundheitsleistungen (IGeL)“ (vgl. KettnerKettner, Matthias, 84ff./Junker u.a., 64f.).

 

Da die geschilderten medizinischen Strukturveränderungen in komplexe kulturelle Prozesse wie politische Programme zur Förderung medizinischer Forschung und Entwicklung, soziale Gesundheitssysteme und gesellschaftliche Hintergrundannahmen von Gesundheit und Krankheit eingebettet sind, bedarf es öffentlicher ethischer Diskurse über den Wandel im Grundverständnis der Medizin. Denn im Wettbewerb um Mitglieder geraten beispielsweise die Krankenkassen zunehmend unter Druck, über die kurativen Maßnahmen hinaus entsprechend der Wünsche der Kunden auch alternative und medizinisch nicht indizierte Leistungen anzubieten. Indem Ärzte von heilenden Versorgern zu medizinischen Dienstleistern und Helfern individueller Wunscherfüllung mit ganz neuen Einkommensmöglichkeiten werden und die Kunden die gewünschten Gesundheitsleistungen selbst zahlen, droht Gesundheit zu einem Konsumgut im freien Wettbewerb der kapitalistischen MarktwirtschaftGesundheitssystem, marktliberales (Präferenz-Effizienz-Modell) zu werden. Entgegen weit verbreiteter impliziter Unterstellungen ist der neue medizinische Leitbegriff einer präferenzorientierten Dienstleistung keineswegs „wertneutral“, sondern muss kritisch reflektiert werden (vgl. MaioMaio, Giovanni 2006, 340). Befürchtet wird von Skeptikern eine problematische Verschiebung im ärztlichen Ethos von der traditionellen altruistischen „Humanität des Arztes“ zur „Egozentrik des ‚Patienten‘“ (Eberbach, 13). Ärzte und Kliniken könnten sich statt an Werten wie Gemeinwohl und Volksgesundheit bzw. an einem allgemeinmenschlichen Recht auf Gesundheit immer mehr an ökonomischen Eigeninteressen orientieren. Abzulehnen ist klarerweise ein radikalliberales Modell mit einer totalen Kommerzialisierung medizinischer Leistungen und der Einebnung des Unterschieds zwischen medizinisch indizierten und wunschmedizinischen Behandlungen, weil eine marktförmige Verteilung leicht zu einer „Fehlallokation“ der Gesundheitsleistungen führt (vgl. KettnerKettner, Matthias, 88/Kap. 3.1, Argument 2): Während zahlungskräftige Kunden ihre Luxusbedürfnisse befriedigen können, bleiben berechtigte Ansprüche auf eine medizinische Grundversorgung möglicherweise unerfüllt. Im vorliegenden Kapitel soll es aber erst einmal nur um eine deskriptive Unterscheidung von „Enhancement“ und „Therapie“ gehen, die für eine definitorische Bestimmung des „Enhancements“ unverzichtbar ist (vgl. SynofzikSynofzik, Matthias 2006, 37/Kap. 1.1). Die Möglichkeit einer solchen trennscharfen Unterscheidung wird vielfach bestritten, weil schon die Begriffe „Krankheit“ und „Gesundheit“ höchst unterschiedlich gebraucht werden. Es ist also erst einmal mittels einer Analyse der wichtigsten Krankheits- und Gesundheitsmodelle zu klären, ob das Enhancement überhaupt eine eigene, klar abgrenzbare Klasse von Handlungen bezeichnet, die im Kontrast zur ethisch unkontroversen Krankheitsbehandlung einen abgesonderten ethischen Problembereich darstellt.

1.3.1 Deskriptive Analyse verschiedener Krankheits- und Gesundheitsmodelle

1) Objektives biostatisches Krankheitsmodell

In der medizinischen Praxis äußerst beliebt ist das auf Christopher BoorseBoorse, Christopher zurückgehende objektive biostatische KrankheitsmodellGesundheits-/Krankheits-Modellebiostatisches, bei dem „Gesundheit“ negativ als Abwesenheit von Krankheit und „Krankheit“ als Abweichung von einem speziestypischen „normalen Funktionieren“ definiert wird (vgl. BoorseBoorse, Christopher, 567/DanielsDaniels, Norman, 28). NaturalistischGesundheitnaturalistisches Konzept ist dieses in der Tradition der physiologischen Medizin entworfene Modell, insofern es die Unterscheidung zwischen Krankheit und Gesundheit „wertfrei“ in Bezug auf objektive, naturwissenschaftlich überprüfbare Fakten zu treffen beansprucht. Unter „normaler Funktionsfähigkeit“ wird dabei eine statistische Norm einer typischen, alters- und geschlechtsspezifischen Referenzklasse des jeweiligen Organismus verstanden. Anders als bei einem rein statistischen Normalitätsbegriff werden beim biologischen Funktionsbegriff nur diejenigen Abweichungen von einem statistischen Mittelwert als krankhaft interpretiert, die speziestypische Funktionen verhindern. Damit sind aber nicht alle Probleme einer statistischen Krankheitsdefinition überwunden, weil bezogen auf die altersspezifische Referenzklasse statistisch häufige Erscheinungen wie z.B. Karies, Osteoporose oder Prostatakrebs trotz einschränkender biologischer Funktionen „normalNormalitätbiostatische“ und damit eigentlich keine „Krankheiten“ wären (vgl. WernerWerner, Micha, 146). Zudem lassen sich bei vielen organischen Funktionen durch statistische Erhebungen nur gewisse Normbereiche festlegen, wobei die Grenze zwischen „normal“ und „krankhaft“ von kulturellen Deutungen abhängt und somit nicht völlig wertfrei ist. Ein typisches Beispiel wäre ein niedriger Blutdruck jenseits eines bestimmten Normbereichs, der nur in Deutschland als Indiz für eine Krankheit aufgefasst und in Großbritannien spöttisch „German disease“ genannt wird. An seine Grenzen stößt das biostatische Modell v.a. auch im psychosozialen Bereich, da psychische Krankheiten bzw. Störungen noch viel stärker von kulturellen Vorstellungen von „normalem“ und „nichtnormalem“ Verhalten und von gesellschaftlichen Erwartungshaltungen abhängen. BoorsesBoorse, Christopher Definition von psychischen Krankheiten als Störungen der Wahrnehmung und der kognitiven Funktionen analog zu physischen Funktionsstörungen erscheint als reduktionistisch und inadäquat (vgl. LenkLenk, Christian 117f.; 120f.). Die Kritik am biostatischen Krankheitsmodell richtet sich entsprechend gegen den Anspruch auf naturwissenschaftliche Exaktheit und Wertfreiheit, obschon durchaus nicht alle Anhänger einen Naturalismus im strengen Sinn vertreten (vgl. etwa DanielsDaniels, Norman, 30/BuchananBuchanan, Alan u.a., 151). Auf der physiologischen Ebene von Zellen und Organen lassen sich jedoch unwillkürliche Funktionsstörungen wie beispielsweise entartete und unkontrolliert wuchernde Tumorzellen, eine Lungenventilationsstörung oder eine Störung des Bewegungsapparates relativ wertfrei und deskriptiv als „Krankheiten“ ausweisen, sodass auch die Grenze zwischen Therapie und Enhancement klar gezogen werden könnte.

2) Subjektivistischer lebensweltlicher Wohlbefindens-Ansatz

Im Kontrast zum objektiven Krankheitsmodell geht der Gesundheits-/Krankheits-Modellesubjektivistisches, lebensweltlichessubjektive lebensweltliche Wohlbefindens-Ansatz von einem positiven, maximalistischen BegriffGesundheitMinimal-/Maximalbegriff von „Gesundheit“ als einem Idealzustand subjektiven Wohlbefindens aus. „Krankheit“ hingegen stellt eine Beeinträchtigung des subjektiven Wohlbefindens dar. Exemplarisch dafür ist die bekannte Definition der WHO von „Gesundheit“ als „Zustand vollkommenen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur als Abwesenheit von Krankheit und Behinderung“ (WHO 1946). Im Zuge des Selbstoptimierungstrends kam es zu einer Individualisierung des Gesundheitsverständnisses und einem Erstarken des sogenannten zweiten Gesundheitsmarktes (vgl. MühlhausenMühlhausen, Corinna u.a. 2013, 5f.; 17): Gesundheit wird nicht mehr allein über die Abwesenheit von Krankheit definiert, sondern von rund 80 % der Befragten mit persönlichem Wohlbefinden assoziiert. Statt mit „Wohlbefinden“ wird „Gesundheit“ auch mit „Glück“ oder „Lebensqualität“ gleichgesetzt, so etwa von Horst BaierBaier, Horst oder Lennart Nordenfelt (vgl. Baier, 100/Nordenfelt, 7). Für das medizinische Gesundheitssystem und eine klare Abgrenzung von Krankheit und Gesundheit eignen sich solche subjektive lebensweltliche Modelle von Gesundheit allerdings nicht, weil positive Gesundheitsvorstellungen von Wohlbefinden oder Glück nach oben hin keine Grenze kennen. Da sich die meisten Menschen weit weg vom Zustand vollkommenen Glücks oder maximaler Lebensqualität entfernt wähnen und sich eine Steigerung ihres aktuellen Wohlbefindens wünschen, wären dann strenggenommen alle Menschen krank. Auch die Trennung von Therapie und Enhancement wäre obsolet, weil jede das subjektive Wohlbefinden und damit die Gesundheit befördernde Maßnahme als Therapie zu bezeichnen wäre. Aus einer wissenschaftlichenGesundheitwissenschaftlicher/lebensweltlicher Begriff philosophischen und medizinischen Perspektive können das subjektive Erleben einer Störung des Wohlbefindens und ein subjektives Leid lediglich dafür bedeutsam sein, ob sich der Einzelne als krank ansieht oder nicht. Sie können aber nicht die Kernbedeutung des Krankheitsbegriffs ausmachen und bestimmen, was Krankheit ist, sondern stellen nur Zusatzkriterien dar (vgl. SchrammeSchramme, Thomas 2013, 10). Da die Quellen von vermindertem Wohlbefinden oder subjektivem Leid neben organischen Ursachen ganz unterschiedliche sein können, drohte bei einer lebensweltlichen Interpretation von Krankheit und Gesundheit die Gefahr einer MedikalisierungMedikalisierung von Umwelt- und Lebensproblemen: Würden beispielsweise auch Beeinträchtigungen aufgrund ungünstiger gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Rahmenbedingungen als individuelle Krankheiten interpretiert, fielen auch sie irrtümlicherweise in den Zuständigkeitsbereich der Ärzte und mutierten zum Gegenstand individueller Therapie (vgl. LenkLenk, Christian, 145; 177).

3) Relationale Ansätze von Gesundheit und Krankheit

Zur Überwindung der Einseitigkeit in der Betonung der subjektiven und objektiven Komponenten der anderen Modelle beziehen relationale KrankheitsmodelleGesundheits-/Krankheits-Modellerelationales die äußere Umwelt mit ein und definieren Krankheit als Unfähigkeit zur Erreichung selbstgesetzter Ziele oder zur Bewältigung von äußeren gesellschaftlichen Anforderungen (vgl. Heiliger, 66f./Walcher, 52f.). „Krankheit“ bedeutet in diesem Verständnis also ein gestörtes Verhältnis oder ein Ungleichgewicht zwischen internen Ressourcen oder Fähigkeiten des Individuums und externen Umweltfaktoren. Es lassen sich dabei Adaptionstheorien mit ähnlichem empirischem Selbstverständnis und dem Anspruch auf universelle Geltung wie biostatische Modelle sowie normativistischeGesundheitnormativistisches Konzept und stärker lebensweltlich geprägte handlungstheoretische Ansätze unterscheiden (vgl. LenkLenk, Christian, 40f.). Während in naturalistischen Krankheitsmodellen „Krankheit“ und „Gesundheit“ wie gesehen objektive, wertfrei beschreibbare Zustände darstellen, sind sie in handlungstheoretischen normativistischen Theorien Zuschreibungen vor dem Hintergrund individueller Handlungsziele oder gesellschaftlich anerkannter Wertvorstellungen und Normen. Gemäß dem Vertreter der individualistischen Spielart handlungstheoretischer Ansätze und schärfsten Kritiker des biostatischen Krankheitsmodells Lennart Nordenfelt ist eine Person „vollkommen gesund“, wenn sie „fähig ist, unter gegebenen normalen Umweltbedingungen alle ihre maßgeblichen Ziele zu realisieren.“ (Nordenfelt, 96) Bei kulturalistischen Varianten treten an die Stelle individueller Ziele gesellschaftliche Vorgaben, sodass je nach den spezifischen Anforderungen einer Gesellschaft etwa an Körperkraft oder kognitiven Fähigkeiten ein Unvermögen wie Legasthenie entweder gänzlich unbedeutend oder eine psychische Störung sein kann (vgl. LenkLenk, Christian, 194f.). Für den psychosozialen Bereich bieten normativistische Modelle gegenüber naturalistischen ein angemesseneres Krankheits- und Gesundheitsverständnis an, weil psychische Gesundheit als Fähigkeit zur Bewältigung von internen oder externen Anforderungen dank persönlicher Strategien besser charakterisiert ist (vgl. Bobbert, 414). Allerdings ist ein relationales Krankheitsverständnis sehr vage und enthält relativistische und dezisionistische Momente. Denn ob jemand gesund oder krank ist, hinge dann von beliebigen subjektiven Wünschen oder gesellschaftlichen Erwartungshaltungen ab. Außerdem suggeriert die Etikettierung als „krank“ das Vorliegen einer internen Abnormität, obwohl ein Ungleichgewicht von Individuum und Umwelt nicht zwangsläufig auf einen pathologischen Lebensprozess hindeutet (vgl. LenkLenk, Christian, 216f.). Vielmehr können entweder die gewählten subjektiven Ziele mit Blick auf gegebene persönliche Fähigkeiten oder Umweltbedingungen völlig unangemessen oder aber die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse repressiv und ungerecht sein.

 

4) Integratives Krankheitsmodell für die Therapie-Enhancement- Unterscheidung

Insbesondere in dem für die Enhancement-Debatte relevanten medizinischen Kontext vermag das objektive biostatische Krankheitsmodell am meisten zu überzeugen: Krankheit als wissenschaftlicher BegriffGesundheitwissenschaftlicher/lebensweltlicher Begriff ist im Wesentlichen eine Störung („disorder“) speziestypischer normaler physischer oder psychischer Funktionen, die zumindest im physisch-organischen Bereich relativ wertfrei auf der Grundlage statistischer und biomedizinischer Erkenntnisse beschreibbar sind (vgl. SchrammeSchramme, Thomas 2013, 10). Es lassen sich aber NaturalismusGesundheitnaturalistisches Konzept und NormativismusGesundheitnormativistisches Konzept prinzipiell vereinbaren und die von den drei Krankheitsmodellen hervorgehobenen Aspekte sinnvoll in einem integrativen KrankheitsmodellGesundheits-/Krankheits-Modelleintegratives kombinieren, das Offenheit und Spielräume eingesteht (vgl. LenkLenk, Christian, 226f.; 230f.): Der objektive Aspekt einer empirisch feststellbaren funktionalen Störung oder Abnormität als eindeutiger Hinweis auf eine Krankheit muss zwar unbedingt vorhanden sein und spielt somit eine zentrale Rolle, reicht aber allein nicht aus. Vielmehr muss diese pathologische Abweichung zusätzlich das subjektive Wohlbefinden vermindern oder die Verwirklichung subjektiver wichtiger Lebensziele oder Einhaltung gesellschaftlicher Normen behindern. Kritiker der Gesundheits-Krankheits-Unterscheidung wenden allerdings ein, insbesondere im psychischen Bereich gebe es keine klare Grenze zwischen voller und eingeschränkter Funktionsfähigkeit der psychischen Funktionen bzw. zwischen optimalem Wohlergehen und schwerer Beeinträchtigung, konkret etwa zwischen Vergesslichkeit und schwerer Demenz oder zwischen Niedergeschlagenheit und krankheitswertiger Depression (vgl. SynofzikSynofzik, Matthias 2006, 38/Walcher, 57ff.). Tatsächlich sind Krankheit und Gesundheit insofern graduierbare Phänomene, als es ein Kontinuum zwischen leichten bis schweren Krankheiten oder Störungen gibt und Gesundheit jenseits medizinischer Indikation auf einer nach oben hin offenen Skala steigerbar ist. Das Fehlen einer absoluten und trennscharfen Grenze beweist jedoch keineswegs die Unhaltbarkeit des Krankheitsbegriffs, da auch viele andere Begriffe wie „Kunst“ oder „Religion“ im Bereich sozialer bzw. institutioneller Tatsachen weder aufgrund von Grauzonen noch ihrer Abhängigkeit von gesellschaftlichen Werten verabschiedet werden müssen. Würde man aber wie im subjektivistischen Wohlbefindens-Modell nur einen MaximalbegriffGesundheitMinimal-/Maximalbegriff einer Gesundheit als vollkommenen Idealzustand gelten lassen und einen medizinischen Minimalbegriff bzw. negativen Begriff von Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit ablehnen, wären alle Menschen krank und die in der Medizin erforderliche Krankheits-Gesundheits-Unterscheidungen unhaltbar. Auch könnte es wie gesehen einer Medikalisierung Vorschub leisten, wenn Krankheit ausschließlich über ein subjektives Leid oder das Nichtbewältigen interner oder externer Anforderungen definiert würde.

Unabhängig von der Enhancement-Debatte ist also eine Grenzziehung von Krankheit und Gesundheit in einem deskriptiven Sinn sehr wohl möglich und hat sich in der Praxis bewährt: Nicht nur im solidarisch finanzierten medizinischen Gesundheitssystem, sondern in zahlreichen anderen gesellschaftlichen Handlungsfeldern wie der Rechtsprechung oder dem Absenzensystem der Arbeitswelt ist eine einigermaßen klare Bestimmung pathologischer Zustände unverzichtbar. Diese deskriptive Krankheits-Gesundheits-Unterscheidung bildet eine hinlänglich solide Basis, um Therapie und EnhancementTherapie-Enhancement-Unterscheidung voneinander abzugrenzen und einen Strukturwandel im Medizinsystem von einer kurativen hin zu einer wunscherfüllenden oder Enhancement-Medizin mit unterschiedlichen Zielsetzungen festzustellen: Medizinwunscherfüllende/kurativeWährend es in der traditionellen Medizin um Therapie mit den Zielen der Heilung oder Prävention von Krankheiten gemäß einer objektiven medizinischen Indikation geht, zielt die Enhancement-Medizin auf eine medizinisch nicht indizierte Steigerung der Gesundheit auf den subjektiven Wunsch der Kunden hin. Obwohl sich mit dieser deskriptiven Analyse „Enhancement“ als Diskussionsgegenstand besser eingrenzen und als eigenständige Klasse von Handlungen ausweisen ließ, ist damit noch nichts gesagt über die normative Bewertung der jeweiligen Handlungstypen. Zu vermeiden sind voreilige Schlüsse von der deskriptiven Treatment-Enhancement-Unterscheidung auf die normative Differenz von ethisch gebotener Therapie und ethisch illegitimem Enhancement (vgl. dazu SynofzikSynofzik, Matthias 2009, 50ff.). Im Einzelfall kann eine unterschiedliche Beurteilung nämlich ethisch fragwürdige Konsequenzen haben, wie das in der Enhancement-Debatte vieldiskutierte Beispiel von Dan BrockBrock, Dan zeigt (vgl. BuchananBuchanan, Alan u.a., 115): Der 11jährige Jonny hat ein Wachstumshormondefizit und ist aufgrund dieser Funktionsstörung im Sinne eines naturwissenschaftlichen biostatischen Krankheitsbegriffs „krank“ und damit behandlungsbedürftig. Dem gleichaltrigen Billy hingegen fehlen zwar keine Hormone, aber er wird als Kind extrem kleiner Eltern auch höchsten 1.60 m groß und genauso wie Jonny gehänselt werden und unter dem abnormen Kleinwuchs leiden. Wäre eine normative Verwendung eines objektiven naturalistischen Krankheitsbegriffs bei diesem gleichen empirischen Phänomen und gleichem subjektivem Leidensdruck nicht ungerecht? Wieso ist eine „Therapie“ überhaupt moralisch geboten und wieso sollen normale speziestypische Funktionen oder wertneutrale statistische Referenzwerte eine Obergrenze legitimer medizinischer Eingriffe bilden? Wäre nicht vielmehr die Erweiterung des gegebenen biologischen Spektrums der Gattung geboten, weil eine Verbesserung beispielsweise des Immunabwehrsystems oder intellektueller Fähigkeiten über die Spezies-Grenze hinaus grundsätzlich wünschenswert sind (vgl. BuchananBuchanan, Alan u.a., 127/JuengstJuengst, Eric, 33f.)?