Die Farbe der Leere

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Der Pub war fast leer. An der Bar hingen ein paar Männer in der typischen Haltung von Leuten, die schon eine Weile auf einem Barhocker ausharrten und dies auch noch längere Zeit vorhatten. Mendrinos saß an einem der wenigen Tische, die Tür im Blick, ein Bier vor sich.

Er stand auf, als sie hereinkam. Sie war aufs Neue überrascht, wie dünn er war. Und wirklich sehr groß, das hatte fast etwas Komisches bei jemandem, der so gar kein Athlet war.

»Danke, dass Sie extra den Weg auf sich genommen haben«, sagte sie. Bei ihrem Telefonat am Nachmittag hatte er auf einem Treffpunkt in der Nähe ihrer Wohnung bestanden. Er werde ziemlich spät noch im Büro zu tun haben und wolle nicht, dass sie so lange im Gericht auf ihn warten musste. Wobei er stillschweigend davon ausging, dass sie das selbstverständlich getan hätte. Und tatsächlich, das hätte sie. Aber Mendrinos hatte keine Ahnung, dass die Arbeitskultur beim ACS normalerweise nicht die endlosen Überstunden und die ständige Verfügbarkeit voraussetzte, die der Job eines Staatsanwalts mit sich brachte.

»Ist mir ein Vergnügen. Nehmen Sie doch Platz. Ich bestelle Ihnen ein Bier.« Seine Stimme war ruhig und höflich, dabei sehr selbstsicher. An der Grenze zur Arroganz.

Sie hatte schon ewig kein Bier mehr getrunken. Der hefige Geruch, das schummerige Licht und der angeknackste zerkratzte Tisch führten sie fast in Versuchung. Sie schüttelte ablehnend den Kopf und schälte sich aus ihrer Jacke. Dabei verfing sich ihr kurzer Zopf im Kragen, und sie schüttelte wieder den Kopf, um ihn zu befreien. Endlich streifte sie die Jacke ab und ließ sie als Haufen auf den nächsten Stuhl fallen.

Er sah aus, als hätte er eine Rede für sie vorbereitet, aber sie hob die Hand, bevor er zu sprechen begann. »Ich muss Ihnen zunächst etwas sagen. Ich kannte Jonathan Thomson. Ich war bei ACS für seinen Fall zuständig und anschließend ehrenamtlich als seine Mentorin tätig.«

Sie hatte mit Ressentiments und Widerstand gerechnet und sich darauf vorbereitet, ihn zu überzeugen, dass sie trotzdem die Richtige für diesen Auftrag war, aber in seiner Miene lag keinerlei Überraschung. Allerdings mied er ihren Blick, als sei das Thema ein wenig peinlich.

»Ich bedauere Ihren Verlust«, sagte er. »Diane hat mich heute Nachmittag schon angerufen und mir erzählt, dass Sie mit dem jüngsten Opfer befreundet waren. Das muss hart für Sie sein.«

Sie zuckte die Achseln, als wäre das nebensächlich. »Ich habe ihn seit ein paar Monaten nicht mehr gesehen. Also wollen Sie nicht jemand anderen anfordern?« Na toll, Katherine, rügte sie sich. Diesen Vorschlag hättest du dir ja wohl besser gespart.

»Nach allem, was ich höre, wird das kaum nötig sein. Diane findet nicht, dass die Umstände gegen Ihre Mitarbeit sprechen. Sie denkt vielmehr, Sie könnten bei den Ermittlungen eine große Hilfe sein. Die Frage ist höchstens, ob Sie glauben, Sie kommen damit klar. Gefühlsmäßig.« Sein Blick heftete sich auf die Tischplatte, als ob das letzte Wort ihn verlegen machte.

»Kein Problem.«

»Gut.« Er ließ die Verschlüsse seines Aktenkoffers aufschnappen, zog eine Akte heraus und legte sie auf den Tisch. »Wir nennen den Täter ›Jack‹.« Sein schiefes Lächeln zeigte, dass das nicht seine Idee war. »Wenn unser Jack alle drei umgebracht hat, und es sieht ganz danach aus, dann gibt es ­irgendetwas, was die Opfer gemeinsam hatten und was uns zu ihm führen kann. Alle drei haben in der Bronx gelebt, aber die Leichen waren über die südliche Hälfte des Stadtteils verteilt. Keins der Opfer stammte aus derselben Nachbarschaft, es wäre also gut zu wissen, wo sie Jack in die Arme gelaufen sein könnten. Die Ermittlungen haben schon etliche Möglichkeiten eliminiert. Sie gingen nicht auf die gleiche Schule, hatten keine gemeinsamen Freunde, soweit wir das überblicken, sie arbeiteten auch nicht am gleichen Ort. Nehmen Sie Thomson. Sie werden seine Geschichte besser kennen als ich. Seine Mutter starb an …« Er schlug die Akte auf.

»AIDS.«

Er nickte. »Über den Verbleib des Vaters ist nichts bekannt.« Diesmal fiel sein fragender Blick auf sie statt in die Akte.

Sie nickte abwartend.

»Es gibt einen Onkel in New York, der den Vater des Jungen zuletzt gesehen hat, als der vor sieben Jahren ›für ein paar Tage‹ seinen Sohn bei ihm ablieferte. Alle anderen Verwandten leben in South Carolina. Der Junge ist ihnen nie begegnet. Seine Leiche bleibt in Verwahrung, bis wir da unten jemanden erreicht haben.«

Sie nickte wieder.

»Soweit ich gehört habe, war er …«, er zögerte, »ein interessanter Junge.«

Sie fand es aussichtslos, jemandem Jonathan zu erklären, der ihm nie begegnet war. »Ja, das kann man wohl so sagen.«

Mendrinos bemerkte die dunklen Ringe um Katherines ­Augen, die Art, wie an ihren Handgelenken die Knochen scharf hervortraten. Keine Armbänder, Ohrringe oder Halsketten. Kein Ring. Ihre Hände waren zierlich und ihre Haut so hell, dass er die blauen Linien ihrer Venen an den Innenseiten der Handgelenke sah. »Ich muss Sie warnen. Es handelt sich hier um ungewöhnlich brutale Gewaltverbrechen. Wir benötigen Ihre Hilfe nur im Bereich Ihrer Spezialkenntnisse, nicht beim gerichtsmedizinischen Teil. Es besteht also kein Anlass, sich mit den forensischen Details dieser Verbrechen zu befassen. Tatsächlich rate ich Ihnen energisch davon ab.«

Sie sah ihm direkt in die Augen. Darauf war sie vorbereitet. »Hat Diane Ihnen nicht erzählt, dass sie mir die schlimmsten Missbrauchsfälle zuweist? Die, die sonst niemand verarbeiten kann? Ich habe jede Menge Autopsieberichte gesehen. Ich finde, das Schlimmste sind verhungerte Kinder. Ich habe so viele gesehen, dass ich Ihnen genau beschreiben kann, wie ihre Körper die Muskeln metabolisieren und in welchen Stadium der Dehydration die Lippen aufbrechen.«

Sie merkte, wie sie immer schneller sprach und damit den Eindruck kompetenter Sachlichkeit ruinierte. Sie zwang sich zur Ruhe.

»Oder vielleicht möchten Sie etwas über das gekochte Baby hören. Oder den Vorfall mit den polnischen Würstchen. Oder über den Fall, den wir das Knack-und-Back-Baby nannten …« Sie brach ab. Sie war zu weit gegangen. »Sagen Sie es mir, bevor wir anfangen. Ich will wissen, was mit Jonathan passiert ist. Ich verkrafte das.«

Ihr wurde erst bewusst, dass sie ihn anstarrte, als er seinen Blick von ihrem löste und irgendwo in die Ferne sah. Seine Stimme klang so professionell wie immer. »Er wurde genau wie die anderen beiden ermordet. Er wurde gefoltert, vergewaltigt und getötet.«

Gefoltert. Es hallte durch ihren Kopf. Aber Mendrinos beobachtete sie, und sie hatte nicht die Absicht, sich irgendetwas anmerken zu lassen.

Sie ist gut, dachte er. Diane hatte ihm berichtet, dass sie dem Jungen viel zu nahe gestanden hatte. Und wenn ich ein wirklich guter Mensch wäre, dachte er, würde ich sie nicht an diesem Fall arbeiten lassen.

»Was wissen Sie über den, der das getan hat, über diesen ›Jack‹?«

Mendrinos lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Man könnte denken, er will aufgespürt werden. Er bringt sie irgendwo um und transportiert die Leichen dann an ziemlich öffentliche Orte. Zweimal auf ein Dach, einmal auf ein Abrissgrundstück.« Er seufzte. »Wenn er geschnappt werden will, haben wir ein gemeinsames Anliegen. Wir wollen ihn nämlich kriegen, bevor er den Nächsten erwischt.«

»Was meinten Sie mit gefoltert?«

Aha, jetzt hakte sie also zeitverzögert nach, um ihn nicht merken zu lassen, wie nah ihr das ging. »Er kettet sie an den Handgelenken an. Dann schlitzt er sie mit dem Messer auf. Von der Brust abwärts, vom Bauch aufwärts.« Seine Hände gestikulierten anschaulich über seinem Oberkörper. »Es ist fast, als ob er sie in Scheiben schneiden will. Die Schnitte sind dicht beieinander, die Haut zerfetzt. Manche oberflächlich, manche tief.«

»Sind sie noch am Leben, während er das tut?«, fragte sie in beiläufigem Ton.

Er nickte und vermied weiterhin ihren Blick. »Ein paar Einzelheiten konnten wir bisher vor der Presse geheim halten.« Er wartete ihr Nicken ab und fuhr dann fort. »Alle drei Opfer waren bei ACS aktenkundig.«

Das war es also. Deshalb wollte die Staatsanwaltschaft jemanden von ACS zu den Ermittlungen hinzuziehen.

»Also nicht nur Jonathan.« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und versuchte zu verdauen, dass jeder der toten Jungen ein ACS-Fall gewesen war.

»Und alle waren irgendwann in Pflegeeinrichtungen untergebracht.«

Sie wählte ihre Worte sorgfältig. »Sie werden doch nicht annehmen, dass da eine Verbindung besteht? Ich meine, wir klopfen manchmal Sprüche darüber, dass es in der Bronx ­eigentlich kein Kind mehr geben kann, das noch nicht mit ACS zu tun hatte. Aber das ist bloß ein mieser Witz. Andererseits, wie stehen die Chancen, dass jemand hintereinander drei Jungs ermordet …« Ihre Stimme versiegte.

»Es kann reiner Zufall sein. Aber vielleicht ist es auch ein Bindeglied. Also dachte ich, es könnte hilfreich sein, wenn jemand mit ACS-Einblick uns Hintergrundinfos zum Thema gibt. Diane hat Sie empfohlen. Sie sagte, Sie sind schon lange dabei. Und sie vertraut Ihrem Urteil voll und ganz.

Noch etwas. Mordermittlungen sind einfach so: Es gibt immer verrückte Zufälle, die vielleicht etwas zu bedeuten haben, sich dann aber oft als völlig bedeutungslos erweisen. In der Zwischenzeit haben wir wertvolle Zeit verschwendet, um das herauszufinden.«

»Also, wo waren die Jungs untergebracht?«

»Von Jonathan wissen Sie es ja, er war im Gruppenhaus ­Watson & Green. Craig Wadley, das erste Opfer, lebte mit ACS-Zuwendungen bei seinen Großeltern, aber es gab da wohl Meinungsverschiedenheiten, und so schlief er meist bei Freunden auf dem Sofa. Nach Shawan Castro wurde seitens des Fami­liengerichts gefahndet. Er ist vor einiger Zeit aus einer Einrichtung weggelaufen.«

 

»Und was genau wollen Sie jetzt von mir?«

Er schloss den obersten Hefter des Stapels, der vor ihm lag.

Rasch griff sie über den Tisch und zog den Aktenstapel auf ihre Seite herüber, bevor er seine Meinung noch mal ändern konnte.

»Das sind Kopien von allem, was unserer Meinung nach für Sie wichtig sein könnte. Wir haben bei ACS die Fallakten angefordert. Was ich Ihnen hier gebe, haben unsere Ermittler bereits gesichtet. Aber ich dachte, vielleicht verhilft Ihnen Ihr Fachwissen zu einer Erkenntnis, oder Sie entdecken etwas, das wir übersehen haben, weil Sie mit dem Feld besser vertraut sind. Alles, absolut alles, was irgendwie auf eine Verbindung zwischen den Opfern hindeuten könnte, will ich sofort wissen. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, ob es zu unbedeutend ist. Damit befassen wir uns dann schon. Und sollten Sie feststellen, dass Sie Informationen brauchen, die nicht in diesen Akten stehen, dann geben Sie mir Bescheid.

Ein große Sonderkommission arbeitet an diesem Fall. Kriminalbeamte vom Morddezernat, das Büro der Staatsanwaltschaft und weitere. Ich bin Ihr Kontaktmann. Der zuständige Ermittlungsleiter Stephen Russo ist ein guter Mann, aber bitte unterrichten Sie mich, bevor Sie ihm irgendetwas zutragen, ja?«

Katherine zog die Akten noch näher an sich heran. »Klar«, sagte sie. »Ich hab’s begriffen.«

5

In dieser Nacht träumte sie von Jonathan. An eine Mauer gekettet, zerschnitten und blutend. Sie konnte ihn nicht befreien, obwohl sie es immer wieder versuchte. Er konnte sie nicht sehen. Sie rief wieder und wieder seinen Namen, aber er merkte gar nicht, dass sie da war. Er glaubte, dass er ganz allein in einem stockfinsteren Raum starb.

Schweißgebadet und mit rasendem Herzen wachte sie auf. Eine Weile lag sie reglos neben der sanft schnarchenden Miss Bennett. Ihr Puls beruhigte sich langsam, aber wieder einzuschlafen schien jenseits des Möglichen. Sie schlang die Bett­decke um sich und zog mit ihrem einzigen Stuhl auf die kleine Betonplattform, die ihre Frontveranda darstellte. Dort hockte sie und sah zu, wie der Himmel langsam hell wurde.

Als Seth erblindete, war das irgendwie das Schlimmste. Er hatte Farben und Konturen geliebt. Als Junge hatte er ständig in seinem Zimmer gesessen und mit bunten Malstiften gezeichnet, sehr sorgfältig. Bei Katherines letztem Aufenthalt zu Hause war er bereits blind gewesen.

Später war er auch taub geworden. Katherine war bei ihm, als er starb. Aber sie würde nie erfahren, ob er gewusst hatte, dass sie da war. Sie saß auf der anderen Seite des Zimmers im Sessel und las, und als sie aufsah, war er tot. War ihm in diesen letzten Momenten der Dunkelheit und der Stille bewusst gewesen, dass sie bei ihm war?

Als es vollends Tag wurde, nahm sie Miss Bennett mit auf einen langen Spaziergang. Die Luft des frühen Morgens stach kalt ins Gesicht, die Straßen lagen leblos da. Es war immer noch ungewöhnlich früh, als sie zur Arbeit aufbrach.

Das Gerichtsgebäude, um diese Zeit nahezu ausgestorben, kam ihr seltsam und unvertraut vor. In ihrem Büro holte sie die Akten, die Mendrinos ihr gegeben hatte, aus ihrer Leinentasche und betrachtete dann verstimmt die Oberfläche ihres Schreibtischs. Diane hatte natürlich recht, es war ein Saustall. Sie wollte nicht riskieren, dass sich die Unterlagen der Mord­ermittlung mit denen ihrer Fälle mischten.

Zur Vorbereitung stemmte sie die Hände in die Hüften und bog den Oberkörper einmal weit nach rechts, dann nach links. Als sie sich wieder streckte, blieb ihr Blick an etwas Hellem auf dem Aktenschrank hängen. Ihr fiel nichts ein, was sie dort vergessen haben könnte.

Nach kurzem Zögern trat sie näher, um es sich genauer anzusehen. Sie tat zwei Schritte und lachte los. Jemand – das musste Diane gewesen sein, Annie würde so etwas nie tun – hatte die beiden anatomischen Puppen, die in der Arbeit mit sexuell missbrauchten Kindern als nonverbale Darstellungshilfe der Vorgänge gebraucht wurden, in Fellatiostellung arrangiert. Die Latzhose der kleinen Männerpuppe war heruntergezogen und hing um seine runden Füße, während die braunen Zwirnzöpfe der kleinen Frauenpuppe mit den roten Schleifchen über seine Wurstbeinchen hingen. Eindeutig Dianes Handschrift, dachte sie.

Knapp eine Stunde später öffnete Annie die Tür und fand ­Katherine im Schneidersitz auf dem Boden vor.

»Hat deine Mutter dir nicht gesagt, du sollst dich in deinen guten Sachen nicht auf den dreckigen Boden setzen?«

»Was redest du bloß?«, fragte Katherine geistesabwesend. Dann sah sie auf. »Diane hat mir etwas gebastelt.« Sie nickte in Richtung der kleinen Szene auf dem Aktenschrank.

»Hey. Das ist mein Meisterstück.«

»Im Ernst?« Sie sah Annie überrascht an und vertiefte sich dann wieder in die Papiere vor ihr. »Das hier ist interessant.«

Annie stellte die weiße Papiertüte ab, die sie mitgebracht hatte, und schlug ihren Kalender auf. »Hm?«

Katherine rappelte sich auf die Füße und wischte sich die staubigen Hände an den Hosenbeinen ab, dann klopfte und wischte sie energisch an ihrer Hose herum, um den Dreck wieder abzukriegen, bis sie das Unterfangen als aussichtslos aufgab. »Craig Wadley …« Ihre Stimme verlor sich, als hätte sie mittendrin vergessen, dass sie sprach.

»Wer?«

»Das erste Opfer. Von diesem Serienmörder. Sie nennen ihn Jack. Den Mörder, nicht Craig.«

»Pardon. Wovon sprichst du?«

»Warte mal, hab ich dir überhaupt erzählt, dass alle drei Jungs hier bei ACS aktenkundig waren?«

»Nein«, Annie blickte auf. »Das ist interessant.«

»Ja, aber da ist noch mehr. Ich hab diese Akten von Mendrinos durchgesehen.«

»Du hast schon das Material von der Staatsanwaltschaft? Das ging ja schnell. Du bist erst gestern Nachmittag abgestellt worden, und jetzt ist es noch nicht mal neun Uhr früh.«

»Tja, wie auch immer, Craig war offiziell bei seinen Groß­eltern in Pflege, aber er hat nicht wirklich bei ihnen gelebt. Der Punkt ist, ich habe diese Papiere hier durchgeackert und festgestellt, dass Craig früher in einem Jugendheim gelebt hat.«

»Genau wie Jonathan. Und, was also denkst du jetzt?«

Katherine zuckte die Achseln und setzte sich auf ihren Bürostuhl. Annie zog zwei blaue Pappbecher mit pseudogriechischem Design aus ihrer Papiertüte und reichte ihr einen.

»Danke. Hab ich dir je gesagt, dass ich dich liebe?«

»Nur, wenn ich Kaffee bringe.«

Katherine nahm einen Schluck. Es schmeckte nicht, aber es war schwarz und bitter, und das war nah genug dran. »Ich weiß noch nicht, was ich denke. Ich versuche herauszufinden, was ich denke.«

»Also bist du jetzt Detektiv?«

»Klar, ich bin Sam Spade. Nein, eigentlich sehe ich mich eher als intellektuelleren Typ. Vielleicht Harriet Vane.«

»Dann willst du Lord Peter heiraten?«

Katherine schaute beiseite. »Keine Ehemänner mehr, danke. Erzähl mir nicht, du willst einen?«

Annie ging zum Aktenschrank und zog die oberste Schublade auf. »Vielleicht wäre das schön, weißt du, jemanden zu haben …« Ihre Stimme klang unsicher. Katherine konnte nicht klar bestimmen, ob die Unsicherheit dem galt, was sie sagte, oder der Frage, wie Katherine es aufnehmen würde. »Ich denke manchmal, ich hätte gern jemanden, der sich um mich kümmert, wenn ich alt bin.«

»Ich schätze, da bist du besser beraten, eine Krankenschwester anzuheuern, wenn es so weit ist. Und dir einen Hund zu holen, der bei dir schläft. Meiner schnarcht sogar, also wozu brauche ich einen Mann?«

Die Tür ging auf und Diane steckte den Kopf herein.

»Ich wollte dich schon lange fragen, wie das eigentlich ausgegangen ist. Du hast also niemanden gefunden, der den Hund nimmt?«, fragte Annie.

»M-m, bis jetzt nicht«, sagte Katherine und wandte sich ab. Das wissende Lächeln, das die beiden anderen Frauen tauschten, ignorierte sie ausdrücklich.

Diane sagte: »Ich wollte euch nur warnen. Er ist wieder da. Der Imperator. Ich werde Köpfe rollen lassen.«

Katherine stand auf und raffte ihre Akten, den Kalender und das Gesetzbuch zusammen. »Mein Gott, wie die Zeit vergeht. Der Imperator ist wieder da? Sind denn schon achtzehn Monate rum?«

Diane verschwand, und die Tür schlug zu. Annie drehte sich erstaunt zu Katherine um. »Diane kümmert sich persönlich um den Widerspruch gegen eine Fürsorgeverlängerung? Sie ist doch der Boss. Sie könnte das mühelos einer von uns aufhalsen.«

»Ich schätze mal, du kannst es eine rührselige Geste nennen. Sie hat diesen Fall schon immer. Und nebenbei, sie würde es nicht wagen, ihn jemand anderem aufzuhalsen.«

»Warum nicht?«

»Jeder würde sofort kündigen.«

Die warme Phase des Novembers hielt an, und der Himmel war von einem tiefen, klaren Blau. Um ein Uhr lockte die Aussicht auf eine Stunde Sonnenschein die drei Frauen aus dem künstlichen Licht ihrer fensterlosen Büros. Diane sammelte Sandwich-Bestellungen ein und schlug vor, sich bei den Bänken an der barocken weißen Marmorstatue der Lorelei zu treffen, die absolut unpassend dem Obersten Gericht gegenüber im Park herumstand. Katherine und Annie schlenderten die 161. Straße entlang in Richtung Yankee-Stadion, den Licht­reflexen der Tribünendächer entgegen.

Diane stieß mit einer großen braunen Papiertüte zu ihnen und verteilte die Sandwichs. Trotz der hellen Sonne kroch die Kälte der hölzernen Banklatten durch die Kleidung, und wo eine Brise über ihre Arme strich, entstand sofort Gänsehaut. Die Bäume waren kahl, und um den Sockel des wasserlosen Springbrunnens hatte der Wind die toten braunen Blätter zusammengeweht.

»Hast du den Imperator hinter dich gebracht?«, fragte ­Katherine und schob eine Gewürzgurke zwischen ihre zwei Roggenbrotscheiben zurück.

»Du meine Güte, ihr werdet es nicht glauben«, antwortete Diane, während sie ihr Sandwich auspackte.

»Also«, sagte Annie. »Erzählt ihr mir jetzt mal, worum es da geht?«

»Das weißt du nicht? O Gott, Katherine, erzähl’s ihr.«

»Also«, begann Katherine, »Mister … an seinen echten ­Namen kann ich mich nicht erinnern. Nennen wir ihn den Imperator. Seine Töchter sind schon ewig in Fürsorge. Und alle achtzehn Monate, wenn über eine Verlängerung der Unterbringung verhandelt wird, kommt er, um Widerspruch einzulegen. Er trägt einen schwarzen Anzug, hat einen Bowler auf dem Kopf und, glaub es oder nicht, einen Gehstock.« Katherine lachte in sich hinein.

»Das ist nicht fair. Diane, los jetzt, erzähl schon.«

»Diesmal traf es Richterin Kessler. Der Imperator legte natürlich umgehend Widerspruch ein. Die Richterin sah in die Akte – sie hatte noch nicht mit dem Fall zu tun gehabt – und berief erst mal die Anwälte ins Richterzimmer. Dort fragte sie den Pflichtverteidiger, warum er diesen Quatsch mitmacht. Der versichert, dass er seinem Klienten erklärt hat, die Chancen stünden praktisch gleich null, seine Kinder nach einer Anhörung wiederzubekommen. Sie wirft ihm einen ihrer berühmten Blicke zu und sagt, wenn er sich so ausgedrückt hat, hat er dem Beklagten weit übertriebene Hoffnungen gemacht.«

Katherine und Diane lachten los, holten tief Luft und fingen sich wieder.

»Okay, wir beginnen also mit der Anhörung. Ich rufe die Sozialarbeiterin in den Zeugenstand, frage sie das übliche Zeug und dann, ob sie empfiehlt, die Kinder wieder in die Obhut des Beklagten zu geben. Sie sagt natürlich nein. Ich frage sie warum, und sie sagt völlig unprofessionell: ›Der spinnt doch‹, was natürlich wahr ist. Da wirft er seinen Gehstock nach ihr. Die Justizbeamten konfiszieren seinen Stock, und er wird von Richterin Kessler scharf verwarnt.

Dann frage ich sie: ›Was ist die Grundlage Ihres Befundes?‹, und sie guckt mich an, als ob ich spinne, und dann, Gott schütze ihre arme Seele, sagt sie: ›Na, er behauptet, der König der Bronx zu sein, der Präsident der Vereinigten Staaten und der Imperator der Vereinten Nationen.‹«

Mittlerweile lachten sie alle drei Tränen, und Katherine stellte ihre Limonadendose neben die Bank, damit sie sie nicht umwarf.

»Dann ruft der Beklagte: ›Nein, sie lügt, sie lügt, die Schlampe lügt!‹, und natürlich kriegen wir einen neuen Verwarnungs­hagel von Richterin Kessler. Wenn er sich nicht beherrsche, werde er hinausgeworfen. Daraufhin zeigt er Kessler den Mittelfinger, und sie wird beinahe ohnmächtig und lässt diese jämmerliche Karikatur eines Vaters von den Gerichtsdienern aus dem Saal schleifen. Dann zitiert sie uns zu einer weiteren Konferenz in ihr Büro.

 

Die Richterin ist natürlich völlig fertig, schnorrt erst mal eine Zigarette von der Rechtshelferin, obwohl sie seit über ­einem Jahr nicht mehr geraucht hat, und fällt dann über den armen Pflichtverteidiger her. Der sagt, sein Klient hätte es nicht so gemeint, er käme aus einer fernen ländlichen Kultur, wo diese spezielle Geste eine Art Respektsbezeugung sei. Kessler ist so ausgerastet, dass ich schon fürchtete, sie würde ihn zusammenschlagen.

Jedenfalls sagt sie irgendwann, los jetzt, wir wollen das vor der Mittagspause hinter uns bringen, und wir marschieren alle wieder in den Gerichtssaal, und die Gerichtsdiener bringen den Gentleman zurück. Sie verwarnt ihn erneut, und er sagt: ›Aber, Fräulein Euer Ehren, sie lügt doch«, und Kessler erklärt ihm, dass er schon noch Gelegenheit bekommt, seine Aussage zu machen, nämlich wenn sein Anwalt ihn als Zeugen aufruft, aber er hört einfach nicht auf zu protestieren, und schließlich sagt sie, damit es weitergeht: ›Also gut, inwiefern lügt sie?‹« Diane warf den Kopf zurück und presste sich die Hand auf den Mund.

Nach einem Augenblick japste sie: »Okay. Und er sagt: Ich bin der Präsident der Vereinten Nationen, der König der USA und der Imperator der Bronx.«

Als ihr Gelächter verebbte, fragte Annie: »Warum hat Kessler ihn nicht kurzerhand für eine Schnelldiagnose nach oben zur psychologischen Begutachtung geschickt?«

Katherine antwortete für Diane. »Sinnlos. Er hat schon eine ganze Reihe von Begutachtungen hinter sich, aber er wurde nie als Gefahr für sich selbst oder andere eingestuft.«

Katherine und Diane kämpften um ernste Mienen, verloren jedoch und überließen sich einem weiteren Lachkrampf. Natürlich musste jeder, der sie belauschte, sie für absolut herzlos halten.

Dabei wollte der Rest der verdammten Welt gar nicht wissen, was mit diesen Kindern geschah. Die glauben alle, sie sind viel zu empfindsam, um sich dem auszusetzen, was wirklich passiert, dachte Katherine bitter. Sie wollen es nicht wissen, weil sie sonst etwas dagegen tun ­müssten.

Annie schüttelte den Kopf über die beiden, aber Katherine hätte schwören können, dass sie selbst ein Grinsen unterdrückte.

Die Luft war wirklich kühl. Das Jahr war wohl doch schon zu weit fortgeschritten, um noch draußen zu essen. Schließlich war es November.

Sie schlenderten die 161. Straße entlang zum Gericht zurück. »Na, Katherine«, sagte Diane, »hast du schon raus, ob die Verbindung der drei toten Jungs zur ACS von Bedeutung ist?«

»Alles, was mir bis jetzt dazu eingefallen ist, wirkt viel zu weit hergeholt. Ich habe die Gesprächsprotokolle mit sämtlichen Verwandten, Freunden und sonst wem durchgelesen. Soweit wir sagen können, kannten sich die Jungs untereinander nicht, hatten keine gemeinsamen Freunde und verkehrten nicht in den gleichen Kreisen. Bis jetzt habe ich nichts weiter gefunden, außer dass alle drei Jungs mal in irgendeinem Gruppenheim gelebt haben.«

»Können wir was tun, um zu helfen?«

»Klar. Sagt mir, was ich übersehen habe. Der erste Junge, Craig Wadley, war bei seinen Großeltern in Pflege. Er war kurz in einem Gruppenhaus, nachdem er seinen Eltern abgesprochen wurde, dann haben seine Großeltern ihn freiwillig zu sich genommen. Obwohl er zu der Zeit, als er umgebracht wurde, nicht bei den Großeltern lebte. Er war mit in das Apartment eingezogen, wo seine Freundin mit ihrer Mutter, diversen Brüdern und Schwestern und weiteren Verwandten lebte. Übrigens, seine Freundin ist schwanger.«

»Wie alt ist sie?«, fragte Diane.

»Fünfzehn.« Katherine dachte an all die langen, redundanten Diskussionen mit Barry über seine Sehnsucht nach Kindern. Sie endeten alle mit demselben Ergebnis: Katherine war nicht bereit dazu. ›Noch nicht‹, hätte Barry für sie hinzugefügt.

Rein verstandesmäßig begriff sie durchaus, dass andere Leute Kinder wollten. Was sie nicht verstand, war warum. Es gab unendlich viele Kinder auf der Welt, und ihre Existenz diente lediglich dazu, die Gesamtsumme des weltweiten Elends zu erhöhen.

Natürlich sahen die Kinder ihrer Bekannten, ausgestattet mit privaten Kindertagesstätten, jamaikanischen Kindermädchen und Sportbuggys von italienischen Designern, nicht gerade aus, als würden sie leiden.

»Und warum«, drängte Annie, »haben die Großeltern uns nicht gemeldet, dass der Junge nicht mehr bei ihnen lebt?«

Diane lachte. »Weil sie dann das Pflegegeld nicht mehr bekommen hätten. Und was hätte ACS auch unternehmen sollen?«

Sie kamen an einem kleinen, schäbigen Büro mit einer Glasfront vorbei. Auf einem Schild im Fenster stand: »Strafverfahren, Scheidungen für 99 $, Insolvenzen. Notarielle Beglaubigungen. Se Hablas Espanol.«

Vor dem Gerichtsgebäude passierten sie die lange Schlange, in der normale Bürger darauf warteten, den Metalldetektor zu passieren. Sie mussten frieren, aber wenigstens regnete oder schneite es nicht.

Neue Richter waren häufig überrascht, wenn sie ihren ersten Fall eröffnen wollten und eine der Parteien noch nicht im Gerichtssaal anwesend war. »Hören Sie, Richter«, wandte dann der Gerichtsschreiber vorsichtig ein, »vielleicht ist es noch ein bisschen früh. Sie stehen vermutlich unten in der Schlange und versuchen reinzukommen.«

»Sie machen sich wohl über mich lustig«, mochte die indignierte Antwort des jungfräulichen Richters lauten. »Es ist schon elf Uhr. Wollen Sie mir erzählen, da warten immer noch Leute auf Einlass?«

»Jawohl, Euer Ehren, so läuft das hier.«

Diane folgte Katherine und Annie in ihr Büro.

»Und es gibt keine andere Verbindung zwischen diesem Craig Wadley und Jonathan?«

»Ich hab keine gefunden. Jonathan wohnte im Gruppenhaus Watson & Green, Craig lebte – nur kurz – im Robert-Leffler-Jugendheim, dann offiziell bei seinen Großeltern, aber in Wahrheit bei seiner Freundin. Craig stand auf Partys, sagen seine Leute. Er kam oft lange nicht nach Hause. Als seine Leiche auf einem Dach gefunden wurde, vermissten sie ihn seit drei Tagen. – Ich hoffe, ich finde noch was Brauchbares in den Fallakten. Die sollten eigentlich schnellstmöglich hergeschickt werden, aber ihr wisst ja, was das hier bedeutet.«

Diane war schon fast an der Tür, da drehte sie sich noch mal um und fragte: »Was ist mit dem anderen Jungen?«

»Shawan Castro. Für den lag eine Fahndungsmeldung vor. Er war aus einer stationären Suchttherapie abgehauen und lebte wohl als Obdachloser, soweit das jemand sagen kann. Gelegentlich zeigte er sich bei einem Freund und schlief dort ein paar Nächte auf dem Sofa. Die Polizei konnte niemanden ausfindig machen, der weiß, wo er die letzten Wochen verbracht hat, bevor seine Leiche gefunden wurde.«

Es herrschte einen Augenblick Stille. »Wann ist Jonathans Beerdigung?«, fragte Diane und öffnete die Tür.

Katherine erschrak. »Ich weiß es nicht. Ich habe nicht mal daran gedacht. Ich meine, ich bin doch keine Verwandte oder so.«

»Mädchen, wenn du nicht daran denkst, wer dann?«

Das war jetzt nicht das, was sie hören wollte.

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