Die Farbe der Leere

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2

Wenn man nur lange genug für die Stadt arbeitet, dachte sie, als sie sich in dem Büro umsah, das sie mit Annie im siebten Stock des Familiengerichtsgebäudes teilte, kriegt man obendrein auch noch das hier:ein schäbiges, fensterloses Kabuff mit zwei Metallschreibtischen, bestückt mit je einem vorsintflutlich anmutenden Rechner, dazu Akten auf jeder waagerechten Fläche einschließlich des Fußbodens, einen zerschrammten Aktenschrank und einen rostenden Papierkorb.

Sie rief: »Herein!«, als sie das Klopfen an der Tür hörte. Eine große, runde Frau, den großen, runden Körper in ein mit sanften Farben bedrucktes Kleid gehüllt, betrat den Raum mit einem ziemlich kleinen Jungen an ihrer Seite. Katherine begrüßte das Kind und wies die Fallbetreuerin an, im Flur zu warten. Die Frau nickte und fragte dann rasch: »Haben Sie das mit Jonathan Thomson gehört?«

Erschrocken betrachtete Katherine die Frau genauer. Jetzt erinnerte sie sich: Sie war die für Jonathan zuständige Fall­betreuerin gewesen. An ihren Namen konnte sie sich nicht erinnern. Sie sah tagtäglich viel zu viele Fallbetreuer.

»Ich bin Julia Williams.«

»Ja, natürlich, ich erinnere mich«, sagte Katherine. »Was soll ich über Jonathan gehört haben?«

Nur zu gern hätte sie jetzt vernommen, dass er wieder auf die Privatschule ging, deren Besuch sie ihm ermöglicht hatte. Er war dort in die neunte Klasse eingestiegen. Seine Noten waren von der ersten Woche an überragend. Er schrieb für die Schulzeitung. Sein Gesangstalent wurde entdeckt und sein Stipendium erweitert, um Stimmbildung und Einzelunterricht mit abzudecken.

Seine Lehrer hätten sich sicher nicht ungern das Verdienst an seinen Erfolgen zugeschrieben. Aber, so dachte Katherine, sie mussten vom ersten Moment der Begegnung an gewusst haben, dass das alles allein von Jonathan ausging und mit niemandem sonst zu tun hatte. Und dieselben Lehrer waren völlig entgeistert, als er die Schule verließ, und gaben nur höchst vage Erklärungen dazu ab. Ihre Entrüstung stand in keinem Verhältnis zu der erlittenen Zumutung. Es gehen ständig Kinder von Schulen ab, aus guten und aus schlechten Gründen, und in manche von ihnen haben die Lehrer viel Anstrengung investiert. Doch in Jonathans Fall kreideten sie ihm seine Undankbarkeit mit besonderem Ingrimm an.

Katherine verstand diesen Unmut. Sie empfand ihn selber.

Doch wie Mrs. Williams’ betretener Blick ihr schon verriet, drehte sich diese Neuigkeit nicht darum, dass Jonathan wieder beim Griechischstudium war und die Hauptrolle im Schul­musical spielte. »Er wurde umgebracht, Ms. McDonald. Sie haben doch von dem Serienmörder gehört, der hier die zwei Jungs gekillt hat?«

Das hatte Katherine nicht. Die New York Times brachte nur die sensationellsten Verbrechen, und sie las weder Boulevardblätter noch die Stadtteilzeitungen der Bronx. Benommen nickte sie, um sich Zeit zu verschaffen, das Gehörte zu verdauen. Nein, Mrs. Williams musste sich irren. Oder Katherine hatte sie nicht richtig verstanden.

»Er hat auch Jonathan erwischt. Sie haben die Leiche des ­armen Jungen gestern gefunden.«

Der offene Kummer in Mrs. Williams’ Gesicht entfachte in Katherine einen plötzlichen Zorn. Wir haben es hier jeden Tag mit Tod und ruinierten Kindern zu tun, dachte sie, wir können nicht um jeden Einzelnen weinen. Mit vorgetäuschter Ruhe schickte sie Mrs. Williams aus dem Raum und wandte sich dem Jungen zu, der still neben ihr gestanden hatte. Laut Akte war er dreizehn, sonst hätte Katherine ihn eher auf zehn geschätzt. Jose war unnatürlich dünn und hinkte auf Beinen daher, die an verdrehte Zweige erinnerten. Seine braunen Augen waren gesprenkelt mit goldenen Flecken.

Sie wies den Jungen an, sich auf den harten Stuhl zu setzen, der neben ihrem Schreibtisch stand, dann besann sie sich und platzierte ihn in ihrem eigenen gepolsterten und bequemeren Bürosessel. Er wirkte darin noch kleiner.

Sie hatte die medizinischen Berichte schon gelesen. Sie wusste, dass Jose, sein jüngerer Bruder und seine kleine Schwester alle an Herpes, Tripper, Chlamydien und Feigwarzen litten. Das war ein Thema, das sie nicht mit Jose besprechen musste. Sie brauchte von ihm keine Zeugenaussage zum medizinischen Sachverhalt. Nach den Statuten hatten ärztliche Diagnosen in einem Kinderschutzverfahren automatisch Beweiskraft.

Der Nachweis, dass ein Kind geschlechtlich übertragene Krankheiten hatte, genügte für eine Missbrauchsklage, sofern keine glaubwürdige Erklärung seitens der Eltern vorlag. Rein technisch gesehen musste sie nur die Diagnose zur Beweisaufnahme einreichen und nachweisen, dass das Kind bei den Beklagten, den Eltern und dem ebenfalls dort lebenden Onkel, wohnte. Damit konnte sie durchkommen, ohne Joses Aussage überhaupt zu brauchen.

Der Anwalt der Eltern mochte jedoch anführen, dass der Junge Möglichkeiten hatte, die Wohnung zu verlassen, auf Abenteuer auszugehen und sich die Geschlechtskrankheiten auf eigene Faust zuzuziehen. Diese Erklärung war allerdings schon gewagt, was seinen siebenjährigen Bruder betraf, und würde bei der fünfjährigen Schwester sicherlich nicht mehr tragen. Aber vielleicht würde der Verteidiger so weit gehen zu behaupten, Jose selbst hätte seine jüngeren Geschwister ­infiziert.

Katherines Hoffnung war nun, dass Jose sich als brauchbarer Zeuge erwies, so dass diese potenzielle Hintertür für die Eltern und den Onkel zugeschlagen würde.

Aber Kinder waren als Zeugen generell nicht verlässlich. Sie konnten im Zeugenstand plötzlich alles Mögliche behaupten und taten es auch. Fast jeder Anwalt der Dienststelle konnte eine Horrorgeschichte erzählen, die das belegte.

Ganz abgesehen von diesem Aspekt der Unvorhersagbarkeit war es Katherine zuwider, die geschädigten Kinder weiterer Unbill auszusetzen. Sie würde ein Kind nie als Zeugen einvernehmen, wenn es nicht absolut notwendig war. Aber ihr lag sehr daran, dass die Eltern wegen Missbrauchs verurteilt wurden – sie wollte nicht, dass sie mit Vernachlässigung davonkamen. Also brauchte sie seine Aussage.

Jose saß da, die Schultern hochgezogen, mit hängendem Kopf.

»Weißt du, wer ich bin?«

Er schüttelte den Kopf, ohne aufzublicken. Zwei Anwälte an einem Vormittag war mehr, als ein Kind zu bewältigen haben sollte.

»Ich bin Katherine McDonald. Ich handele im Auftrag des Amts für Kindeswohl. Ich bin ACS-Anwältin, aber nicht deine Anwältin. Ms. Jasper ist deine Anwältin.«

Vermutlich gingen die Spitzfindigkeiten, mit denen sie ihn überschütten musste, über sein Verständnis. Wobei ­Katherine sogar fand, es wäre besser für ihn, nicht zu verstehen, wie wenig Macht und Möglichkeiten er hatte. Was half es ihm zu wissen, dass er in die Maschinerie der städtischen Behörden geraten war und sein Schicksal jetzt in den Händen von unterbezahlten, überarbeiteten Zahnrädchen lag?

Er nickte.

»Hat Ms. Jasper dir gesagt, dass es okay ist, mit mir zu ­reden?«

Er nickte wieder. Sie erklärte ihm, dass es ihr Job war, dem Richter seinen Fall vorzutragen. Sie vertrat vor Gericht das Amt für Kindeswohl. Seine Rechtsanwältin, Jeanine, vertrat Jose, seinen Bruder und seine Schwester. Ein dritter Anwalt, vom Gericht ernannt, vertrat seine Eltern, ein vierter seinen Onkel. Sie war sicher, dass er ihr nicht mehr folgen konnte, aber die Zeit lief ihr davon, und so ackerte sie sich weiter hindurch.

Jose würde als Zeuge auftreten, es war wichtig für ihn, dem Richter die Wahrheit zu sagen, erklärte sie. »Das ist das Familiengericht, also kann dieser Richter niemanden ins Gefängnis stecken. Wenn eine Straftat festgestellt wird, verhandelt das ein anderes Gericht mit anderen Anwälten und einem anderen Richter. Der Richter vom Familiengericht stellt nur fest, ob dir oder deinen Geschwistern etwas angetan wurde, und wenn ja, wie ACS euch am besten helfen kann.«

Jose blickte auf, und sie erschrak vor der kalten Intelligenz in seinen Augen. Dieser Junge würde bestimmt nicht so tun, als glaubte er, sein Schicksal läge ihr am Herzen. Sie musste weder mit seinen Eltern weiter in der schäbigen Wohnung leben noch sich in ein lausiges Pflegeheim stecken lassen. Er beantwortete ihre Fragen mit einer vernehmlichen Provokation im Ton. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Sie hatte nichts getan, um sich sein Vertrauen zu verdienen.

Er berichtete, wie er und seine Geschwister bei seinen Eltern und seinem Onkel gelebt hatten. Es war der Onkel, der ihn sexuell missbraucht hatte, wobei er diesen Ausdruck nicht benutzte. Später hatte der Onkel auch Freunde mitgebracht, die das Gleiche taten, als Gegenleistung für Drogen oder Geld. Jose erklärte, seine Eltern hätten von all diesen Aktivitäten in ihrem Haushalt absolut nichts mitbekommen. Das war der Punkt, an dem Katherine ihm nicht glaubte.

Gemessen am Durchschnitt von Katherines Fällen war dieser nicht besonders schockierend. Sie ging davon aus, dass nichts, was Familienmitglieder einander antun konnten, sie noch zu schockieren vermochte.

Jose beschrieb seine zahllosen Vergewaltigungen in einer klaren, emotionslosen Sprache. Oft sah er ihre nächste Frage voraus und beantwortete sie schon, bevor sie sie stellte. Das war an und für sich nichts Neues. Die Gefühlstaubheit, die Missbrauch oft zur Folge hat, konnte so eine Haltung hervorrufen. Aber in diesem Fall, dachte sie, war da noch etwas anderes. Sie hatte das Gefühl, dass Jose genau wusste, wie der Kontrast zwischen den grausamen Fakten und seinem sachlichen Berichts­ton das Entsetzen des Zuhörers steigerte. Aber nein, sagte sie sich, der Junge konnte unmöglich so raffiniert sein.

Jonathan war genauso brillant gewesen, aber ihm fehlte gänzlich Joses Zynismus. An den fernen Rändern ihres Bewusstseins schwebte die Erinnerung an Jonathan wie ein Schatten. Sie stieß sie fort. Jose und seine Geschwister hatten ihr ganzes kurzes Leben lang unter Mangel an Aufmerksamkeit zu leiden gehabt. Ihre Eltern, ihre Verwandten, ihre Ärzte und ihre Lehrer – nicht ein einziger Mensch hatte bemerkt, dass diese Kinder wiederholt vergewaltigt wurden und, wenn man Jose ansah, unterernährt und vernachlässigt waren. Sie hatten ein Recht auf Katherines volle Aufmerksamkeit für die kurzen Momente, in denen ihr Leben in ihrer Hand lag.

 

Es war leicht für sie, sich in ihren Fällen zu verlieren. Barry hatte sich nie ausdrücklich darüber beklagt. Stattdessen hatte er seine Kommentare dazu als Besorgnis um ihr Wohlbefinden gestaltet. Sie sei zu talentiert für so einen undankbaren Tretmühlenjob. Wenn sie glaubte, gutherzige Seele, die sie war, dass sie zum Wohle der Menschheit ihre Karriere opfern müsste, sehr schön. Aber sie schuldete es sich selbst, das alles hinter sich zu lassen, wenn sie das Büro verließ. Sie sei emotio­nal niemals anwesend, hatte er einmal gesagt. Was immer das bedeuten mag, hatte sie gedacht, aber nicht laut gesagt.

Die Geschichte, die Jose erzählte, hatte er bereits einer langen Reihe von Fremden vorgetragen. Angefangen mit dem Sozialarbeiter, der dem ersten Verdacht auf Missbrauch nachgegangen war, dann den ermittelnden Polizeibeamten. Er musste sie vor dem Missbrauchsermittler der Staatsanwaltschaft wiederholen, vor seiner Anwältin und dem Psychologen, den er heute Morgen getroffen hatte. Katherine war nur ein Glied mehr in dieser Kette, und dies war auf lange, lange Sicht bei weitem nicht das letzte Mal, dass er seine schmutzige kleine Geschichte würde ausbreiten müssen.

Zu der Zeit, als Annie mit noch intaktem Idealismus im Büro anfing, hatte Katherine längst aufgehört zu glauben, sie könnte das Leben dieser Kinder irgendwie verbessern. Sie erkannte in Annie ihr vergangenes Selbst – bevor sie hatte erkennen müssen, dass ihr Eingreifen oft noch mehr Leid verursachte als die Missstände, die sie beheben wollte. Wenn du den Job nur lange genug machst, endet eines Tages ein Kind tot oder verstümmelt, und du wirst nie sicher sein, dass es nicht deine Schuld war.

Es war Diane zu verdanken, dass Katherine die ersten Jahre durchgehalten hatte. Die beiden waren die einzig Übriggebliebenen aus jenen Tagen. Alle anderen hatten sich längst davongemacht und irgendetwas anderem zugewandt – egal was. Andere hatten ihre Plätze eingenommen und waren wieder gegangen, frei nach dem Rotationsprinzip. Ein Mensch kann das nur eine begrenzte Zeit aushalten, sagten sie. Katherine war jetzt fünfzehn Jahre da, Diane noch länger.

Einer der Grundsätze, die Diane ihr beigebracht hatte, bestand darin, nicht zu fragen, was nach dem Abschluss eines Falls aus den Beteiligten wurde. Das war nicht mehr ihr Pro­blem, und sie hatte genug Probleme.

Sie war nicht hier, um die Kinder glücklich zu machen, sondern um das Richtige zu tun. Diane hatte einmal gesagt, es gab Anwälte, die glaubten, sie könnten mit dieser Arbeit die Wunden ihrer eigenen Kindheit schließen. »Sei keine von denen, das funktioniert nicht.«

»Denk nie, dass diese Kinder dich lieben werden«, hatte ­Diane gesagt. »Denk nie, dass sie dir dankbar sein werden.«

Katherine folgte Dianes Ratschlägen weitgehend. Sie nahm nicht an, dass diese Kinder überhaupt über sie nachdachten, von Dankbarkeit ganz zu schweigen. Ihr Dasein war erfüllt vom Auftreten ständig wechselnder Darsteller, die als Fall­betreuer, Heimvorsteher oder Pflegeeltern in ihr Leben traten, sie selbst spielte darin weniger als eine Nebenrolle.

Sie trichterte Jose nochmals ein: Alles, was er zu tun hatte, war, die Wahrheit zu sagen. Sie sagte ihm nicht, dass alles gut würde. Realistisch betrachtet war er angesichts seines Starts ins Leben schon erledigt. Das Einzige, was sie noch für ihn tun konnte, war, ihn wenigstens nicht zu belügen.

Katherine begleitete Jose zurück zu Ms. Williams, die im Fallbetreuerraum auf einem Metalltisch voller Fastfoodverpackungsmüll Papierkram erledigte. Falls irgendjemand diesen verlorenen Jungen trösten konnte, dachte Katherine, dann am ehesten noch Ms. Williams mit ihrem großen mütterlichen Busen.

Zurück in ihrem Büro hievte sie sich die Akten ihrer neuen Fälle unter den Arm, um damit nach unten zu gehen, und hielt plötzlich einen Augenblick inne.

Sie war für einen Mord verantwortlich. Das hatte sie im selben Moment begriffen, als sie von Jonathans Tod erfuhr. Aber damit würde sie sich später auseinandersetzen.

Sie ging nach unten, um ihre neuen Anklageschriften einzureichen, und probte im Stillen, was sie dem Ermittlungsrichter sagen würde, wenn er fragte, warum Ms. Jones als Vertreterin des Amts für Kindeswohl das unglückselige Kind nicht gerettet hatte. Sie stellte sich vor, wie sie zum Richter sagte: »Nun ja, Euer Ehren, sie hat immerhin die Handschellen beschlagnahmt.«

3

Als Katherine ins Büro zurückkam, war Annie verschwunden, dafür saß Diane neben ihrem Schreibtisch, blätterte im Law Journal und knabberte Junkfood aus Annies Geheimvorräten.

»Wie könnt ihr in diesem Chaos nur irgendwas finden?«, fragte sie rhetorisch und wedelte mit einem Käsechip über die Schreibtische. Unter den Bergen von Akten und Anträgen war unmöglich zu erkennen, wo ein Schreibtisch endete und der andere begann.

Katherine zuckte die Achseln. »Wenn ich die Anträge draußen liegen lasse, kann ich wenigstens so tun, als hätte ich eine Chance, vor dem Gerichtstermin den Fall vorzubereiten.«

»Kommt das oft vor?«

Katherine überhörte das. »Wo steckt Annie?«

»Beantragt irgendeine Vertagung.«

»So spät noch?«, fragte Katherine.

Diane zuckte die Achseln. »Sie steht vor Bowers.«

»Ach so.«

Der Terminkalender des Gerichts war bekanntlich notorisch überfüllt, und Richter Bowers kam mit seinen Verhandlungen fast nie bis Feierabend durch. Dann musste er Downtown anrufen und eine Genehmigung für die Bezahlung der Überstunden der Gerichtsdiener, des Schreibpersonals und der übrigen Justizbeamten einholen. (»Downtown« hieß für alle Abteilungen des Gerichts das Zentralbüro in Manhattan. ­Diane verglich ihre Situation in der Bronx gern mit einem kleinen Außenposten einer abgelegenen Provinz des Römischen Reichs.) Jedes Vorkommen von Überstunden musste im Bericht des Richters verzeichnet werden und war ein Schandmal für ihn oder für sie. Bowers holte mit schöner Regelmäßigkeit Überstundengenehmigungen ein, folglich gingen alle davon aus, dass er sich nicht um Wiedereinstellung zu bemühen gedachte, wenn seine laufende Amtsperiode endete.

»Komm, iss auch was«, drängte Diane.

Widerstrebend nahm Katherine eine Handvoll trockener Kekse entgegen und fragte betont beiläufig, ohne Diane anzusehen: »Der Staatsanwalt, dieser Mendrinos …«

Diane lächelte und öffnete schon den Mund, um zu antworten, doch Katherine schnitt ihr das Wort ab.

»Wenn ich will, dass du mir einen Kerl suchst, dann sag ich’s dir. Ich will es nicht.«

»Schätzchen, ich weiß nicht, wie du darauf kommst, ich würde unsere Freundschaft riskieren, um dich mit jemandem zu verkuppeln. Hör gut zu. Die Welt dreht sich nämlich nicht bloß um dich. Heut Morgen bekam ich einen Anruf von Downtown. Wir sind aufgefordert, in einem Mordfall mit dem Büro der Staatsanwaltschaft zu kooperieren. Ein Serienmörder bringt Teenager um, und der letzte stand unter der Obhut unserer Behörde – er lebte in einem ACS-betreuten Gruppenheim. Ich bin angewiesen, jemanden von unserem Büro abzustellen, der mit dem Staatsanwalt die Akten durchgeht. Gott steh mir bei, aber ich dachte da spontan an dich. Dann stellt sich heraus, der zuständige Staatsanwalt ist Dan, den ich seit Ewigkeiten kenne. Heute Vormittag hab ich mit ihm telefoniert und von dir erzählt. Als ich ihn in der Mittagspause sah, schien es naheliegend, dich gleich vorzustellen.«

Katherine schlug die Hände zusammen. »Ich fürchte, ich hab mich vorhin wie eine Zicke aufgeführt.«

»Das kannst du wohl sagen.«

»Das passt mir eigentlich gut.« Katherines Stimme klang, als dächte sie schon an etwas anderes. »Ich wollte dich sowieso bitten – da du beim Mittagessen so vertraut mit Mendrinos schienst –, ihn mal zu fragen, wer in dem Serienmörderfall der ermittelnde Staatsanwalt ist. Jonathan Thomson … er war das letzte Opfer. Ich hoffte, du könntest – mir zuliebe – ­Mendrinos bezirzen, dass er für mich sondiert, was da läuft.«

Dianes Miene zeigte Bestürzung. »Ach Gott, der arme Junge. Oh, Katherine, das tut mir so leid. Ich hab gar nicht mitgekriegt … Ich hab die Namen der Opfer gar nicht registriert, obwohl ich sie gehört habe. Wie schrecklich.« In den Winkeln ihrer großen dunklen Augen glitzerten Tränen, vergrößert durch die Gläser ihrer Katzenaugenbrille.

Annie kam zur Tür herein, aber keine der beiden sah sie an. Achselzuckend ging sie hinter ihren Schreibtisch und setzte sich.

Diane hatte sich schon wieder im Griff, nur ihre Stimme klang ungewöhnlich leise und angespannt. »Ich weiß nicht, Schätzchen … vermutlich solltest du das dann lieber nicht übernehmen. Besser, jemand macht das, der ihn nicht so gut kannte wie du.«

Katherines Kiefermuskeln spannten sich, und ihr Blick begann zu funkeln. »Wenn du mir den Auftrag entziehst, kündige ich.«

Überraschung weitete Dianes Augen, und sie war einen Augenblick still, als müsse sie etwas abwägen. »Ich scheiß auf dich. Wenn mir wirklich an dir läge, müsste ich dringend dafür sein, dass du kündigst.«

Annie hatte ihre Vorgesetzte noch nie so reden hören und blickte verdattert von einer zu anderen.

Katherine lachte.

»Ich hab ihm gesagt, du rufst ihn an, bevor du heute Schluss machst. Zeig ihm, wie wir uns überschlagen vor Bereitwilligkeit, mit der Staatsanwaltschaft zu kooperieren. Aber … sag mir noch eins. Bevor du von diesem Auftrag wusstest, was hast du dir davon versprochen, mit dem Staatsanwalt plaudern zu dürfen?«

»Ich weiß nicht, was das jetzt zur Sache tut.«

Annie konnte nicht recht entscheiden, ob dieser Wortwechsel Ernst oder Spaß war.

»Hör mal zu, Mädchen. Dieser Spezialauftrag stellt mein Urteilsvermögen auf den Prüfstand. Ich hab nicht vor, für den Rest meines Lebens dieses gottverlassene Bronx-Ressort hier am Ende der Welt zu leiten. Also riskiere ich nicht dir zuliebe meinen guten Ruf, solange du nicht offen zu mir bist. Rede Klartext mit mir.«

Katherine sah Diane ausdruckslos an. »Meine persönliche Involviertheit wird die Arbeit nicht beeinträchtigen.«

Diane sah sie fordernd an. Das reichte ihr nicht.

»Diane …« Katherine brach ab, dann fuhr sie in einem Ton fort, der ihrer gewohnten Stimme wesentlich näher war: »Du bist diejenige, die mir beigebracht hat, nichts von alldem hier persönlich zu nehmen. Und du hattest recht. Ich hätte Jonathan gar nicht erst so nah an mich heranlassen sollen.«

Diane unterbrach sie scharf: »Das hab ich nie gesagt.«

Katherine zuckte die Achseln. »Wie auch immer. Ich werde diesen Fehler nie wieder machen. Aber Jonathan ist tot. Er ist tot, und ich will einfach wissen, was passiert ist. Sieh mal, ich hab mich seiner angenommen, wie man sich einem Projekt verpflichtet oder so, und dann habe ich ihn hängenlassen. Das hätte ich nicht tun sollen. Ich war wütend auf ihn, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, und er wusste, dass ich von ihm enttäuscht war. Ich hab ihn fallenlassen. Ich schulde ihm noch was.«

Diane antwortete nicht. Die Stille zog sich in die Länge, und schließlich fand Annie, dass sie etwas sagen musste. »Du kannst dir doch nicht die Schuld daran geben.«

»Ach nein?«

Dianes Stimme war leise. »Guter Gott, er wurde ermordet. Das hat doch nichts mit dir zu tun.«

»Da hat sie recht«, beharrte Annie. »Er wurde ermordet. Mord ist keine vorhersehbare Konsequenz von ein paar ausgefallenen Besuchen.«

Nichts in Katherines Gesichtsausdruck änderte sich. »Wie auch immer. Dann ist es eben nicht meine Schuld. Jedenfalls hat es keinen Einfluss auf meine Befähigung, Mendrinos zu unterstützen.«

»Kind …« In Dianes Augen standen wieder Tränen. »Ach, vergiss es. Die Mädchen warten mit dem Abendessen auf mich, und heute ist Mittwoch, also geh ich zum Gottesdienst. Und ich sag dir was, ich werd ein Gebet für dich sprechen, und eins für Jonathan. Gott segne seine arme kleine Seele.«

Katherine wartete, bis Diane zur Tür hinaus war, und murmelte dann: »Was immer das bringen soll.«

 

»Sie geht in die Kirche?«, fragte Annie.

»Ja, das braucht sie wohl.« Katherine schüttelte den Kopf. »Sie hat’s mir mal erzählt, bevor sie hinging. Sie hatte da diesen Fall. Der Name des Kindes war Farrely. – Egal, vergiss es. Mich nervt es, dass sie hinrennt und zu Gott betet, der sich leider zu fein war, um Jonathan zu retten. Verdammt, ich begreife nicht, wie man zu einem Gott beten kann, der zulässt, dass dreizehnjährige Mädchen cracksüchtige Babys zur Welt bringen. Und den ganzen anderen Scheiß da.« Sie schwenkte die Hand in Richtung der Aktenberge auf ihrem Tisch, dann griff sie, ohne auf eine Antwort zu warten, zum Telefon.

»Katherine, sag mir, dass du nicht glaubst, es wäre deine Schuld.«

Katherine hielt inne, den Hörer in der Hand. »Natürlich nicht.« Sie tippte eine Nummer ein. Bevor sie die letzte Zahl drückte und den Hörer ans Ohr legte, sagte sie: »Frag Diane gelegentlich mal nach dem Farrely-Fall.«

Aber Annie war sich ziemlich sicher, dass sie das lieber nicht wissen wollte.