Rache für Dina

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Rache für Dina
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Cristina Fabry

Rache für Dina

Kriminalroman

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1.Kreiskirchenamt Minden – Superintendentur

2. Kreiskirchenamt Minden – Superintendentur

3. Neesen, Porta Westfalica

4. Nordhemmern

5. Minden – Hahlen

6. Kreiskirchenamt Minden

7. Arche-Noah-Kita – Minden

8. Kreiskirchenamt Minden

9. Kreispolizeistelle Minden

10. Evangelisches Gemeindehaus Holzhausen II

11. Minden – In den Bärenkämpen 14

12. Kreiskirchenamt Minden

13. Minden – Arche-Noah-Kita

14. Minden – In den Bärenkämpen 14

15. Kreiskirchenamt Minden

16. Irgendwo im Kirchenkreis

17. Kirchenkreis Minden – Jugendreferat

18. Unterwegs zum Kreiskirchenamt Minden

19. Pfarr- und Gemeindehaus Holzhausen II

20. Kreiskirchenamt Minden

21. Minden – In den Bärenkämpen 14

22. Minden-Hahlen – Stoppelkamp

23. Café Corinthe – Minden, Königstraße

24. Gemeindehaus Oberlübbe

25. Arche-Noah-Kita

26. Hahler Friedhof

27. Minden – in den Bärenkämpen 27

28. Kreiskirchenamt Minden

29. Irgendwo im Kirchenkreis

30. Kreiskirchenamt Minden

31. Hille – Evangelische Pfarrkirche

32. Neesen, Pfarrhaus

33. Kreispolizeistelle Minden

34. Arche-Noah-Kita – Minden

35. Kreiskirchenamt Minden

36. Evangelisches Gemeindehaus Holzhausen II

37. Evangelisches Gemeindehaus Holzhausen II

38. Kreiskirchenamt Minden

39. Holzhausen II, Holzhauser Damm 39

40. Kreispolizeistelle Minden

41. Irgendwo im Kirchenkreis

42. Evangelisches Gemeindehaus Holzhausen II

43. Nordhemmern, an der Kapelle 5

44. Minden – Steinstraße 18

45. Minden-Hahlen – Hotel Hahler Hof

46. Nordhemmern – Nordhemmer Straße 132

47. Evangelisches Pfarrhaus Holzhausen II

48. Polizeipräsidium Bielefeld

49. Kreiskirchenamt Minden

50. Kreispolizeistelle Minden

51. Café Corinthe

52. Minden, Hahlen

53. Evangelisches Gemeindehaus Holzhausen II

54. Minden – In den Bärenkämpen 14

55. Irgendwo im Kirchenkreis

56. Nordhemmern – Nordhemmer Straße 132

57. Nordhemmern – Nordhemmer Straße 136

58. Kreispolizeistelle Minden

59. Minden – In den Bärenkämpen 14

60. Polizeipräsidium Bielefeld – eine Woche später

Impressum neobooks

1.Kreiskirchenamt Minden – Superintendentur

Sie hielt einen Augenblick inne. Die Klinke hatte sie noch in der Hand. Egal, er konnte die Verträge später unterschreiben. Sie musste noch das Protokoll zuende schreiben. Ihre Hand löste sich von der Klinke und sie ging wie ferngesteuert zurück in ihr Büro.

„Aber er ist doch vor einer Viertelstunde noch da gewesen.“, dachte sie. „Ach ja. Vermutlich aufs Klo gegangen.“

Sie stellte das Diktaphon wieder an, um das Protokoll abzuschließen, da schoss ihr ein Bild durch den Kopf: ein Fuß. Neben dem Schreibtisch. Derjenige, der zu dem Fuß gehörte, musste dahinter liegen. „Oh Gott!“, stöhnte sie und sprang auf. „Er ist zusammengebrochen. Kein Wunder bei dem Stress.“

Sie rannte zurück in das Zimmer ihres Chefs. Als sie durch die Tür stürzte, lag der Fuß immer noch an derselben Stelle. Mit wenigen Schritten war sie hinter dem Schreibtisch. Ihr bot sich ein unfassbares Bild. Es brannte sich augenblicklich in ihr Gedächtnis ein. Und dann schrie sie, so sehr, dass man glaubte, sie wolle das Bild damit fort scheuchen, die Tatsache ungeschehen machen, die Erinnerung auslöschen. Sie sollte es niemals vergessen.

2. Kreiskirchenamt Minden – Superintendentur

„Ist die KT schon lange da?“, fragte Keller und schüttelte sich den Schnee von der Jacke. „Halbe Stunde vielleicht.“, entgegnete der junge Polizist, der den Eingang zur Superintendentur sicherte.

Keller grunzte, statt sich für die Information zu bedanken und betrat den Tatort. Er hatte schon viel gesehen, aber dieser Anblick veranlasste ihn, sich ein Taschentuch vor den Mund zu pressen. Hinter dem Schreibtisch lag eine Männerleiche: ein hagerer Typ, vielleicht Ende Fünfzig. Er lag halb auf der Seite, halb auf dem Rücken, weil die Mord-waffe, die ihm von hinten in den Oberkörper getrieben worden war, noch steckte und so eine entspannte Rückenlage verhinderte. Soweit war der Anblick ganz gewöhnlich. Ungewöhnlich war allerdings, dass man ihn an den Genitalien entblößt und verstümmelt hatte.

„Kannst du schon was sagen, Konstanze?“, fragte er die Medizinerin von der Kriminaltechnik.

„Todeseintritt vielleicht vor etwa zwei Stunden. Vermutlich wurde er von hinten erdolcht. Er

war nicht sofort tot, daher das viele Blut. Der Täter hat ihm dann die Hosen herunter gezogen und ihn auf den Rücken gedreht oder zuerst gedreht und dann entblößt und mit einem Teppichmesser das Präputium entfernt.“

„Das was?“

„Das Präputium, die Vorhaut. Er hat ihn beschnitten, wie in der jüdischen und islamischen Kultur üblich. Er hat das Messer und das Amputat hier fein säuberlich auf dem Schreibtisch arrangiert.“

Keller erblickte ein blutiges, ringförmiges Etwas, sowie ein ebenso blutverschmiertes Teppichmesser effektvoll auf der Seite einer aufgeschlagenen Bibel platziert. Er beugte sich darüber und las: „Genesis – 1. Mose 34.“ Die Spitze des Messers zeigte auf eine Überschrift: „Die Schandtat an Dina und das Blutbad zu Sichem“.

 

Er notierte die Bibelstelle. Das klang doch verschärft nach Rachemotiven: Vergewaltigung, Genitalverstümmelung und für den Theologen extra biblisch unterfüttert.

Keller ging vor die Tür und fragte den jungen Kollegen: „hat schon jemand mit der Person gesprochen, die die Leiche gefunden hat?“

„Die Kollegen von der Streife. Aber die Frau war ganz aufgelöst. Sie haben ihr erst einmal was zu Trinken besorgt und jemanden geholt, der sie beruhigt.“

„Na ja, an Notfallseelsorgern wird es denen hier ja nicht mangeln. Wo bleibt eigentlich die Kerkenbrock? Die hat das Einfühlsame und Trost Spendende besser drauf als ich.“

„Die hat heute Überstunden frei und ist auch weiter weg gefahren.“, antwortete der junge Polizist.

„Na super.“, knurrte Keller. „Und wo ist jetzt die Zeugin?“

Der Polizist machte eine Kopfbewegung in die entsprechende Richtung. „Da drin. Schluchzt noch. Hat 'ne Pastorin zum Händchen halten.“

„Na, dann will ich mal. - Ach ja, Name des Toten, Verwandte, Liste mit anderen Zeugen und so weiter hätte ich gern umgehend schriftlich.“

„Ist schon alles in Arbeit.“

Keller nickte anerkennend, klopfte an die Tür und betrat den Raum, in dem Norbert Volkmanns Sekretärin saß und zitternd die Hand einer Pfarrerin hielt.

„Entschuldigen Sie bitte“, Keller trat vorsichtig näher. „Mein Name ist Stefan Keller. Ich ermittle in diesem Fall. Wer von Ihnen beiden hat den Verstorbenen aufgefunden?“

„Ich“, schluchzte die Sekretärin mit erstickter Stimme.

„Und Sie sind...“

„Elisabeth Attig. Ich bin Verwaltungsfachangestellte und persönlich Herrn Superintendent Volkmann zugeteilt.“

Sie brach wieder in Tränen aus, unfähig, weiter zu sprechen. Keller setzte sich und betrachtete die weinende Frau. Sie war schätzungsweise in den Fünfzigern, trug graue Bundfaltenhosen aus Wollstoff mit Bügelfalte und dazu eine cremefarbene Chiffonbluse mit überdimensionaler Schleife, die ihre gewaltige Oberweite unvorteilhaft überbetonte. Ihr ausladendes Becken stand in einem absurden Missverhältnis zu ihren schmalen Füßen, die in altmodischen Lackpumps steckten. Sonst war sie eher grobknochig und hoch gewachsen. Das vermutlich gefärbte, nussbraune Haar war in einer voluminösen, schulterlangen Betonfrisur erstarrt. Ihr perlrosa Lippenstift, der perfekt zum Nagellack passte, war verschmiert und auch das Augen-Make-up hatte hässliche Ringe gebildet. Tränenrinnsale hatten sich durch die pudrige Tagescreme ihren Weg gebahnt. „Wenn sie sich jetzt selbst sehen könnte, würde sie vor ihrem eigenen Spiegelbild erschrecken.“, dachte Keller.

„Frau Attig, ich weiß, das ist alles sehr schlimm für Sie, aber in einem Mordfall müssen wir so schnell wie möglich ermitteln, nur so haben wir eine Chance, die Umstände aufzuklären. Wann haben Sie Herrn Volkmann zum letzten Mal lebend gesehen?“

„Etwa eine Viertelstunde bevor ich ihn gefunden habe.“

„Wann genau war das?“

„Ich weiß nicht. Aber nur wenige Minuten, nachdem ich ihn gefunden habe, hat doch Herr Werner die Polizei gerufen.“

„Also etwa zwanzig Minuten vor dem eingegangenen Anruf. Das grenzt die Tatzeit enorm ein. Frau Attig, haben Sie mitbekommen, dass in dieser Zeit zwischen Ihrer letzten Begegnung mit Herrn Volkmann und dem Moment, wo Sie ihn tot aufgefunden haben, jemand bei ihrem Chef im Zimmer war?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich war damit beschäftigt, ein Protokoll zu schreiben, das mir Herr Pfarrer Volkmann auf das Diktiergerät gesprochen hatte. Ich habe nichts gehört.“

Keller wandte sich an die Pfarrerin: „Waren Sie zur Tatzeit hier im Haus?“

Die Pfarrerin schüttelte den Kopf. „Nein, als ich herkam, war Frau Attig schon ganz außer sich, und unser Verwaltungsleiter hat mich gebeten, mich ihrer anzunehmen. Aber auch, wenn ich hier gewesen wäre: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass man mitbekommt, wer hier ein- und ausgeht. Das ist hier kein besonders gesichertes Gebäude. Wir sind ja normalerweise kein Ziel für Überfälle oder Anschläge.“

„Aber die Leute, die an der Pforte sitzen...“

„Die sind viel zu beschäftigt.“, unterbrach die Pfarrerin ihn. „Sie sitzen zwar an der Pforte, müssen von da aus aber ganz normale Verwaltungsaufgaben erledigen. Jeden Tag ist ein anderes Team dran. Das ist der Fluch der Rationalisierung.“

„Kannten Sie Herrn Volkmann gut?“, fragte er die Pfarrerin.

„Wie man seinen Chef eben so kennt. Das heißt, er war vorher Pfarrer in Hartum, da sind wir uns gelegentlich bei der Pfarrkonferenz begegnet. Aber ich hatte kaum Kontakt zu ihm; ich bin Pfarrerin in Neesen und Lerbeck, ganz andere Richtung“, sie räusperte sich, „auch theologisch.“

„Sagen Sie mir auch Ihren Namen?“, bat Keller sie.

„Margarethe Vormbrock.“

Keller bedankte sich. „Das war's fürs Erste. Ich werde aber sicher noch mehrfach auf Sie zukommen. Das heißt, warten Sie, hat eine von Ihnen zufällig einen Verdacht oder eine Idee, um welches Motiv es sich handeln könnte?“

„Unsinn!“, stieß Frau Attig hervor. „Er war ein herzensguter Mensch, ein ganz wunderbarer Vorgesetzter und er hat so hart gearbeitet.“

„Also einen konkreten Verdacht habe ich auch nicht.“, setzte Frau Vormbrock hinzu. „Aber Motive gab es wohl eine Menge. In einem Kirchenkreis geht es ja auch immer um Verteilung von Geld, Durchsetzung neuer Ideen, Wahrung von Privilegien. Na ja, und ein Chef stößt selten nur auf Gegenliebe. Manche Kollegen sind nicht besonders gut auf ihn zu sprechen und auch die Nicht-Theologen unter den kirchlichen Mitarbeitern hatten schon die eine oder andere heftige Auseinandersetzung mit ihm.“

„Könnten Sie da etwas konkreter werden?“, fragte Keller interessiert.

„Ach, da gibt es in jeder Gemeinde irgendwelche Ärgernisse. Bei uns war es beispielsweise der Küster, der mit ihm auf Kriegsfuß stand. Nicht, dass er persönlich mit ihm aneinander geraten wäre, aber er schimpfte oft auf die Kirchenkreis-Leitung, weil von dort neue Richtlinien heraus gegeben worden waren, Zeitbudgetierung für Küsteraufgaben. Unser Küster hat neben den Gemeindehäusern und Kirchen in Neesen und Lerbeck auch noch einen Teil der Pflege der Außenanlagen in Meißen dazu bekommen. Da, wo Küster ausscheiden, wird nicht wieder besetzt und die Arbeit statt dessen auf die verteilt, die noch im Amt sind. Gehalt und Gesamt-Zeitkontingent bleiben aber unverändert. Das verursacht natürlich Stress und macht die Leute unzufrieden.“

„Aber glauben Sie, dass jemand wegen so etwas töten würde?“, fragte Keller ungläubig.

„Kennen Sie die Abgründe der menschlichen Seele?“, gab Frau Vormbrock zu bedenken. „Allerdings halte ich unseren Küster für in höchstem Maße unverdächtig. Der hätte gar nicht die Zeit gehabt, heute hier her zu kommen. Und es fehlt ihm wohl auch die blutige Ader für so ein obszönes Verbrechen, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

„Ich denke schon.“, antwortete Keller. „Tja, dann auf Wiedersehen und wie gesagt, Sie hören noch von mir.“

3. Neesen, Porta Westfalica

Eine Mischung aus Schweiß und Regentropfen floss an Jens Carstensens Körper herab, als er die Haustür aufschloss. Bei diesem Wetter machte nicht einmal das Joggen Spaß. Schneeregen im April. Da hätte er auch gleich in Flensburg wohnen bleiben können. Aber Porta Westfalica war ja auch nicht gerade die Toskana. Nicht einmal mit dem milden Klima des Rheintals konnte der berühmte Weserbogen mithalten. Im Gegenteil: hinter dem Wiehengebirge begann die norddeutsche Tiefebene und die war im Prinzip der Wurmfortsatz Ostfrieslands. Wenn man im malerischen Bergkirchen den Kamm aus Richtung Bad Oeynhausen kommend überschritten hatte und sich in Serpentinen am Nordhang herab schlängelte, war man nicht sicher, ob es sich bei dem, was da vor einem lag um Festland oder von der Ebbe frei gelegte Salzwiesen handelte.

Der Anrufbeantworter blinkte. Jens Carstensen unterdrückte den Impuls, sich wie ein Hund zu schütteln, streifte statt dessen die Schlamm-verkrusteten Laufschuhe ab und eilte ins Bad, um die nassen Kleidungsstücke los zu werden und Schweiß, Schmutz und Verspannung unter einer heißen Dusche fortzuspülen. Als er sich abgetrocknet und frische Kleidung angezogen hatte, fühlte er sich bedeutend wohler und war bereit, der Ursache für das penetrante Blinken seines Anrufbeantworters auf den Grund zu gehen. Es war Margrets Stimme: „Hallo Jens, hier ist Margret. Du musst mich unbedingt sofort zurückrufen, auf dem Mobiltelefon. Es ist dringend.“

Was war denn da schon wieder passiert? Es war doch gar nicht Margrets Art, nicht zu sagen, worum es ging. Er drückte die passende Kurzwahltaste und nach zwei Klingelzeichen nahm die Pfarrerin ab. „Jens? Bist du das?“

„Ja klar. Was ist denn so eilig, dass du es so spannend machst?“

„Am besten, du setzt dich erst mal hin.“

„Oh Gott! Ist einer gestorben?“

„Allerdings.“

Jetzt setzte Jens sich augenblicklich auf den bequemen Sessel, der neben dem Telefon stand. Er erwartete das Schlimmste, was sich dadurch bemerkbar machte, dass ein Großteil seines Blutes in seine Beine sackte, seine Arme sich ganz kraftlos anfühlten und ein leichter Schwindel sich seiner bemächtigte.

„Also los.“, stieß er heiser hervor. „Ich höre.“

„Jemand hat Volkmann ermordet.“

„Was?“ Jens spürte eine seltsame Regung aus Entsetzen und Erleichterung in sich aufsteigen. Entsetzen über die Ungeheuerlichkeit eines Mordes und gleichzeitig Erleichterung darüber, dass es niemanden getroffen hatte, der ihm am Herzen lag.

„Ich komme eben aus dem Kreiskirchenamt. Frau Attig hat ihn gefunden. Er lag mit einem Messer im Rücken in seinem Blut und jemand hat ihm die Hosen herunter gezogen; und was ich aus dem Gestammel von Frau Attig entnehmen konnte, muss der Mörder auch im Genitalbereich ans Werk gegangen sein, da war wohl auch alles voller Blut.“

Nach einer kurzen Pause betroffenen Schweigens fragte Jens ungläubig: „Wer kastriert denn Volkmann und warum?“

„Woher soll ich das wissen?“, antwortete Margarethe Vormbrock. „Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass eine wütende Feministin ihn kastriert hat. Er war ja nicht gerade ein Frauenheld und sexuelle Gewalt traue ich ihm eigentlich auch nicht zu.“

„Wer weiß das schon.“, wandte Jens Carstensen ein.

„Ach Unsinn!“, wies Margarethe Vormbrock ihn zurück. „Er war ein manipulativer, machthungriger Despot, ich hielt ihn für einen im Herzen säkularisierten Pseudo-Theologen, und es wundert mich nicht im Geringsten, dass er einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist. Aber ich schätze, sexuell hat er sich zu Hause ausgetobt.“

„Vielleicht wollte der Mörder die Polizei nur irreführen, und es gab gar keinen Grund, ihn da unten zu verstümmeln. Aber mal im Ernst, wer tut so was? Wer von den Leuten, die wir kennen, ist so kaltblütig, einen so brutalen Mord durchzuziehen?“, fragte Jens Carstensen sie.

„Oder so unendlich wütend.“, ergänzte Margarethe Vormbrock.

4. Nordhemmern

Katharina Förster zwang sich, endlich aufzustehen. Es war bereits elf Uhr und sie hätte zwar gern noch etwas vor sich hin gedöst, aber die Aufgaben dieses Tages lagen wie der Inhalt eines großen auszumistenden Stalles vor ihr. Sie hatte gestern Abend die Türklingel abgestellt, das Festnetztelefon ausgestöpselt und das Mobiltelefon ausgeschaltet. Daran würde sie auch in den nächsten zwei Stunden nichts ändern.

„Kein Geschrei vor zwei.“, murmelte sie und schleppte sich unter die Dusche. Blitzsauber und angezogen rührte sie sich ein Müsli zusammen und setzte Teewasser auf. Wenn man in ihrem Beruf auch häufig an Junkfood oder anderen vitaminarmen, unregelmäßigen, schnell-mal-eben-was-reinschieben-Mahlzeiten nicht vorbei kam, wollte sie wenigstens gesund in den Tag starten. Da durfte auch die obligatorische Kanne grüner Tee nicht fehlen, um die Leber bei der Erholung von gelegentlichen Rotwein-Exzessen zu unterstützen.

Katharina Wehmeier war nicht dick, aber auch nicht gerade gertenschlank und sie sah immer ein wenig erschöpft aus, so dass sie drohte, vor der Zeit zu altern. Sie las beim Frühstück die Zeitung, spülte ihr Geschirr und setzte sich dann an den Schreibtisch. An diesem Abend traf sie sich mit dem Mitarbeiterkreis in Bergkirchen und betreute anschließend die Öffnungszeit des Jugendcafés.

 

„Hoffentlich liegt heute Abend kein Schnee mehr da oben.“, stöhnte sie. Das Dorf lag auf dem Wiehengebirgskamm und bestand hauptsächlich aus schmalen, steilen und kurvigen Straßen und Einfahrten. Da waren auch Winterreifen keine Garantie für Sicherheit im Straßenverkehr. Andererseits war sie froh, dass sie den gestrigen Mitarbeiterkreis in der Gemeinde Hille für die nächsten zwei Wochen hinter sich hatte. Sie verabscheute diese unangenehme Mischung aus biblizistischer Frömmigkeit und selbstgerechtem Spießbürgertum, die ihr da entgegenschlug. Und die Hiller verabscheuten sie. Für ihre Schludrigkeit, für die gesellschaftlich relevanten Themen, mit denen sie sie immer wieder belästigte, für ihre theologische Unverfrorenheit und vor allem dafür, dass sie mit fast dreißig Jahren noch nicht in geordneten Verhältnissen lebte, sondern die Gelegenheit hatte, ein sexuell ausuferndes Lotterleben zu führen, das sich leider der Kontrolle durch die Hiller weitestgehend entzog, weil sie im fünf Kilometer entfernten Nordhemmern lebte. Katharina Förster hätte gegen ein solches Lotterleben mit gelegentlich wechselnden Sexualpartnern durchaus nichts einzuwenden gehabt, aber sie schaffte es ja nicht einmal, einen einzigen halbwegs attraktiven jungen Mann an ihrem Leben teilhaben zu lassen. „Wie denn auch“, dachte sie, „wenn man immer nur mit Teenies oder Rentnern rumhängt.“

Jetzt machte sie sich allerdings an die Vorbereitung des Mitarbeiterkreises. Die Tagesordnung stand in fünf Minuten, das Material (Infozettel, Plakate, Ausschreibungen) war in weiteren fünf Minuten zusammengestellt, aber die Andacht für die Einstimmung stand noch nicht. Die Bergkirchener waren offen und experimentierfreudig, auch wenn sie durchweg gemütliche Kuschel-Jugendliche waren. Hier schien die gute alte Zeit der beige-braunen Teestuben noch gegenwärtig.

In Hille hatte sie nur einen Text aus einer CVJM-Arbeitshilfe gelesen, gesungen, gebetet, einen Segen gesprochen.

In Bergkirchen konnte sie sich auch methodisch auf das Thema einlassen: Passionszeit, Fastenzeit oder einen Aspekt der Passionsgeschichte. Am Ende entschied sie sich für die Fußwaschung. Sie würde einem Mitarbeiter die Füße waschen und mit Duftöl massieren und der sollte diese Erfahrung an einen anderen weitergeben, so dass am Ende alle einen solchen Dienst erwiesen bekommen hätten. Nach einem kurzen Erfahrungsaustausch, wie man sich als Empfangender und wie als gebender fühlt, würde sie mit den Ehrenamtlichen den Bibeltext von der Fußwaschung lesen und ein Gespräch anschließen, worin der Unterschied besteht zwischen gegenseitigem Dienen und der aktuellen Wirklichkeit. Sie würde mit einem gemeinschaftlichen Fürbittengebet abschließen und ein Segenslied singen, das die Jugendlichen sich aussuchen dürften.

Ja, wenn jeder das Wohlergehen seiner Mitmenschen im Blick hätte, dachte Katharina Förster, das wäre schon toll. Wenn es zumindest in der Kirche so wäre, dann gäbe es wenigstens einen Zufluchtsort, eine Höhle, eine Insel, welches Bild auch immer man dafür fand. Aber es war doch überall dasselbe und die Kirche war ein perfektes Abbild der Gesellschaft. Irgendwo gab es immer einen Bösen, der alle drangsalierte, skrupellose Täter und Trittbrettfahrer, hilflose Opfer, Mitläufer, Verzweifelte und wütende Rächer. Manchmal fragte Katharina sich, ob das jüngste Gericht nicht schon längst stattgefunden hatte und sie sich bereits in der Hölle befand. Im himmlischen Jerusalem tummelten sich die Erleuchteten, während sie mit den anderen räudigen Sündern vor den Toren der Stadt heulte und mit den Zähnen klapperte. Endlosschleife irdisches Leben. Aber das war jawohl eher die buddhistische Hölle.

13.22 Uhr. Vielleicht sollte sie mal wieder das Telefon einstöpseln. Kaum war der Stecker in der Leitung, da läutete es auch schon.

„Hallo, hier ist Katharina Förster.“

„Kathi! Ich versuche schon seit Stunden, dich zu erreichen. Hier ist Kai-Uwe. Wo hast du gesteckt?“

„Bett, Dusche, Küche, Schreibtisch. Ich wollte meine Ruhe. Was gibt’s denn so Dringendes?“

„Volkmann ist tot.“

„Du verarscht mich doch.“

„Nee, ehrlich. Der ist ermordet worden.“

Katharina schwieg einen Moment, dann sagte sie: „Und ich dachte immer, 'Mein ist die Rache, spricht der Herr'“: