Rosenwolke und die Formel der Welt

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Rosenwolke und die Formel der Welt
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Cort Eckwind

Rosenwolke
und die Formel der Welt

Roman

Imprint

Personen, Handlungen und Orte dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen, mit Namen, Schauplätzen oder auch Ideen ist von sagenhafter Zufälligkeit – sei es, dass Fantasien der bezaubernden Realität dienten oder die Realität märchenhaft verzaubert wurde. Denn manchmal ist nicht das die Realität, was Menschen sehen oder als realistisch empfinden, sondern was duftende Klangfarben der Träume als unrealistisch vorgaukeln. Und dann bemerken die Menschen, dass Realität auch traumhaft verzeichnet sein kann und sich Träume in nüchterner Realität oftmals neu erfinden.

Copyright © 2015 by Cort Eckwind

Rosenwolke und die Formel der Welt

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-5022-2

Lektorat: Erik Kinting / www.buchlektorat.net Covergestaltung: Erik Kinting Konvertierung: www.e-book-erstellung.de Gedicht 'Ich und Du': Friedrich Hebbel

Du sollst dir kein Bildnis machen von Gott, deinem Herrn, und nicht von den Menschen, die seine Geschöpfe sind. Auch ich bin schuldig geworden damals. Ich wollte ihm mit Liebe begegnen, als ich gesprochen habe mit ihm. Auch ich habe mir ein Bildnis gemacht von ihm, auch ich habe ihn gefesselt, auch ich habe ihn an den Pfahl gebracht.

Der Pater in Andorra von Max Frisch

Für meine Eltern, mit deren nie vollendetem Brief alles möglich war.

Für meine Frau, mit deren Liebe alles möglich ist. Für unsere Kinder, ohne die eine Zukunft nicht möglich wird.

***

Mein Dank gilt dem Leben. Und den Menschen, die es bis heute begleiteten. Stunden, Tage oder Monate, manchmal auch Jahre oder gefühlte Ewigkeiten. In Liebe und Freundschaft; mit Hoffnung und Enttäuschung; unzertrennt, wiedergefunden oder sich niemals mehr begegnend.

Prolog

Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.

Victor Hugo

Eine ehemalige kaiserliche Residenzstadt in den Anfängen des Juli.

Ummantelt von listiger Diplomatie, gelangten die beiden Verschwörer zum prunkvollen Palais. Folgenschwere Wimpernschläge später betraten sie schweigend den in dunklem Holz getäfelten Raum. Eine gespenstische Ruhe erfüllte die Atemluft. Nur das sekündliche Klacken eines vergoldeten Pendels, welches die Zeit über ein mehr als dreihundert Jahre altes mechanisches Uhrwerk unerbittlich vorantrieb, unterbrach die unheilvolle Stille. Leuchter aus brüniertem Messing tauchten die Szenerie in ein gedämpftes, düsteres Licht. Inmitten des Zimmers standen zwei barocke Ohrensessel, die rechtwinklig in Armeslänge zueinander blickten. Ihr bordeauxroter Samt sowie die einladend bequemen Lehnen aus gedrechseltem Nussbaum spiegelten die Noblesse des Vergangenen wider. Die rechten Flanken der kaiserlichen Sessel zierten halbhohe Säulen aus schwarzem Marmor, auf denen zum Greifen nah farblose Kristallgläser nebst bauchigen Karaffen thronten, halb gefüllt mit stillem Quellwasser. Und im Halbschatten der eigens inszenierten Ordnung gaben mit geprägtem Leder bespannte Eichenstühle bereits Halt für zwei nur schemenhaft wahrzunehmende ältere Männer: weißhaarig und von großer, eleganter Statur der eine, kahlköpfig und durch eine gedrungene Gestalt übergewichtig erscheinend der andere.

Unvertraut, ohne eine Geste der Höflichkeit, ohne die kleinste Regung in von den Jahren der Macht gezeichneten Mienen, ließen sich die verschwörerischen Eminenzen in den tiefen Sesseln nieder. Ein wenig neigten beide den Kopf seitwärts, um mit einem Ohr ganz nah bei den zuflüsternden Mündern der ihnen beistehenden Schemen zu sein. Denn die Diener der Macht lebten als Hohepriester der Sprache, als Brückenbauer über Welten. Zwei Meister der Verständigung, die es immer wieder schafften, unverständliche Worte und Nuancen aus fremdartig klingenden Tonlagen so verwandelt aufbranden zu lassen, dass Vokale und Mitlaute in einer harmonisch und verständlich klingenden Gemeinsamkeit verglühten.

Unumwunden kam der kleinere und deutlich jüngere der Aufrührer zur Sache. Leise, so als müsse er befürchten, dass die Feinde seines Riesenreiches ihn hören könnten, presste er die Frage, die ihm seit Tagen den Schlaf raubte, über schmale, fast blutleere Lippen: »Er hat Zeugnis abgelegt?«

»Ja.« Die Antwort des Älteren erfolgte asketisch knapp, klar und keinen Zweifel zulassend.

Und doch flogen, wie tödliche Pfeile vom Bogen geschossen, erneut die bohrenden Worte des Fragenden heran. Worte, die alle Macht und seinen tiefen Unglauben ausdrückten. Er schaute an seinem Gegenüber vorbei, würdigte ihn keines Blickes. Die Augen suchten Halt unter den zuckenden Lidern, verloren sich aber in der angespannten Stille des für ihn seelenlosen Raumes: »Sind Sie sicher, dass dieselbe Botschaft, Argumentum pro Existentia Dei, der Beweis Gottes, nach fast fünfhundert Jahren zu Ihnen und uns gelangt ist?«

»Ja«, erwiderte der greise Verschwörer erneut und die unerbittlich feste Stimme klang in ihrer absolutistischen Bestimmtheit so bedrohlich, wie das unbändige Donnern im Zentrum eines gewaltigen Unwetters. »Cygnus Nigra, ein schwarzer Schwan, absolut unwahrscheinlich aber unweigerlich wahr. Sie verstehen, was ich meine?« Ein arrogantes Lächeln huschte über die tiefen Ackerfurchen im bleichen Gesicht des Greises.

»So wie Resurrectio Christi, die Auferstehung Christi?« Der Jüngere wehrte den Angriff des Älteren mit einer gekonnten Parade ab, die ihrerseits den Gegner bis ins Mark traf. Und als wohne der schweren, trockenen Luft noch nicht genug Sprengstoff inne, jederzeit bereit zu einer tödlichen Explosion, forderte der Mann hier und jetzt das Schicksal heraus. Unmissverständlich und mit brutaler Einfachheit stellte er die entscheidende Frage: »Sind Sie bereit, alle und alles zu vernichten?« Die Miene des Mannes blieb kalt und starr, wie leblos, gestählt durch Jahre der Intrigen und Machtkämpfe.

»Ja.«

»Sie wissen, was das bedeutet?« Noch einmal hakte der Jüngere nach, so als bohre er genüsslich mit einem Messer in der klaffenden Wunde des Gegners. »Sprechen Sie auch für Ihren erkrankten Machthaber? Ist er damit einverstanden?«

»Die wahren Mächtigen sind oftmals nicht diejenigen, die man vorne stehen sieht«, entgegnete der Ältere ruhig. »Wären wir sonst hier?«

»Wie wahr. Wenn man nicht mit beiden Händen das Regiment der Verwaltung führt, und stattdessen lieber auf die Straße zu den Armen geht, darf man sich am Ende über die eigene Machtlosigkeit nicht wundern«, erwiderte der jüngere höhnisch. Er nutzte die Situation schamlos aus, um mit seinem Wissen aus scheinbar innersten Zirkeln zu kokettieren: »Ich habe vernommen, dass der oberste Befehlshaber Ihres Staates, so waffenlos er im Augenblick auch sein mag, die schon lange bestehende Ordnung infrage stellt. Es heißt, er wolle den Apparat reformieren, den höfischen Prunk abschaffen, die Korruption verdammen und allen Schmutz und alle Intrigen beseitigen, hin zu einem Weg der brüderlichen Barmherzigkeit und der wahren Werte.« Der Mann lächelte ironisch und die Stimme ertrank fast im beißenden Spott, als er sagte: »Wohl so wie damals, als Ihre Parteigänger Il sorriso di Dio, das Lächeln Gottes wählten?«

»Der Lächler hat nur dreiunddreißig Tage geherrscht«, fauchte der Greis abfällig. »Das Schwache muss man ausmerzen und dann gehört die Macht demjenigen, der sie sich nimmt. Egal, in welchem Rang er steht.«

»Ihr habt ihn ermorden lassen?«

»Zum Teufel mit Ihnen«, schrie der alte Mann voll Verachtung und mit heiserer Stimme. Zwar gehorchte der von den langen Jahren der Ämter ausgelaugter Körper nicht mehr so, wie er sollte, dennoch funkelten die Augen des mit biblischem Alter gesegneten Greises immer noch in wilder Entschlossenheit: »Unsere beiden Reiche existieren Tausende von Jahren, herrschen über Milliarden von Menschen. Nichts und niemand kann uns aufhalten. Dafür stehe ich ein.«

»Dann werden Sie die Allianz mit dem Teufel nicht umgehen können«, sagte der Jüngere unumwunden, während ein hämisches Grinsen über sein Gesicht zog.

Der Greis wusste, dass die Situation seine ganze geistige Kraft forderte. Hellwach mühte sich sein scharfer Verstand. Es gab keinen besseren Weg. Er brauchte den Feind, der ihm nun mit starrem Blick gegenübersaß – der ewige Gegner im Kampf um die Herrschaft der Welt. Verteufelt, ein Leben lang. Instinktiv spürte er, dass er gegenüber dem Jüngeren keine Schwäche zeigen durfte. Und so schaffte es die Modulation der in vielen Ränkespielen geübten Stimme noch einmal, die ungeduldig hinausdrängenden Worte so unmissverständlich erklingen zu lassen, dass der andere die machtvolle Forderung nicht abweisen würde: »Wir werden uns also verbünden?«

»Ja, wir sind bereit.« Die Antwort des Jüngeren erfolgte ausdruckslos und ohne jede Regung in den bleichen Gesichtszügen. Deren Schlichtheit entsprach augenscheinlich dem dunkelgrauen, aus feinster und edler Seide bestehenden und auf den Körper des Weltenfürsten maßgeschneiderten Anzug. Dadurch wirkte der Verschwörer väterlicher, als es ihm die unbändige Machtbesessenheit tatsächlich erlaubte.

»So sei es denn«, sagte der Greis knapp und erhob sich mühsam aus dem Sessel. Kein Händedruck, kein Mienenspiel, nur eisige Kälte für den ihm gegenübersitzenden Mann, den er mehr hasste, als die Gebrechen des dem Tod geweihten Körpers. Fünf, sechs kurze Schritte bis zur Tür, den engsten Vertauten hinter sich wissend, entschwand er im Halbdunkel der angrenzenden Räume. Nicht einmal zehn Minuten waren vergangen, seit die Repräsentanten zweier Weltreiche den Raum betreten und ihren Teufelspakt geschlossen hatten. Ein Pakt, der Leben kosten würde. Ein Pakt von schicksalhafter Bedeutung.

 

Wie unwichtig ist der Einzelne, dachte der greise Fürst nur wenig später, wenn das große Ganze zählt, der Fortbestand der Macht und die Verhinderung von neuem, umstürzendem Denken. Einen zweiten Galilei durfte es nicht geben. Hatte doch dessen Dialogo, die Diskussion über die Weltsysteme, schon vor fast vierhundert Jahren die damals herrschenden Mächte in den Grundfesten erschüttert. Nie wieder durfte solcher Widerspruch geduldet werden. Nie wieder durfte es passieren, dass jemand ungestraft sagte: Epur si muove – und sie bewegt sich doch. Wenige Worte, die eine ganze Welt aus den Angeln hoben. Der alte Mann wusste, dass sein Schicksal ihn auserkoren hatte, das Böse aufzuhalten. Denn nur er war der wahre Fels in der Brandung.

In der ehemaligen kaiserlichen Residenzstadt, die zu Blütezeiten mit den großen Metropolen der Epoche wetteiferte, regnete es schon seit Stunden aus mächtigen, ambossförmigen und sich ständig erneuernden Wolken. Mit elementarer Wucht entlud sich ein unbändiges Sommergewitter. Nach Tagen unerträglicher Hitze, die auch in der Nacht kaum Abkühlung brachte, verschaffte sich die Natur sintflutartige Erleichterung – wie es schon immer geschah, seit Millionen von Jahren. Niemand konnte den Lauf der Dinge abwenden.

Das Treffen der Verschwörer, am sinnbildlichen Ort des Widerstandes eines ganzen Volkes gegen faschistische Diktatoren, blieb völlig unbemerkt von der Öffentlichkeit. Scheinbar bedeutungslos und dennoch ein Ereignis, wie es intensiver und historischer nicht hätte sein können. Unbemerkt und auf unterschiedlichen Wegen fuhren zwei gepanzerte, tonnenschwere schwarze Kommandozentralen von der Josefstadt über regennasse, teils mit großen Wasserpfützen überspülte Straßen zum nur unweit entfernten Flughafen. Gesicherte Limousinen der Mächtigen, die nicht den geringsten Widerstand duldeten – ebenso wenig wie ihre Befehlshaber: Zwei Männer, unterschiedlich und doch so gleich, die alles voneinander zu wissen glaubten, obschon sie sich niemals zuvor begegnet waren. In raschem Stakkato erfolgten über abhörsichere Telefone die Befehle der beiden Schicksalspartner an die Machtapparate ihrer unendlichen Reiche. Gleichförmig und präzise. Unbarmherzig und von gewissenloser Kälte. Jeder auf seine Art die Erotik der Macht auskostend. Niemand würde sie aufhalten. Nicht heute, nicht morgen – niemals.

Kapitel I.

Bücher sind nicht tote Dinge, sondern enthalten eine Lebenspotenz, dazu angetan, so tätig zu sein, wie die Seele war, deren Kinder sie sind; ja, sie bewahren wie in einer Phiole die reinste Wirksamkeit und Essenz des lebendigen Geistes, der sie erzeugte.

John Milton

1.

Ein Kleinod, inmitten von Olivenhainen und Weinbergen, am ersten Tag im August.

Das steinalte Anwesen lag oberhalb der hügeligen Landschaft, deren Kontur eine schier unerschöpfliche Ansammlung von altehrwürdigen Kastellen und stattlichen Villen aufwies, die einst den mächtigsten Adelsfamilien als Domizil dienten. Geschützt von immergrünen Kletterpflanzen, wild überwucherten Mauern und einem eisenbeschlagenen Eichentor, öffnete sich Fremdlingen, die den Besitz mit ehrfurchtsvoller Neugier betraten, eine abgeschiedene, eigene Welt:

Hier das herrschaftliche Haupthaus, dessen massive Wände noch aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammten, mit den charakteristischen, weit vorspringenden Dächern. Dort der angrenzende, wehrhafte und mit einem Zinnenkranz versehene Turm, erbaut vor langer Zeit zum Ausspähen feindlicher Nachbarn und zur Überwachung der Feldarbeiter. Gemeinsam mit den Nebengebäuden, die die Pachtbauern mit ihren kinderreichen Familien als Wohnungen nutzten, sowie den zahlreichen Stallungen, bildete der Landsitz ein wohl abgestimmtes Ganzes, gleichsam Zeugnis einer überragenden Baukunst aus längst vergangenen Tagen. Die oberen, schmalen Öffnungen des eckigen Turmes gewährten einen atemberaubenden Fernblick nach Süden, hinweg über sanfte, fruchtbare Hügel, an denen sich großflächige, silbrig glänzende Olivenhaine, steile Weinberge und die herrlichen Wälder der mit ausladenden Kronen gesegneten Steineichen emporzogen. Dazwischen fand der Wanderer immer wieder grüne Futtergraswiesen mit harmonisch in die Landschaft eingefügten malerischen Dörfern, die oft nur aus wenigen Häusern bestanden. Deren zinnoberrote Dächer boten von Sonnenaufgang bis in die späten Stunden der Abendsonne ein wechselndes, noch weithin sichtbares Spiel rötlicher Farbtöne, die im sommerlichen Licht mit dem leuchtenden Rot der blühenden Mohnfelder wetteiferten.

Die junge Doktorin der Philosophie genoss diesen Ort. So sehr sie auch das Leben in der turbulenten und heiteren Stadt mit deren zu Stein gewordener Geschichte und den allerschönsten Plätzen dieser Welt liebte, so sehr erfreuten sie die regelmäßigen Besuche im Anwesen ihrer Eltern. Immer wieder verliebte sie sich aufs Neue in dieses Kleinod, zumal es bei der vor Jahren durchgeführten Renovierung vorzüglich gelungen war, den ursprünglichen Charme der Gebäude durch die Erhaltung architektonischer Besonderheiten zu wahren. Natur und Kunst – hier verbanden sie sich zur belebenden Ewigkeit: Dunkelgrünes Moos überzog besitzergreifend Treppenstufen und Terrassen. Efeu eroberte keck standhafte Mauern, rankte sich behände um Geländer und Gitter, versuchte sich vorwitzig an verwitterten Statuen von steinernen Nymphen und nackten Göttinnen, drang frech in gepflegte Kräuterbeete, umgarnte liebevoll zugeschnittene Buchsbäume und labte sich am Wasser eines ruhig dahinplätschernden Brunnens. Es roch nach Lavendel und wildem Fenchel, nach Salbei, Thymian und frischem Humus. Die üppig blühenden Rosen verströmten einen letzten betörenden Duft und konkurrierten mit zarten Orangenblüten und den vollen Früchten der Zitronenbäume.

Jetzt, in der schweren Sommerschwüle des August, wenn die Stadt wie im Fiebertraum lag, zog es die Frau immer wieder in die kühlenden Gemäuer. Aber mehr als alles andere lockte sie die alte Bibliothek. Denn hinter einer schweren Holztür, reich verziert mit einem adligen Familienwappen, erschloss sich eine Symphonie des Wissens, ein Weltall der Entdeckungen:

Entlang getäfelter Wände stand eine Vielzahl in dunkler Eiche gefasster Bücherregale, die wie unlösbar verbundene Türme bis unter die überhohen Decken ragten. Ein eleganter Kronleuchter mit zwölf ausladend geschwungenen Armen und unzähligen funkelnden Kristallen aus edlem Muranoglas tauchte den großen, aber fensterlosen Raum in ein strahlendes Licht, das alle Düsterheit verbannte. Tausende von ledernen Buchrücken, vereinzelt auch schadhaft oder altersfleckig, erzeugten trotz aller Unterschiedlichkeit in der äußeren Beschaffenheit ein harmonisches Bild der inneren Ruhe. Ein handgeknüpfter, mit roten Ornamenten reich verzierter Perserteppich dämpfte die Schritte der wissbegierigen Doktorin auf den dicken Bohlen naturbelassener Eiche. Immer wieder faszinierte die Frau das gewaltige Wissen der Jahrhunderte, trug doch jedes noch so winzige Buch ein kleines Geheimnis in sich und erzählte von Freud und Leid, von großen Taten und unglaublichen Entdeckungen. Von Liebe und Tod, von den schönen Künsten und den Schrecken der Kriege. Andächtig und voll Demut sog sie den Atem des Vergangenen in sich auf. Die Luft schmeckte trocken und ein wenig staubig, es roch nach altem Papier, nach in ledrige Einbände eingedrungenem Fett und erdigen Farben. Der Geschmack kribbelte in Nase und Hals. Sie hustete kurz, ein kräftiges Niesen schloss sich an – die Gegenwart holte sie zurück.

In der Mitte des Raumes thronte majestätisch auf vier großen Tatzenfüßen ein wuchtiger Schreibtisch aus dunkler, astfreier Eiche. Ehrfurchtsvoll, fast zärtlich strich die Hand der Frau über die glatt polierte Tischplatte, die ein wenig überstand. »Wenn du erzählen könntest«, murmelte sie vor sich hin, »du würdest von so vielen Herrschaften, Fürsten und Grafen berichten, die wichtige Dokumente auf deinem Rücken unterzeichneten. Sie alle sind tot, du aber lebst, so wie alle Bücher hier, Zeugen einer prachtvollen Vergangenheit.« Sie kam ins Träumen. Sie träumte so gerne von stolzen Prinzen, von verwunschenen Prinzessinnen, von guten und bösen Feen. Mit einem langen Seufzer ließ sie sich in den betagten Lesesessel fallen, dessen Bespannung aus dunkelrotem, abgewetzten Samt immer wieder zum gemütlichen Verweilen einlud. Ihr Blick streifte den großen, auf einem dreifüßigen Holzgestell ruhenden Bibliotheksglobus, der mit einem Kompass aus Messing glänzte – ein stiller Zeuge längst vergangenen Weltensichten. Ehrfürchtig schaute sie die erhabenen Büchertürme hinauf. Schwärmerisch sogen die Gedanken am Odem der Zeit: Niemand konnte erahnen, welche einzigartigen Quellen des Wissens, welche Zeugnisse höchster Buchdruckerkunst sich in den vielen Regalen verbargen. Keiner vermochte das kulturelle Gedächtnis ganzer Epochen auch nur annähernd zu erfassen. Die Bücher, von handwerklich geschickten Buchbindern in reich geschmückte Ledereinbände gefasst, führten ihr eigenes Leben, erwehrten sich erfolgreich aller Neuerungen und wurden um so weiser, je mehr sie an Jahren zählten. Nur die in vollkommener Schönheit ergraute Standuhr schlug mit dumpfer Inbrunst dagegen an, dass die Zeit den Atem hielt.

Im Land der Bücher verteilte sich alles kreuz und quer. Nur hier und da hinterließen – zwischen Buchseiten gesteckte, handschriftlich beschriebene Papierreiter – Spuren interessierter Leser. Kostbare historische Sammlungen, teils Unica, einmalige, teils Rara, seltene philosophische und theologische Werke umfassend, fanden sich neben enzyklopädischen Ausgaben, Chroniken und Reiseberichten. Lexika mit detailgetreuen Abbildungen aus Zoologie und Botanik standen zwischen wunderschönen Kunstbänden mit blattgroßen, zeitgenössischen Kupferstichen, Silberstiftzeichnungen auf Pergament oder aquarellierten Miniaturen. Wertvolle, mit Ornamenten reich verzierte liturgische Handschriften und alte Manuskripte in gotischer Textura, aber auch Stundenbücher mit opulent geschmückten Bildseiten reihten sich an vertrauliche Briefwechsel der Mächtigen, offenherzige Memoiren oder intimste Tagebücher. Die Bücherwelt bewahrte so manches, das niemals das Licht der Öffentlichkeit erblicken sollte – aber auch Geheimnisvolles, nur darauf wartend, neu entdeckt zu werden.

Am liebsten schmökerte die Philosophin ziellos. Dann konnte sie Zeit und Raum vergessen, tauchte ab in eine andere Welt, vergaß alles um sich herum, essen, trinken und das Leben in der Stadt. Die neu entdeckten Bücherschätze breitete sie dann vorsichtig auf einem in dunklem Nussbaum gefertigten, viereckigen und von gedrechselten Säulchen getragenen Tisch aus, der zum Lesen größerer Werke sogar einen verstellbaren Bücherständer sein Eigen nannte. Ab und an kletterte die Frau auch auf die hölzerne Bibliotheksleiter aus Eiche, um in den Regalen an die oberen, oftmals seit Jahren unberührten und mit einer dicken Staubschicht belegten Bücher zu gelangen.

So wie heute. Ihr Herz klopfte. Wo nur stand jenes autobiografische Manuskript des größten Liebesabenteurers aller Zeiten? Ein Raubdruck, von dem ihr Vater immer so glühend erzählte. Als Erstes griff sie vorsichtig nach einem in dunkelgrünem Ziegenleder gebundenen Folianten, dessen Umfang sich doppelt so groß maß, wie ein gebräuchliches Blatt Papier. Auf dem Rücken trug er ein in Gold geprägtes Wappen. Das kostbare Werk umfasst bestimmt mehr als tausend Seiten, dachte die Philosophin, als der schwere Prachtband in ihren Händen lag. Liebevoll streichelte sie den Einband, den vergoldete florale Ornamente verzierten. Eine silberne Metallschließe schützte das Kunstwerk vor dem Zerfleddern.

Den staubigen Wälzer behutsam an die Brust pressend, stieg sie die Leiter nach unten, zurück auf die Dielen der Gegenwart. Dort pustete sie sogleich kräftig über das neu entdeckte Juwel, sah aber angesichts einer sie umhüllenden dicken Staubwolke schnell die Sinnlosigkeit des Unterfangens ein. Vorsichtig legte sie den Folianten auf den mit dunkelgrünem Samt eingeschlagenen Büchertisch.

»Der dicken Staubschicht nach zu urteilen«, flüsterte sie, »muss die Schwarte hier schon seit Urzeiten unentdeckt herumstehen.« Sorgfältig schlug sie einige Seiten um, manche zeigten sich an den oberen Kanten eingerissen oder zerfranst. Auch sah sie hier und da geknickte Ecken, Kritzeleien am Rand oder braune Flecken, die sich wie Tintenkleckse auf den Seiten verteilten. Offensichtlich Schäden und Verschmutzungen, überlegte sie, die von der lebhaften Nutzung in vergangenen Tagen kundtun. Sie begann zu kichern, stellte sich einen dicklichen Mönch vor, der bei einem guten Glas Wein und schon ein wenig betrunken, unachtsam über den Lesestoff spuckte. »Dann schon lieber Ratten, die vor lauter Hunger an den Seitenrändern knabbern«, gluckste sie grinsend und spekulierte, dass die Nager nur davon abließen, wenn sie etwas Nahrhafteres als handgeschöpfte Papierseiten fänden.

 

Sie blätterte weiter, vor und zurück, hin und her. Neugierde lugte vorwitzig aus strahlenden Augen. Die Finger ertasteten respektvoll lebendige Kunstfertigkeit längst verstorbener Ahnen. Und der Text des Buches zeigte sein schönes Federkleid in lateinischer Frakturschrift: Die kunstvoll handgezeichneten Initialen, die ersten Buchstaben eines Kapitels, leuchteten großformatig in bunten Farben, umgeben von grüngoldenem Rankwerk und überreich veredelten Bordüren. Aber auch mitten in den gedruckten Texten zeigten sich eingefügte, bauchig gerundete Großbuchstaben. Diese waren der besseren Lesbarkeit halber schmucklos und in roter Farbe gehalten. Solche Lombarden, das wusste die Wissenschaftlerin, dienten vor allem dazu, textliche Teilstücke inhaltlich besser voneinander abzugrenzen – und oftmals sahen sie sich dabei so ähnlich, als seien sie mit einer speziell angefertigten Schablone gezeichnet.

Gespannt nahm die Doktorin jede neue, mit kunstvollen Wasserzeichen versehene Seite auf. Angesichts der vielen pflanzlichen Illustrationen vermutete sie, eine Abhandlung über mittelalterliche Heilkunde gefunden zu haben. »Nun gut …«, sprach sie zu dem Werk, »du offenbarst zwar nicht die erhofften großen Liebesabenteuer und erotischen Affären, aber vielleicht kann ich deinen kunstvollen Texten ein paar Geheimnisse über heilende Kräuter, obskure Mixturen und vielleicht auch tödliche Gifte entlocken.« Ein schelmisches Lächeln zog über ihr vor Anspannung glühendes Gesicht, während sich die Fantasie ein paar gebildete adlige Damen ausmalte, die das Wissen um die Heilkräfte der Natur pflegten und in weisen Büchern niederschrieben. »Männer …«, sprach die Philosophin leise vor sich hin, »denken bei Kräutern immer an bucklige alte Frauen, die durch Wiesen und Wälder streifen, um allerlei Hexenzeug zu sammeln. Warum bloß?« So recht wusste sie auch keine Antwort. Sie war müde. Gerade wollte sie das Buch wieder zuklappen, als ihr ein bei den hinteren Seiten am Rand angebrachtes Stück Leder ins Auge sprang. Ganz bestimmt ein Blattweiser, dachte sie. Sollte dieser vielleicht eine bestimmte Stelle des Werkes markieren und somit das Auffinden erleichtern? Gespannt schlug sie die gekennzeichneten Seiten auf. Zwischen der Verso, der linken Rückseite, und der Recto, der rechten Vorderseite, fand sie lose hineingelegt eine geheimnisvolle Zeichnung.