Buried Far Away – In der Ferne begraben

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Buried Far Away – In der Ferne begraben
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

– In der Ferne begraben

Biografische Angaben


Cornelia Brelowski lebt in Berlin.

Sie ist Schauspielerin, Künstlerin und Journalistin und schreibt regelmäßig Kunstrezensionen.

Buried Far Away ist ihr erster Kurzroman.

– In der Ferne begraben

Cornelia Brelowski

BURIED FAR AWAY – IN DER FERNE BEGRABEN

Novelle

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

– In der Ferne begraben

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

– In der Ferne begraben

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

TEIL I (New York)

TEIL II (London)

TEIL III (Hampstead)

TEIL IV (Tasmanien)

TEIL V (Newby)

INTERLUDIUM (Berlin)

TEIL VI (Nasir)

FINALE (Die Vernissage)

Epilog (New York)

– In der Ferne begraben

TEIL I (NEW YORK)

Sie suchte wie immer nach der Wahrheit. Oder zumindest danach, der Unwahrheit zu entfliehen.

Kapitel 1

Monika Solens war gerade ihrem Lieblings-Deli in Brooklyn entwichen und würde niemals wiederkommen. An der Tür hatte sie nämlich eine Notiz gesehen: „Wir machen diesen Deli barrierefrei.“ Die Zeichnung darunter zeigte nicht etwa einen glücklichen Rollstuhlfahrer, sondern ein Kind im Kinderwagen, mit einem Kopf so groß wie eine Wassermelone und einem Grinsen, welches selbst Charlie Brown nächtelange Albträume verpasst hätte. Sie hatte zwar bei Weitem nichts gegen Kinder – aber gegen Kinderwagen auf jeden Fall. Zumindest, wenn es um diese gestylten, riesigen Sportmaschinen ging, die auf den Bürgersteigen Brooklyns zurzeit quasi als Nahkampfmittel dienten. Die fortpflanzungsfreudige Prospect Park Community war die neue Realität und dieser Deli war, mal ganz abgesehen von dem wirklich leckeren Käsekuchen, für Monika eine der letzten Bastionen dagegen gewesen. Die schmale und steile Eingangstreppe hatte es nämlich bis jetzt unmöglich gemacht, dass der Laden in einer Hölle von Kindergeschrei, stillenden Müttern und Kinderwagenkarambolagen erstickte. Das war nun vorbei.

Monika dachte: Diese Kumulation von veganen oder vegetarischen Eltern, die irgendwelchen New-Media-Jobs nachgehen, mit denen sie ihre Jogging-Kinderwagen bezahlen, sind die eine Form der Wahrheit – oder vielleicht eher eine Form der Unwahrheit? Ist Realität denn zugleich Wahrheit? Solcherlei Gedanken, die nichts an den Tatsachen änderten und doch an ihr hingen wie lästige Spinnweben, waren Monika nicht fremd und plagten sie manchmal von früh bis spät. Hatte nicht schon damals Ethan Hawke in dem Film „Dead Poets Society“ gesagt, die Wahrheit sei wie eine zu kurze Decke, unter der man immer kalte Füße bekommt? Kann sein, aber lieber kalte Füße als Bauchweh. Denn die hatte Monika bekommen, als ihr Blick auf das grinsende Kind fiel, und somit hatte es der leckere New York Cheese Cake heute schwer in ihrem Bauch.

Was machten eigentlich diejenigen, die aus anderen Gründen nach Brooklyn gekommen waren, als in relativ großen Häusern relativ kleine Erdlinge zu produzieren? Zogen die letztendlich nach Queens? Oder aber das Undenkbare: Zogen sie zurück in ein winziges, überteuertes und lautes Apartment in Manhattan? So hatte es jedenfalls Monika gemacht; entgegen aller Warnungen ihrer Brooklyner Freundinnen, die sich bereits auf ein Leben zwischen Park, Coffeeshop und Windeln eingependelt hatten …

Sie wanderte weiter in Richtung U-Bahn. Laufen war nämlich das Einzige, was Monika an Tagen wie diesem ein zuverlässiges Gefühl von Realität vermittelte. Das in der Sonne leuchtende Brooklyn Museum zeigte ein großes Plakat für eine Ausstellung über die Kultur der Indianer. Sie war schon drin gewesen und hatte sich die bemalten Lederhäute, Tragekörbe und Köcher angesehen – es war ihr aber weniger wie eine kulturgeschichtliche Ausstellung vorgekommen als vielmehr wie eine archaisch anmutende Beute-Präsentation.

Das traurigste und doch wahrhaftigste Element der Ausstellung war das Konterfei eines jungen Malers. Dieses Foto war von so großer Schönheit, dass die Kuratoren es als Poster aufgezogen hatten. Ja, das Foto war schön, doch die Augen des jungen Mannes waren die eines Depressiven. Sie hatte die Angaben gelesen: Dieser junge Mann hatte noch Teppiche und Lederhäute bemalt, als der weiße Mann bereits seine Welt übernommen hatte. Seine Arbeiten waren größtenteils in der Reservation entstanden. Was für ein grausamer Gedanke, Kunst zu produzieren, die dann zum Verkauf in die Hände ignoranter Händler gelangt – und damit ihrer ursprünglichen spirituellen Aufgabe vollständig beraubt wird.

Ohne die Prärie und den Wind, in Glaskästen präsentiert, hatten die Relikte für Monika wie tot gewirkt. Das angebliche Motto dieser Ausstellung, die Kultur der Indianer zu ehren: „unwahr“ oder zumindest „unerreicht“. Das Foto des jungen Mannes dagegen: „wahr“. Es hatte sie an eine Postkarte erinnert, die sie sich einmal im „National Museum of the American Indian“ in Manhattan gekauft hatte: Die zeigte einen jungen Lakota-Teenager mit bloßem Oberkörper, den verschleierten Blick in die Ferne gerichtet. Sein Name stand unter dem Foto: „Buried far Away“.

Nachdem Monika das Museum passiert hatte, ging es zurück in die Schluchten der U-Bahn und in den A-Train. Monika lebte zurzeit mit zwei Mitbewohnern zusammen in einem abgewohnten Apartment in Washington Heights, auf der Upper West Side. Was für ein schöner Name für einen Stadtteil. Richtung Norden, in der Nähe des Museums, war Washington Heights auch eine wirklich schöne Gegend, doch ihre Wohnung war leider in den falschen Straßennummern angesiedelt. Ein ehemals jüdisches Viertel war übernommen worden von einem Mix aus Einwanderer-Nationalitäten, ohne die frühere Identität und ohne den belebenden Effekt anderer gemischter Communitys. Ihre Wohnungstür hatte aber noch immer die kleine Thorarolle aus Messing, welche Monika anfangs so fasziniert hatte, dass sie ohne eine weitere Überprüfung der Gegend in die WG eingezogen war. Das war typisch für sie und sie hatte die spontane Entscheidung wieder mal schnell bereut.

Nachts war ihre Straße von wummernden Bässen erfüllt, da die Drogenhändler ihre Autotüren öffneten, um Kunden anzulocken. Warum die nun gerade ihre kleine Seitenstraße zum Umschlagplatz auserkoren hatten, war und blieb Monika ein Rätsel. Neulich hatte sie sogar zwei von denen am helllichten Tag im Hausflur gehabt, die konstant aufgebrochene Haustür erlaubte keinerlei Schutz mehr. Grinsend hatte ein mit Goldketten behängter Dealer ihr die Fahrstuhltür aufgehalten. Na toll, eine ganz neue Art von Doorman, hatte sie bei sich gedacht, als sie an ihm vorbeihuschte.

Zu Hause begrüßte sie ihr Lieblingsmitbewohner Nasir mit einem schiefen Lächeln. Er hatte mal wieder die halbe Nacht auf den Jobangebotsseiten verbracht und die andere Hälfte mit seinen Freunden in Teheran auf Facebook. „He, Monika, hast du wieder deine Seele in Brooklyn gesucht?“, fragte er. Sie teilten sich eine Riesenschüssel Cornflakes mit ihrem ganz persönlichen Special: zwei Kugeln Mövenpick-Eiscreme, die sie regelmäßig in einem Laden in der Bleeker Street besorgte.

„Ja, das hab ich, aber nun ist wirklich Schluss mit Brooklyn.“ Sie seufzte und erzählte ihm von der angekündigten Veränderung ihres Lieblings-Delis. Nasir nickte vielsagend und lächelte.

Über die Schüssel Cornflakes gebeugt und den Löffel auf halber Höhe, sah sie ihm in die müden Augen mit den Goldlichtern darin. „Du, Nasir?“

„Ja, meine schwarzhaarige Protestantin? Oder besser gesagt, Protestierende?“

„Soll ich zurückgehen? Nach Berlin? Scheiß auf die Greencard!“

Es kam die altbekannte Reaktion: „Bist du wahnsinnig?! Weißt du, was ich für deine Greencard tun würde?“

Sie nickte. „Ich weiß, ich weiß, du hast ja recht.“

 

Sie wusste, dass Nasirs Zeit in New York unfreiwillig limitiert war. Sein Vater hatte Beziehungen eines entfernten Onkels bei der Partei spielen lassen, um ihn zum Studium außer Landes und in die Staaten zu bugsieren, doch die Greencard schien in unerreichbarer Zukunft und eine illegale Existenz war Nasir sicher, wenn er nicht bald den Rückweg in seine traurige, versmogte Heimatstadt antrat. Die amerikanischen Arbeitgeber waren kaum geneigt, Greencards zu beantragen, egal wie hochgebildet der Bewerber auch sein mochte. Und ein Job bei der Regierung oder der UN im Vorfeld eines eventuellen amerikanischiranischen Konfliktes (eine von Monikas weniger genialen Ideen) würde eventuell bedeuten, dass Nasirs Familie Schwierigkeiten bekommen würde. Ohne sein Wissen hatte Monika schon öfter ihre amerikanischen Freundinnen angesprochen: Ob es vielleicht eine gebe, die sich mit Nasir verheiraten würde? Nur so auf dem Papier? Doch den meisten ihrer ansonsten politisch so korrekten Freundinnen waren die Nachforschungen der Einwanderungsbehörde mittlerweile einfach zu nervig, um sich auf derartige Deals einzulassen. Liberalismus hin oder her.

Nach dem verspäteten Frühstück machte sich Monika auf den Weg nach Queens zu ihrem Teilzeitjob in einer kleinen, aber feinen Kunstgalerie. An der Kasse zu stehen, war zwar nicht schön, aber an der Kasse eines kleinen Museums für moderne Kunst zu stehen, nicht ganz so schlimm.

Der N-Train war nicht voll zu dieser Tageszeit und wie immer fand sie es erstaunlich, wie ihr Herzschlag sich beruhigte, sobald der Zug es über die Queensborough Bridge geschafft hatte. Die kleine Galerie lag etwas versteckt Richtung Fluss und zog trotzdem täglich eine gute Anzahl von Besuchern an.

Ihr allererster Eindruck von der Galerie war eine hohe schwarze Skulptur im ersten Raum gewesen, die wahlweise einen Baum oder eine abstrakte bärenartige Figur darstellen könnte. Und da war es: das definitive Gefühl, in einem wahren Raum zu sein. Kurz darauf hatte ein Freund aus Queens Monika gesteckt, dass die Galerie Mitarbeiter suchte. Die Bezahlung war zwar zum Heulen, doch der Job relativ angenehm und die Kollegen „supernice“, wie man hier so sagte. Sie schlüpfte durch den Hintereingang.

Keyiko, ihre Kollegin, war schon da und winkte sie aufgeregt heran: „Weißt du, wer heute hier ist? Er hat zurzeit eine kleine Ausstellung im PS1, glaube ich. Eine Ikone der Achtziger! Er hat Warhol und Basquiat gekannt, da bin ich mir ganz sicher. Früher lag dem jede Frau in Manhattan und auch so mancher Typ zu Füßen.“ Sie hatte knallrote Bäckchen.

„Hm?“, sagte Monika „Keine Ahnung, von wem du sprichst.“ Sie hängte ihren Mantel auf. Es war einer dieser klaren Tage, die eine frische Brise vom East River herüber brachten und einen frieren ließen, obwohl die Märzsonne schien. In der Galerie war es auch nicht gerade warm und sie zog ihre Strickjacke fester um sich: Yamamoto, aus zweiter Hand, ihr liebstes Stück.

Keyiko wurde blass um die Nase: „Ach du Schande, er kommt hierher.“

Monika sah in den Besucherraum, wo ein Mann von einem der kleinen Holzsessel aufgestanden war. Groß war er und schon im Mantel. Teures Tuch, soweit sie sehen konnte. Sein Gesicht wirkte irgendwie pockennarbig, wie nach einem ernsthaften Akne-Leiden. Als er näher kam, fielen ihr als Erstes die sehr erstaunliche Nase und seine starken Augenbrauen auf. Seine Nase war zwar klassisch, aber auch das, was ihre Mutter als „orientalisch“ bezeichnet hätte. Seit Monika in New York lebte, bezeichnete sie so eine Nase im Stillen aber eher als jüdisch oder israelisch. Um den vollen Mund des Mannes zog sich ein konstant ironischer Zug, der sich gerade in diesem Moment verstärkte und zu einer Art Schmollmund wurde, bis sich die Lippen mit einem nachdenklichen Schmatzen voneinander lösten, als sei gerade ein Gedankengang zu seinem Ende gekommen. Die stechenden Augen unter den buschigen Brauen richteten sich nun auf Monika.

„How much for this?“ Er deutete auf ein Buch in seiner Hand. Vielleicht kein angenehmes Gesicht, doch irgendwas in diesem Gesicht war – ja, was? Ehrlich? Wahrhaftig?

Monika nahm ihm das Buch aus der Hand: „Japanischer Neorealismus nach 1945.“ Kein Preis, kein Computercode. „Sorry, da muss ich nachfragen“, sagte Monika und ging auf die Suche nach Keyiko, die sich hinter der Garderobe zu schaffen gemacht hatte. „Mein Gott, kannst du mal mit deinem Getue aufhören?“, rief sie. „Der will wissen, was dieses Buch kostet, und ich habe keinen Schimmer. Ich glaube, ich muss Bob anrufen. Mist.“

Keyikos schmale Augen wurden so groß, wie es eben noch ging. „Weißt du denn nicht, wer das ist?? Das ist Mike Newby! Er war so ziemlich in jedem Independentfilm der Achtziger, hat gemodelt und Musik gemacht und … jetzt ist er Maler und stellt im PS1 aus!“

Monika wurde langsam immer genervter von Keyikos Gehabe. Sie atmete bewusst langsam aus. „Okay, Keyiko. Bitte vergib mir meine Ignoranz. Also, wie erfahre ich denn jetzt diesen Preis?!“

Keyiko schien verstimmt. Sie konnte nicht fassen, dass Monika, die keine Ahnung hatte, nun auf eine, wenn auch oberflächliche, Art und Weise mit ihm verknüpft war – und sei es auch nur durch den Verkauf eines Buches. Während sie selbst, Keyiko, sich vor lauter Ehrfurcht hinter den Mänteln vergrub …

Monika wartete noch ein bisschen mit hochgezogener Augenbraue, aber weil Keyiko nun beleidigt verstummt zu sein schien, ging sie zurück und sagte: „Hey, tut mir leid, ich muss beim Management nachfragen. Das Ansichtsexemplar ist nicht zu verkaufen und alle anderen scheinen vergriffen zu sein – wir stocken aber regelmäßig den Bestand auf. Wie ich höre, sind Sie in diesen Tagen hier im PS1 beschäftigt? Ich könnte es dort abliefern. Das ist kein Problem.“ An diese Form der kompromisslosen Dienstleistungsmentalität hatte sie sich erst gewöhnen müssen. In Berlin hätte man so etwas gesagt wie: „Versuchen Sie’s in einer Woche noch mal.“

Seine direkten dunklen Augen blickten vom Bucheinband hoch. „Okay. Danke. Vielen Dank, um genau zu sein.“

Um genau zu sein? Komischer Typ, aber gut erzogen, dachte Monika.

Er streckte ihr einen Flyer vom PS1-Museum hin. „Sorry, habe keine Visitenkarte, das ist chronisch. Aber hier können Sie mich erreichen.“ Der Hauch eines Grinsens. Dann eine nüchterne Kehrtwende und der wehende Mantel verschwand durch die Tür.

Nach ein paar Stunden hatten sich die Besuchermassen auf ein angeregt diskutierendes Pärchen aus Stockholm und eine permanent stirnrunzelnde Russin reduziert. Nachdem diese (im ersten Fall) mit Chai Tee und (im zweiten Fall) mit schwarzem Tee plus Kandis versorgt waren, machte Monika sich daran, an ihrem Kunstblog zu schreiben.

Keyiko schaute ihr ungläubig über die Schulter: „Das machst du auf der Arbeit?“ Hierbei blies sie liebevoll auf ihren Tee und schwankte wie immer auf ihren kleinen Füßen hin und her, als ob ein Song sie innerlich begleitete.

Monika sah genervt auf, da Keyiko keine Anstalten machte, sich wegzubewegen. „Ich kann in dieser Umgebung einfach besser schreiben. Und bedenke: Ich verdiene ganze zwölf Dollar die Stunde, halbtags. Da kann ich wohl mal, wenn nichts los ist, an meinem eigenen Kram schreiben. Ist ja nicht etwa so, als würde ich damit Geld verdienen.“

Die gefühlte Ungerechtigkeit der Tatsache, dass sie trotz Uni-Abschluss die Welt kostenlos mit Rezensionen über laufende Ausstellungen und einem Online-Kalender der örtlichen Museen und Galerien versorgte, entlockte Monika wie immer einen resignierten Stoßseufzer. Doch was tut man nicht alles für die Kunst, dachte sie. Womit wir wieder bei der Wahrheit wären … Denn Kunst war einer der wenigen Bereiche, in denen heutzutage noch ein Körnchen Wahrheit zu finden war. So dachte Monika jedenfalls, als sie sich für Kunstgeschichte einschrieb. In einer anderen, glanzvolleren Zeit wären die Monika Solens dieser Welt vielleicht nur graue Mäuse. Doch weil die Welt nun mal so ist, wie sie ist, leuchten sie wohl ab und an daraus hervor wie Sterne.

Dieser Satz stammt nicht etwa aus Monikas Gedankenwelt, die sich selbst sicherlich niemals als Stern bezeichnet hätte. Er stammt aus einem anderen Buch, aus einer anderen Zeit.

Kapitel 2 (New York)

Am nächsten Tag regnete es. Es war einer der unbarmherzigen New Yorker Regentage: grau und strömend. Die Bürgersteige, Zeitungsstände, Hotdog-Wägelchen, ja selbst die Pferde der Kutschen am Südende des Central Parks wurden zu einer undeutlichen Mattscheibe und nur die Ampeln und Reklamen gaben etwas Farbe ins Geschehen. Queens ertrank derweil in Unbedeutsamkeit. Queens im Regen, das geht ja gar nicht, dachte Monika in einer Anwandlung von Berliner Slang. Wie das MoMA damals wohl auf die Idee gekommen war, hierhin auszulagern?

Nun denn, es half nichts, sie musste zur Galerie. Ihr Arbeitgeber Bob hatte angerufen: Es gebe einen Stapel noch nicht ausgepreister Bücher, den sie durchschauen und katalogisieren sollte. Ausgaben würden erstattet (also zwei U-Bahn-Tickets) und sie werde eine Pauschale von 120 Dollar dafür bekommen, solange nur alles fertig werde. Die Galerie selbst war für Besucher heute geschlossen.

Sie sprang über die Pfützen auf der 33. hinweg und eilte in das verlassene Gebäude. Selbst dieses Kleinod sah im Regen traurig aus. Bob, dachte sie, hatte es gut. Bob in seinem Chelsea-Loft, der wahrscheinlich gerade mit seinem Freund Maurice auf dem Sofa saß und teures japanisches Essen bestellt hatte. Oder auf dem Stepper schwitzte und dabei die „Antique Road Show“ auf dem Flachbildfernseher an der Wand guckte. Im Grunde war sie froh, dass Bob nie ihren Kunst-Blog verfolgte, denn so konnte er auch nicht zufälligerweise darauf kommen, ihre Schichtzeiten mit der Zeit ihrer neuesten Einträge zu vergleichen.

In der Galerie angekommen, machte sie es sich auf dem honigfarbenen Holzboden bequem. Okay, hier waren also die unausgepreisten Bücher. Monografien, Ausstellungskataloge und – ja, da waren auch die fehlenden Exemplare des „Japanischen Neorealismus“.

„Super organisiert der Laden, also wirklich, Bob“, murmelte Monika vor sich hin. „Komm mal von deinen Chelsea-Cupcakes weg und schau ab und an in deiner eigenen Galerie vorbei. Nun ja, in deiner geborgten Galerie – das kommt schon eher hin. Der wunderschönen Galerie, übrigens. Nein, bleib lieber weg, Bob, du hast sowieso keine Ahnung …“

Dieser für Monika schon fast heilige Ort wurde nämlich damals vom Künstler selbst erbaut, als Heim für sein Werk: ein Gesamtkunstwerk zur Freude und Quelle der Erfrischung für alle, die sich auf den Weg jenseits von Manhattan machten, um zu suchen und zu finden. Langsam werde ich wohl etwas rührselig, dachte Monika, als sie so allein auf dem Boden kniete und die Bücher sortierte. Nur weil es mir selbst mit gewissen Orten so geht, muss es den Bobs dieser Welt längst nicht dasselbe bedeuten, auch wenn sie vielleicht die Fäden in der Hand halten.

Und nun? Wie auch immer, sie hatte versprochen, das Buch über japanischen Neorealismus im PS1 vorbeizubringen. Sollte ein Künstler, der chronisch krank war, eigentlich für ein Buch zahlen? War er wohlhabend, wie der Stoff seines Mantels vermuten ließ, oder hatte ihm das bis vor Kurzem quasi nicht existierende amerikanische Gesundheitssystem bereits die Haare vom Kopf gefressen? Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Da war er wieder, ihr Gerechtigkeitssinn, der nur auf Vermutungen basierte und übrigens schon so einige ihrer Jobs gefährdet oder beendet hatte. Natürlich würde Mr. – ach ja, Mr. Mike Newby zahlen können. Vielleicht hatte er ja schon ein paar Zeichnungen oder gar Gemälde verkauft. Sie grinste. Zum Beispiel an all die Verehrerinnen von damals, die sich seine Bilder an die Wand hängten, um mit feuchten Augen ihrer eigenen Vergangenheit im drogenumnebelten Manhattan der Achtziger nachzutrauern. Oder als Erinnerung an die eine lebensverändernde Party im Studio 54 … So ungefähr stellte sich Monika die gut zahlenden Kunstliebhaberinnen des Mike Newby vor.

Sie öffnete die Einladung und schaute auf eine der Zeichnungen. „You have purchased three items“ „Sie haben drei Dinge in Ihrem Einkaufswagen“ – hieß die und zeigte: links oben eine unbeholfen gemalte Figur, die panisch einige aufgerollte Leinwände umklammerte. Rechts von der Figur ein goldgelbes Pferd, welches besonnen ins Leere guckte. In der Mitte des Bildes eine große Fläche abgebrannt aussehender Steppe. Rechts unten im Bild war das Icon eines Einkaufwagens platziert und daneben der Vermerk „shopping basket“. Sie schaute lange auf die teils naiv, teils gekonnt wirkende Zeichnung. Ach du Schande. Was war denn das? Sie blickte wieder auf die Zeichnung, naiv, aber wiederum doch nicht. Sie hatte sich verliebt, denn diese Zeichnung war skurriler Traum und ungeschliffene Wahrheit zugleich.

 

Dass Monika automatisch fluchte, wenn sie bemerkte, dass sie in irgendjemanden oder irgendetwas verliebt war, hatte den Grund, dass ihr dieses Gefühl im Leben eigentlich nie viel Gutes gebracht hatte. Wie ihre Mutter zu sagen pflegte, hatte sie „fixe Ideen“, die sie mit sich herumtrug, als wäre sie schwanger. Monika Solens war der festen Meinung, dass es weder ihr selbst noch dem Objekt ihrer Zuneigung in irgendeiner Form guttat, wenn sie sich verliebte. Eine Ausnahme bildeten Hunde und Katzen, denn die waren einfach nur froh und gaben alles eins zu eins zurück, was sie an Zuneigung bekamen. Am schwierigsten war es mit Menschen. Und bei einer Zeichnung? Am liebsten würde sie nun gleich in ihrem Kunst-Blog über die Ausstellung schreiben. Doch Bobs unausgepreiste Bücher warteten.

Fest stand, dass das Buch für Mike Newby geliefert werden musste, und so überließ Monika die Stapel (und die 120 Dollar) zunächst ihrem Schicksal und stapfte los durch den Regen in Richtung des PS1-Museums. Sie hatte nur einen Gedanken im Kopf: Lächerlich. Der Schöpfer dieser Zeichnung hat ein bewegtes Leben in der New Yorker Undergroundszene hinter sich und ist bestimmt nicht interessiert an der Meinung einer Blogschreiberin, die mit 35 noch nicht wirklich weiß, wo es mit ihrem Leben hingehen soll. Und die die Wahrheit sucht, nicht zu vergessen.

Wäre ja mal ein toller Eintrag bei der Online-Partnersuche. Alter: 35. Beruf: Galeriemitarbeiterin bzw. Teekocherin (auf Wunsch mit Kandis). Hobbys: ein Kunst-Blog und die Wahrheit suchen. Lächerlich.

Monika stapfte weiter durch das ausdruckslose Queens im Regen. Das Laufen aber war wie immer gut und wahr und klärte den Kopf. Der Weg hätte ewig dauern können, wenn es nach ihr gegangen wäre. Wenn das Wasser nur nicht langsam durch die Schuhe sickern würde. Die Sohlen hatten schon in der Galerie beim Trocknen ihre Spitzen aufgeklappt und Hallo gesagt. Sie mussten neu verklebt werden, aber ihr Schuster war in Lower Manhattan und kostete etwa einen Tagesverdienst.

Mit solcherlei Gedanken banaler und doch existentieller Natur beschäftigt, kam sie wie eine nasse Katze durch die Tür ins PS1 gehuscht und nieste laut. „Bless you and hello!“, sagte ein schlaksiger Farbiger an der Kasse und grinste breit. „Wollen Sie zur Ausstellung?“

Monika nieste zur Antwort gleich noch einmal. Sie holte das Buch aus ihrer Ledertasche, zum Glück war es eingeschweißt und hatte nichts vom Regen abbekommen. Sie streckte es dem jungen Mann entgegen wie einen Ausweis. „Ist Mike Newby wohl zu erreichen? Ich habe auf seinen Wunsch dieses Buch beiseitegelegt.“

Seine freundlichen Augen streiften den Bucheinband. „Mr. Newby? Ja klar, ich denke mal, wir haben seine Mobilnummer. Soll ich ihm Bescheid geben oder wollen Sie …“ Monika schüttelte vehement den Kopf, streckte abwehrend die Hand aus und nieste zum dritten Mal. „Bless you!“, sagte er noch einmal und: „Schreckliches Wetter da draußen. Dauert nicht lange.“ Er tippte etwas in seinen PC. „Hier ist sie – ich hoffe, die stimmt.“ Er wählte die Nummer. „Hi, this is Larry from PS1 – ja genau. Ja, könnten Sie ihm sagen, dass ein Buch für ihn hinterlegt wurde? ‚Japanischer Realismus‘ oder so ähnlich. Ja genau. Oh … Mr. Newby? Oh, guten Tag, Sir. Ja, natürlich, ich gebe sie Ihnen.“

Monikas abwehrende Armbewegungen setzten wieder ein, doch dann hatte sie schon den Hörer in der Hand. Die dunkle Stimme am anderen Ende klang irgendwie rau und gedämpft. Mike Newby bedankte sich und sagte, er habe eine ausgefallene Bitte: Da ihm seine Krankheit gerade wieder zu schaffen mache, könne er wahrscheinlich vorerst nicht im PS1 vorbeikommen. Wenn sie aber nichts dagegen habe, an einem sonnigeren Tag bei ihm in Brooklyn vorbeizuschauen, dann könne er ihr das Geld und natürlich eine Entschädigung für den Botengang persönlich geben. Seine Haushälterin würde sie am Eingang in Empfang nehmen, falls er selbst zu klapprig wäre, das sei eine Frage der Tagesform.

Brooklyn?, dachte Monika. Also waren dort doch noch ein paar Künstler übrig. Oder hatte der etwa Kinder? Haushälterin – das klang allerdings nicht gerade nach Kindergeschrei und veganer Prospect Park Community.

„Okay, Mr. Newby, kein Problem“, sagte Monika und dann „Hatschi!“ und legte schnell auf.

Abends, auf dem Rückweg von der Galerie zum N-Train, fühlte sie sich irgendwie anders. Was genau anders war, das konnte sie nicht sagen, doch die Zeichnung ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie beschloss, in ihrem Blog über die Ausstellung zu schreiben. Das hieß allerdings, dass sie morgen, an ihrem freien Tag, wieder nach Queens musste. Danach – und erst danach – würde sie das Buch abliefern. Trotz ihrer langsam anschwellenden Nasenschleimhäute fühlte sich Monika gar nicht übel. Die dunkle Stimme war noch präsent und sie dachte: Wie komisch, er spricht, als sei er in seiner eigenen Welt und doch gleichzeitig ganz bei seinem Gegenüber. Seltsames Phänomen. Als sie die U-Bahn-Station endlich erreichte, hatte der Regen aufgehört.