Buch lesen: «Lena und der Großvater»

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Lena und der Großvater

Eine Märchengeschichte

Erika Meier

illustriert von Corinne Bromundt


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Impressum

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2021 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten. Hardcoverauflage erschienen 2018.

Lektorat: : Hans-R. Höhener und Melanie Wittmann

Herstellung: CAT creativ - cat-creativ.at

ISBN: 978-3-86196-739-2 - Hardcover

ISBN: 978-3-96074-399-6 - E-Book

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Inhalt

Teil 1: Lenas Zuhause und ein Besuch

Teil 2: Lenas Herbstferien

Teil 3: Abschied von Lenas Waldfreund

Teil 4: Frau Kohlhuber und ihre Puppen

Teil 5: Lenas Mitgefühl und ein Plan

Teil 6: Flucht mit der Wandermagd

Teil 7: Johannas neues Zuhause

Die Autorin

Die Entstehungsgeschichte

Buchtipp

Impressum

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Teil 1: Lenas Zuhause und ein Besuch

Vor langer Zeit lebte das Mädchen Lena zusammen mit seinem Großvater am Rande einer kleinen Stadt namens Ganshausen, die sich in eine beschauliche Landschaft schmiegte. Sie wohnten froh und glücklich in einem alten Backsteinhaus, dessen Besonderheit der schöne Treppengiebel war. Die Hälfte der Frontseite war mit Reblaub bekränzt. Rechts und links des Anwesens erhoben sich ein paar mächtige Kastanienbäume, die wie stille Wächter wirkten. Hinterm Haus führte ein gewundener Pfad direkt zum nahen Wald.

Im Erdgeschoss des Hauses befand sich die Schuhflickerei, in der der alte Mann noch täglich seinem geliebten Handwerk nachging. Er erfreute sich immer noch einer robusten Gesundheit sowie eines regen Geistes. Überdies war er trotz seines brummbärigen Wesens ein angenehmer Gesprächspartner, der immer die Zeit fand, mit seiner vertrauten, treuen Kundschaft ein paar Worte zu wechseln. Alt und Jung in der Stadt kannte und schätzte ihn. Er verstand sein Handwerk wie kein Zweiter. Schon sein Vater hatte die Tradition des Schuhflickens ausgeübt. Das sprach sich herum, gar über die Stadtgrenze hinaus, und so war er fast immer mit Arbeit eingedeckt, was ihm einen willkommenen Verdienst einbrachte.

Wann immer möglich, legte er etwas Geld für die mittlerweile zehnjährige Lena zur Seite. Ihre Eltern waren bei einem Bergunfall zu Tode gekommen, als sie erst zwei Jahre alt gewesen war. Seither kümmerte sich ihr Großvater liebevoll um Lena, die er oft Lenchen zu nennen pflegte. Er war mächtig stolz auf seine Enkelin. Es lag ihm viel daran, dass es ihr einmal an nichts fehlen würde.

Täglich gingen bei ihm die Leute ein und aus. Einige kamen nur auf einen Schwatz vorbei und wollten die Neuigkeiten des Tages erfahren. Nicht selten brachten sie dem Schuhflicker und seiner Lena Obst, Selbstgebackenes oder Zeitschriften mit. In der Schuhflickerei lag alles wie Kraut und Rüben durcheinander, was der Gemütlichkeit des Raumes jedoch keinen Abbruch tat. Der Geruch des Leders stieg einem schon auf dem Vorplatz in die Nase. Mit seiner um den Leib gebundenen dicken Schürze auf einem runden, kleinen Stuhl sitzend, umgeben von Stapeln von Schuhen, verbreitete der Schuster eine behagliche Atmosphäre und alle fühlten sich wohl bei ihm in seinem Werkstättchen.

Hatte Lena schulfrei, lag ihr nichts mehr am Herzen, als ihrem Großvater bei der Arbeit zuzusehen oder mitzuhelfen, so gut sie konnte. An Tagen, an denen der Schuhflicker sich vor lauter Arbeit kaum mehr retten konnte, schwänzte sie sogar die Schule. Die beiden schienen ein eingeschworenes Gespann zu sein. Das Mädchen trug zwei lange braune Zöpfe, die an ihren Enden meistens mit knallgrünen Schleifen geschmückt waren. Sie hatte ein sonniges Gemüt. Ihr silberhelles Lachen unterstrich ihre Unbekümmertheit. Herzhaft packte sie bei den anfallenden Arbeiten an. So putzte sie geflickte Schuhe, zog neue Schnürsenkel ein und noch vieles mehr. Alten oder kranken Leuten, die kaum mehr gehen konnten, brachte sie die frisch besohlten Schuhe nach Hause. Diese Tätigkeit bereitete ihr immer großes Vergnügen, gab’s doch hin und wieder, nebst viel Lob, ein Trinkgeld. Lena wollte von ihrem Großvater alles über die Schuhflickerei erfahren und bestürmte ihn immer wieder mit bohrenden Fragen, die er stets geduldig beantwortete. Ihre Neugier war manchmal kaum zu stillen.

„Das kann nur gut für mich und Lena sein“, sagte der alte Mann zu sich selbst und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, sodass seine Brille zur Nasenspitze rutschte. „So muss ich mir keine Gedanken über die Nachfolge machen.“ Und so setzte er sich mit einem Schmunzeln an die Nähmaschine, deren Rattern bald den Raum erfüllte.

Es war an einem Werktag, als Lena nach Schulschluss mit hochroten Apfelbäckchen in die Schuhwerkstatt gestürmt kam. Sie knallte ihren Schulrucksack genau in die Ecke, wo Kater Moro in wonniglicher Manier auf dem Ofen schlief. Dieser erschrak heftig, schoss auf, machte einen Riesensatz und fegte wie ein Blitz durchs offene Fenster davon.

„Werd bloß nicht übermütig, Lenchen“, meinte der Großvater.

„Nein, nein“, entgegnete Lena freudig. „Ich muss dich etwas fragen, Großvater.“

„Nur zu, ich bin ganz Ohr“, sagte der Schuhflicker geduldig.

„Wenn’s die Arbeit zulässt, würde ich gerne heute Nachmittag den alten Holzfäller im Walde besuchen. Du weißt, es ist schon ein paar Wochen her, seit ich bei ihm vorbeigeschaut habe.“ Ihrem bittenden Blick war schwer zu widerstehen.

„Ja, meine Kleine, das geht in Ordnung“, stimmte der alte Mann bedächtig zu. „Vergiss nicht, ein paar Schinkenspeckstücke und eine Flasche Kräuterlikör einzupacken. Der Speck lagert im Keller im großen Gestell. Die Mäuse kommen noch lange nicht zu kurz, auch wenn’s ein paar weniger Stücke sind“, erklärte er scherzend und machte dabei ein frohes Gesicht.

Dankend und leuchtenden Blicks umarmte Lena ihren Großvater und hüpfte wie ein Wirbelwind davon, ihre Zöpfe lustig hin und her schwenkend. Mit großem Eifer rannte sie in den Keller, um die Speisen zu holen.

In der Küche füllte sie ihren Flechtkorb mit dem Speck und dem Likör, mit frischem Brot und ein paar Leckereien. Die ganzen Sachen büschelte sie mit großer Sorgfalt zurecht. Obendrauf kamen noch eine Wolldecke und etwas Verbandszeug, denn der alte Holzfäller hatte sich schon oft mit dem Hackbeil bei seiner nicht ungefährlichen Waldarbeit verletzt.

Lena war trotz ihres kindlichen Alters höchst umsichtig. Der Wald hatte schon immer eine große Anziehungskraft auf sie ausgeübt, und so machte es ihr nichts aus, ihren Freund, den weisen Holzfäller, alle paar Wochen zu besuchen, um zu sehen, ob er wohlauf war. Dieser wohnte in einer windschiefen Holzhütte in einem eher dunklen Waldstück, das den Namen „Wäldchen der verwitterten Tannen“ trug. Er führte ein karges Leben, das er aber um nichts in der Welt hätte eintauschen wollen. Immer machte er den Eindruck eines heiteren Menschen. Den Waldtieren war er sehr zugetan und oft sprach er mit ihnen. So verband ihn eine große Verbundenheit mit der Natur und ihren Bewohnern ringsum. Kranke oder verlassene Jungtiere pflegte er hingebungsvoll, um sie dann wieder in die Freiheit zu entlassen.

Jedes Mal, wenn ihn Lenchen besuchte, griff er in seine Geschichtenkiste und erzählte ihr alte Sagen und auch wahre Begebenheiten aus dem Leben in der Stadt Ganshausen. Viele große und kleine Geheimnisse hatte er im Laufe seines Lebens in ein Heft gekritzelt, dessen Seiten schon längst von der Sonne vergilbt waren. Lena liebte es, mit dem Holzfäller auf dem knarrenden Holzbänkchen vor der Hütte zu sitzen, wo sie ihm gebannt zuhörte. So erfuhr sie vieles über ihren Herkunftsort und dessen Einwohner, die seit Generationen mit der Tradition der Gänsefederverarbeitung verbunden waren und so ihren Lebensunterhalt verdienten.

An diesem Nachmittag wölbte sich der Himmel im schönsten Blau. Wie eine wärmende, unsichtbare Hand streifte der Sommerwind über die Landschaft. Vögel, Schmetterlinge und Bienen zeigten sich schwebend überm grünen Wiesengrund. Der in die Jahre gekommene Kater Moro versuchte wieder einmal, einen Vogel zu fangen. Seinem Misserfolg ließ er ein jämmerliches Miauen folgen und verzog sich beleidigt in eine Ecke.

Lena zog ihre Sonntagsschürze über, packte den vollen Korb und verabschiedete sich mit einem fröhlichen Winken von ihrem Großvater. Sie liebte es, den duftenden Tannenwald zu durchstreifen. Dann und wann setzte sie sich auf einen Baumstrunk, schaute stillvergnügt den vorbeiflatternden Faltern zu, pflückte Beeren oder sammelte Zweige, die sie zu einem Reisigbündel schnürte. Am Ufer des quellklaren Waldbächleins nahm sie noch ein paar Dotterblumen an sich.

Als sie nach gut einer Stunde beim Häuschen ihres Holzfällerfreundes ankam, war alles ruhig. Ein warmer Wind fuhr durch die Tannen. Sonnenstrahlen tanzten auf dem moosigen Waldboden. Zwei Eichhörnchen huschten vorbei und verschwanden flink im nahen Unterholz. Lena stellte den Korb auf die Sitzbank vor der Hütte und schaute durch die einen Spaltbreit geöffnete Türe. Im halbdunklen Inneren lagen verschrumpelte Früchte herum, die einen gärenden Duft verbreiteten. In einer Ecke war ein Haufen völlig zermatschter Nüsse zu sehen. Der Holzfäller schlummerte auf einem Stuhl sitzend vornübergebeugt vor sich hin. Sein langer, spitz zulaufender Bart fiel ihm bis auf die Knie. Er bemerkte Lenas Ankommen nicht.

Vorsichtig zupfte sie ihn am Arm. Verdutzt schaute er ihr ins Gesicht und hieß sie mit zittriger Stimme willkommen. Sein vom Wetter gegerbtes Gesicht erheiterte sich augenblicklich, als er das Mädchen sah.

„Hallo, mein lieber Freund“, begrüßte ihn Lena mit einem aufmunternden Lachen. „Ich hab dir ein paar Kleinigkeiten mitgebracht. Die Esswaren stell ich in deine Kochecke, die Wolldecke leg ich übers Kanapee.“

Langsam erhob sich der alte Mann vom Stuhl und griff nach dem Gehstock, den Lena schon bereithielt. Auf seinen Unterarm schauend, bemerkte das Mädchen, dass dieser Schürfwunden aufwies.

„Ach du liebe Zeit, da hast du dich aber arg verletzt!“, stellte Lena erschrocken fest.

„Das heilt von alleine“, konterte der Holzfäller und wischte sich eine Fliege von seiner kühn geschwungenen Nase.

„Das lassen wir auf keinen Fall so stehen. Ich hab Wundverbände mitgebracht“, sagte Lena höflich, aber bestimmt.

Der Holzfäller willigte ein, schüttelte sein weißes Haupt und setzte sich noch einmal auf den Stuhl. Behutsam und mit viel Geschick wusch Lena die Wunden und verband sie. Der alte Waldmann fühlte sich von dem Mädchen liebevoll angenommen.

„So, das hätten wir erledigt, das wird dir sicher Erleichterung bringen. Jetzt können wir endlich den sonnenhellen Nachmittag gemeinsam genießen“, sagte Lena beruhigt und ging nach draußen. Ein Schmetterling ließ sich auf ihrer Schulter nieder.

Der Holzfäller erhob sich, ging zum Bett und holte ein großes, breites, völlig zerknautschtes Heft unter der Matratze hervor. Dieses ähnelte ob der vielen Falten fast schon einer Ziehharmonika. Ungeduldig wartete Lena draußen auf dem Holzbänklein. Die Luft war von würzigem Tannenduft erfüllt. Mit schlurfendem Schritt, das Heft in der einen Hand, in der anderen die Likörflasche, kam der Holzfäller nach draußen und setzte sich zu Lena. Beide wandten ihr Gesicht den einfallenden Sonnenstrahlen zu und genossen die friedliche Stille.

Nach einer geraumen Zeit des Schweigens fragte der Holzfäller seine kleine Freundin, was sie heute für eine Geschichte hören wolle. Diesmal entschied sie sich für eine, die von einer Familie in Ganshausen handelte. Diese besaß ein Hofgut außerhalb der Stadt, wo sie zusammen mit arbeitssuchenden Wandermägden und -knechten zur Sicherung des Lebensunterhalts der alten Tradition des Gänsefederrupfens nachging.

Gespannt, mit Beinen und Armen schlenkernd, lauschte Lena der warmen Stimme des Holzfällers. „Gerne würde ich einmal so ein Hofgut besuchen und den Leuten bei ihrer Arbeit zusehen“, sagte sie und blickte ihren Waldfreund voller Freude an.

„Frag doch deinen Großvater. Der kann dir bestimmt weiterhelfen“, meinte der Holzfäller und strich Lena mit seiner faltigen Hand über die Haare.

Die Zeit verging wie im Fluge und plötzlich war der Abschied nah. Wehmütig sagte Lena dem alten Waldmann Lebewohl.

„Halt, halt, Zopfmariechen, ich hab noch was für dich“, sprach der Holzfäller und ging zurück in sein Hüttlein. Nach einem kurzen Moment kam er mit zwei Kesseln voller frischer Waldbeeren in der Hand zurück und gab sie Lena auf den Heimweg mit.

„Da wird sich Großvater bestimmt riesig freuen“, rief Lena aus.

„Lass ihn herzlich von mir grüßen“, trug ihr der Holzfäller auf und wischte sich die herabkullernden Tränen fort. „Was hat das Mädchen nur für ein goldiges Herz!“, brummelte er in seinen Bart hinein und schaute ihr nach, bis sie seinem Blick entschwand.

Lena genoss die köstliche Stille des Waldes. Zügigen Schrittes stapfte sie über die Wege, um noch vor Einbruch der Dunkelheit bei ihrem Großvater zu sein. Dunkel erhoben sich die Tannen in den Abendhimmel. Als sie im Halbdunkel den Vorplatz ihres Zuhauses erreichte, waren schon alle Fensterläden sowie die Schuhwerkstatt geschlossen. Kater Moro schlich noch umher. Als er Lena erblickte, kam er auf sie zu, genoss ihre Zuwendung, zeigte seine Freude laut schnurrend und lief mit ihr ins Haus. Lena schloss ihre Zimmertür auf, plumpste samt Kleidern aufs Bett, rief sich den Tag nochmals in Erinnerung und schlief friedlich ein.

Morgenröte strich über den Himmel, als Lena die Fensterläden öffnete. Die ersten Vögel zwitscherten ihre Melodien in den erwachenden Tag hinein. In aller Frühe stand sie auf, um noch vor Schulbeginn beim Großvater vorbeizuschauen und ihm das Erlebte des vergangenen Tages zu schildern.

„Guten Morgen, Großvater! Hast du auch so gut geschlafen wie ich?“, fragte sie gut gelaunt.

Dieser blickte über seinen Brillenrand und nickte. Lena erzählte ihm die beeindruckende Geschichte, die ihr der Holzfäller vorgelesen hatte.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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