Seewölfe - Piraten der Weltmeere 81

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 81
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Impressum

© 1976/2014 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-398-5

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Inmitten des schäumenden Hexenkessels, im Gischt der entfesselten See, trieben wie Strandgut die Köpfe der Seewölfe, dunkle verlorene Punkte im Weiß der Schaumkämme.

Weit aufgerissene Münder schnappten nach Luft. Salzwasser brannte in Augen, aus denen nackte Verzweiflung sprach. Kettengewichte zerrten an Armen, die unermüdlich gegen Wellen kämpften.

Während Hasard und Ferris Tukker noch Grund unter den Füßen spürten, mußte der Kutscher bereits schwimmen. Wie ein junger Hund paddelte er durch das Chaos. Sein Gesicht drückte die Angst aus, die ihn beherrschte. Er war der schlechteste Schwimmer der Crew und schwamm wirklich um sein Leben.

Old O‘Flynn ruderte wie wild mit seinem Holzbein und klammerte sich krampfhaft an Carberry.

„Das Ding muß dir doch mächtig Auftrieb geben!“ brüllte der Profos voll gallebitterem Galgenhumor und meinte damit die Prothese des alten Rauhbeins. Er stemmte sein Rammkinn wie einen Schiffsbug gegen die See. „Wozu brauchst du mich eigentlich? Du trägst doch das Rettungsfloß immer bei dir!“

Aber natürlich achtete der Profos fürsorglich darauf, daß sein Schutzbefohlener hinter ihm blieb und sich am Halseisen seines Helfers festklammerte wie an einem Rettungsring, auch wenn Carberry dabei fast erwürgt wurde und ihm die Luft ausblieb.

„Wir schaffen es beide – oder überhaupt nicht“, gelobte der rauhe Profos mit aller Kraft seiner Lungen.

Dabei hörte Old Donegal kein Wort. Der Sturm riß Carberry jede Silbe von den Lippen und trug sie ungehört davon. Aber der alte Donegal begriff auch so. Er wußte, daß er sich auf den Profos verlassen konnte – bis zum letzten Atemzug.

Die Verbindung zwischen den einzelnen Schwimmern riß immer mehr ab. Aufs Geratewohl kämpfte sich jeder in die einmal eingeschlagene Richtung weiter und hoffte, irgendwann wieder festen Boden unter die Füße zu kriegen. Sehen konnte niemand das Festland. Nicht einmal Dan. Und der schaute sich wirklich die Falkenaugen aus nach einem winzigen Hoffnungsschimmer an der Kimm, einem noch so undeutlichen Zeichen, daß das Festland nahe war und damit die vorläufige Rettung.

Er hoffte, etwas in dieser Art zu entdecken, ehe ihn eine tückische Strömung umriß, ein Strudel verschlang oder ein Haifisch über ihn herfiel. Eine Steigerung ihrer Qualen hielten sie alle nicht mehr für möglich!

Und doch trat sie ein!

Denn die Dons boten alles auf, was sie hatten, um die Flucht der Männer zu stoppen. Musketen krachten in rascher Reihenfolge, aber sie wurden blindlings abgefeuert, denn niemand konnte in diesem Inferno ein Ziel erkennen.

Gehacktes Blei zwitscherte Hasard und seinen Männern um die Ohren und trieb sie zu noch verzweifelteren Anstrengungen an.

Sie konnten es vielleicht schaffen, wenn nicht eine Ladung durch Zufall genau in ihren Reihen einschlug.

Inzwischen waren sie alle zum Schwimmen gezwungen und kämpften gegen die Wellen, die sie immer wieder zurückzuwerfen drohten, den Spaniern vor die Mündungen. Es war, als habe sich die Natur selbst mit den Gegnern verbündet!

Mancher geriet in Versuchung, einfach aufzugeben, sich gehenzulassen. Ein Abgleiten ins Nichts, und die Qual hatte ein Ende. Wind und Wellen würden den Körper an Land zurücktragen.

Aber da war ihre Wut auf die Folterknechte, die immer neue Kraft spendete. Sie gönnten diesen aufgeblasenen Dons nicht den Triumph, am Ufer kaltblütig die Köpfe der erledigten Feinde zu zählen und eine Strecke auszulegen wie auf einer Hasenjagd.

Weiter kämpften sich die Seewölfe vorwärts, entschlossen, niemals aufzustecken. Vielleicht machten sie irgendwann schlapp. Aber kapitulieren würden sie nie, sondern Hasard folgen, wenn es sein mußte – in den Tod.

Und der rückte schneller auf sie zu, als sie ahnten. Irgendwie hatten die Spanier inzwischen eine Drehbasse am Ufer in Stellung gebracht. Die erste Ladung fetzte zwischen die fliehenden Seewölfe. Zufallstreffer, aber trotzdem verheerend.

Ein Schrei gellte durch die Nacht. Da war niemand, der nicht die Stimme erkannt hätte: Smoky war getroffen!

Als die Trompeten Alarm bliesen, taumelten die wachfreien Posten schlaftrunken hoch, ergriffen ihre Waffen, stürzten auf den Exerzierplatz und formierten sich mürrisch und verdrossen. Sie waren nicht nur um ihre Nachtruhe gebracht worden, es goß auch noch in Strömen. Und der Sturm, der über der Insel wütete, nahm ihnen den Atem. Was, zum Teufel, war eigentlich los?

Die Wut der Spanier kannte keine Grenzen, als sie von Andrés Catalina, dem Inselkommandanten, erfuhren, daß die Seewölfe ausgebrochen seien.

„Sie haben uns alle überrumpelt!“ donnerte der Inselkommandant. „Ich habe euch immer gewarnt. Diesen Burschen ist nicht zu trauen. Schlafmützen haben gegen die keine Chance. Jetzt ist die Bescherung da.“

„Mit Ihrer Erlaubnis, Capitan“, meldete sich El Verdugo zu Wort, der schlimmste Folterknecht, der je auf der Teufelsinsel sein Unwesen getrieben hatte. „Die Kerle können nicht weit gelangen. Sie tragen noch unsere schmukken Ketten. Wohin sollten sie sich auch wenden? Die Insel ist nicht groß. Ein Boot haben sie nicht. Im Laufe des Tages werden sie alle wieder eingefangen.“

„Ich traue den Seewölfen alles zu. Die bringen es fertig und versuchen das Unmögliche. Sie stürzen sich tollkühn ins Wasser und versuchen, das Festland zu erreichen. Egal, ob sie dabei draufgehen oder nicht. Aber wir werden ihnen die Suppe versalzen. Ich will jeden einzelnen Mann wiederhaben, tot oder lebendig!“

Der Capitan, ein schneidiger Mann aus Kastilien mit einem schwarzen Knebelbart, haßte den Gedanken, während eines solchen Unwetters durch den Schmutz der Teufelsinsel zu waten, um Kettensträflinge einzufangen. Aber es mußte sein. Sonst verlor er sein Gesicht und den letzten Fürsprecher am spanischen Hof. Er wollte schließlich auch irgendwann ein besseres Kommando antreten. Erging es einem hier etwa besser als den Opfern? Das Klima war für alle gleich. Diese mörderische Hitze, wütende Tropengewitter, der miserable Fraß, das schlechte Wasser. Wer wollte das ewig aushalten?

In Windeseile teilte Catalina die Jagdkommandos ein. An der Spitze sollte der Hundeführer marschieren. Die Bestien zerrten bereits jaulend und kläffend an ihren Leinen. Die Spur, die diese auf Mann gedrillten Bluthunde nicht fanden, gab es überhaupt nicht.

„Ich werde ein Boot ausrüsten und den Strand absuchen“, schlug El Verdugo vor.

Er haßte den Gedanken, unter dem Kommando des Inselkommandanten durch die Nacht zu stolpern und womöglich noch in einen Hinterhalt der Engländer zu geraten. Die Seewölfe würden ihn mit Vergnügen in Stücke reißen, wenn sie ihn erwischten. Er hatte sie bis aufs Blut gepeinigt. Und außerdem waren ihm die eigenen Landsleute nicht grün. Wie leicht löste sich ein Bleihagel aus der Muskete – in dunkler Nacht, bei diesem Gelände. Wer wollte nachher Absicht beweisen?

In einem Ruderboot aber blieb die Lage immer überschaubar, auch wenn das Meer noch so bewegt war.

Der Capitan nickte großzügig.

„Schafft eine Drehbasse an den Strand, damit wir die Kerle unter Beschuß nehmen können, wenn sie nicht freiwillig umkehren“, befahl der Offizier, und schon stürmte er mit dem ersten Trupp los, den Seewölfen nach, die es gewagt hatten, ihm, Andrés Catalina, ein Schnippchen zu schlagen.

El Verdugo bewies am Ende die bessere Spürnase.

„Legt euch in die Riemen, Leute“, befahl er finster.

Er hockte auf der Achterducht und hielt das Steuer, um wenigstens halbwegs den Kurs bestimmen zu können.

Die acht unglücklichen Musketiere, die ihm zugeteilt worden waren, pullten wie wild. Aber ständig nahmen sie Wasser über. Sie mußten verteufelt aufpassen, daß sie ihr Pulver trocken hielten.

Die beiden Suchtrupps trafen etwa zur selben Zeit am Schauplatz des Geschehens ein. Und El Verdugo entdeckte den ersten Flüchtling.

„Da ist einer!“ schrie er heiser und deutete auf einen dunklen Punkt in der brodelnden See. „Vorwärts, Leute! Pullt, daß die Fetzen fliegen! Sonst lasse ich euch die Kehlen mit flüssigem Blei ausgießen, sobald wir zurück sind. Und ich pflege zu halten, was ich verspreche. Ihr kennt mich!“

Die Leute duckten sich. Sie alle haßten El Verdugo. Sie fürchteten ihn aber auch. Auflehnung gab es nicht. Wohin hätten sie fliehen sollen? Sie waren ebenso gefangen auf der Teufelsinsel wie die englischen Freibeuter, deren Schiff gestrandet war. Und sie hatten kein kühnes Vorbild wie diesen Seewolf, der seine Leute direkt durch die Hölle führte, um die Freiheit wiederzuerlangen, und lieber sterben würde, als sich unter die Knute der Spanier zu beugen. So haßten sie Hasard und bewunderten ihn zugleich.

 

Das würde sie nicht hindern, ihre Musketen einzusetzen. Schließlich ruhte der mißtrauische Blick des Henkers auf ihnen. Und wehe, wenn El Verdugo wirklich jemanden aufs Korn nahm.

Nur die Blitze beleuchteten unregelmäßig und für Sekunden die bewegte Szene. Es blieb kaum Zeit, um richtig zu visieren. So pufften die Schüsse meist ungezielt in die Dunkelheit. Es dauerte eine Weile, bis sie in der tanzenden Nußschale nachgeladen hatten.

So trat nach der ersten geschlossenen Salve, deren Wirkung niemand abzuschätzen vermochte, eine Pause ein. Schlimmer noch: die Schützen, die luden, konnten nicht mitpullen. Der Rest der Soldaten legte sich gewaltig in die Riemen. Aber das Boot trieb ab.

El Verdugo schäumte vor Wut.

Er beruhigte sich erst, als er beim nächsten gleißenden Blitz erkannte, daß er mitten zwischen der Schar der Seewölfe trieb, die mit dem Mut der Verzweiflung um das nackte Leben kämpften.

Dann legte am Strand die Drehbasse los.

Schlagartig ließen die Leute an den Riemen alles fahren. Auch El Verdugo hechtete in Sicherheit. Fluchend wartete er das Ende der Salve ab. Der Schrei, der aus dem Wasser herüberklang, erfüllte ihn mit Zufriedenheit und mahnte ihn zugleich, daß er selbst noch keinen durchschlagenden Erfolg zu melden hatte.

Kaum war die größte Gefahr vorbei, da jagte El Verdugo die Soldaten wieder an die Riemen, und weiter ging die blinde Jagd.

Der Henker hielt es für geraten, aus der Notausrüstung eine Fackel zu nehmen. Er befestigte sie neben sich auf der Achterbank und hoffte, Lopez werde nicht gerade auf die eigenen Leute feuern.

Tatsächlich verstummte die Drehbasse.

Befriedigt stellte der Henker fest, daß selbst der Capitan es nicht wagte, ihn zu gefährden.

Immer weiter entfernten sich Jäger und Gejagte von der Insel, die bald nicht mehr inmitten der Regenschauer zu erkennen war, selbst dann nicht, wenn ein Blitz über das Himmelszelt züngelte.

El Verdugo hockte achtern und schaute sich unruhig nach allen Seiten um. Wenn er zu nahe an die Kerle geriet, ohne sie rechtzeitig zu sehen, zog er am Ende den kürzeren.

Für ihn selbst war das Wagnis, bei diesem Wetter mit einem Boot draußen zu sein, ebenso riskant wie der Versuch, das Festland schwimmend zu erreichen, wie die Seewölfe es offenbar vorhatten.

Hirnverbrannte Idioten!

El Verdugo schwor ihnen blutige Rache. Aber erst mußte er sie in diesem Hexenkessel finden.

Das Boot nahm immer mehr Wasser über. Automatisch begann El Verdugo zu schöpfen.

Noch immer bestimmte er den Kurs. Er wollte die geflohenen Gefangenen überholen, ihnen den Weg versperren und sie zur Insel zurücktreiben. Töten wollte er nur ein paar der Bastarde, als Abschreckung für die anderen und damit selbst der Seewolf begriff, daß es kein Entkommen gab. Dann würde er sie am Strand einsammeln, Mann für Mann, und unter seine Fittiche nehmen.

Das grausame Gesicht des Henkers verzog sich zu einem gemeinen Grinsen. Für einen Augenblick ging die Phantasie mit ihm durch. Alle sollten seine Rache spüren. Die Hölle würde ein angenehmer Ort sein gegen die Teufelsinsel, sobald sie die Seewölfe wieder beherbergte.

„Da sind sie!“ schrie El Verdugo gegen den Sturm und deutete nach Steuerbord voraus, wo die dunklen Punkte im Wasser sich mehrten.

2.

Hasard warf sich entschlossen herum. Er schwamm in die Richtung, aus der er den Schrei gehört hatte. Nur ein Gedanke beherrschte ihn: er mußte Smoky, dem Decksältesten, helfen.

Sie waren eine verschworene Gemeinschaft.

Keiner der Crew, der bemerkt hatte, daß es Smoky erwischt hatte, setzte einfach seinen Weg fort, auch wenn die Kräfte noch so sehr erlahmten oder man mit dem Gefährten anschließend elend ertrank.

Big Old Shane, der Schmied von Arwenack, Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, und Dan O‘Flynn schwammen zurück und taten instinktiv das gleiche wie Hasard, ihr Kapitän.

Selbst Edwin Carberry, der bullige Hüne, bereits mit Old Donegal im Schlepptau, wollte dem Kameraden helfen.

Der alte O‘Flynn hatte in diesem Moment erschöpft losgelassen.

Er fing ihn wieder ein, brachte seine Hand zurück an den eisernen Halsring, den die Spanier den Gefangenen verpaßt hatten, und gurgelte: „Halt dich fest! Ich lege noch etwas zu. Smoky hat‘s erwischt.“

Mühsam spuckte Old Donegal eingedrungenes Wasser aus, verzog schmerzlich das Gesicht und blieb brav beim Profos. Er versuchte mit lahmen Schwimmbewegungen, Carberry zu entlasten, der wie eine stolze Brigg durch das Wasser rauschte, anscheinend nicht kleinzukriegen, unverwüstlich, ein Kerl aus Eisen.

Smoky hatte einen Streifschuß eingefangen. Wie gelähmt hing sein Arm herunter. Und es blieb weder Zeit, ihn zu versorgen, noch sich von der Schwere der Verletzung zu überzeugen.

Gerade hatte Big Old Shane den Decksältesten in Schlepp genommen, da zerriß ein Blitz die Dunkelheit, erhellte weithin die Gegend und zeigte den Flüchtenden, wie ernst die Lage wirklich war: El Verdugo und acht Spanier hockten in einem Boot, das zwar wild auf den Wellenkämmen ritt, aber Kurs auf sie hielt.

Schon griffen die Spanier nach den Waffen. Musketen richteten sich auf die Gruppe.

Hasard schrie seinen Männern zu, wegzutauchen. Er selbst versuchte, dem Boot entgegenzuschwimmen, unsichtbar, unter Wasser. Sehen konnte er nichts, aber seine suchenden Hände ertasteten nach endlosen Sekunden den Kiel des Bootes.

Hasard hatte automatisch nach der Devise gehandelt, die sein Leben beherrschte: Angriff ist die beste Verteidigung. Er wollte sich irgendwie wehren und sich nicht im Wasser abknallen lassen.

Es zeigte sich, wie gut die Crew sich verstand. Nicht Hasard allein griff den Feind an. Ohne ein Wort der Verständigung hatten doch alle begriffen, die bei ihm gewesen waren.

Zuerst handelte Ferris Tucker.

Nur ein Mann wie er brachte es fertig, die Zimmermannsaxt mit dieser Wucht zu führen. Von unten, mit einem verzweifelten Streich, hinter dem jedes Quentchen Kraft steckte, schlug er zu.

Die messerscharfe Schneide klopfte nicht nur an, sondern durchbrach den Boden des Bootes. Sie erwischte knapp noch den Fuß des Henkers.

Den Schrei, den El Verdugo ausstieß, hörten nur jene, die nicht weggetaucht waren.

Hasard richtete sich auf, stemmte den Rücken unter den Kiel des Bootes und wunderte sich, wie leicht er das Gewicht hochdrückte.

Aber mit ihm arbeiten die anderen. Und zwei von ihnen hatten das Glück, Boden unter den Füßen zu haben, eine Sandbank, wie sie zwischen Insel und Festland nicht eben selten waren und die Schiffahrt zu einem lebensgefährlichen Abenteuer werden ließen. So manches spanische Versorgungsschiff, das von Cayenne aus Kurs auf die Teufelsinsel genommen hatte, war auf diesen tückischen Bänken schon aufgelaufen.

Das Boot der Spanier wurde angekippt und schlug nach der Backbordseite um. Die Spanier flogen kopfüber ins Wasser. Sie landeten mitten zwischen den Engländern. Das konnte natürlich nicht gutgehen.

Prompt landete denn auch ein schmächtiger Spanier in Reichweite des wütenden Profos, der sich nur knapp umschaute, ob Old Donegal noch an ihm hing.

Old Donegal schluckte, prustete und schnappte zwischendurch nach Luft. Auch wenn man in dieser ägyptischen Finsternis keine Einzelheiten sehen konnte: sicher war er blau wie ein Tintenfisch, angelaufen von Luftmangel. Was hatte er den gesunden Lungen des mächtigen Profos‘ schon entgegenzusetzen? Immerhin verrieten die würgenden hustenden Laute, daß er noch lebte. Und schon versuchte er zwischendurch, seinen muskulösen Freund anzufeuern. Denn er hatte wohl erkannt, daß der Spanier, der da mühsam den Kopf über das Wasser reckte, vor Angst tollkühn angriff.

„Komm her, du Rübenschwein!“ grollte der grimmige Profos.

Carberry streckte die Pranken aus und erwischte den Spanier an der Gurgel. Liebevoll zog er ihn mit einem Ruck heran. Die Fäuste des Spaniers prallten wirkungslos vom Rammkinn des Profos‘ ab. Carberry grinste gelangweilt, ließ den zappelnden Kerl frei und verpaßte ihm einen Hammerschlag mitten auf den Kopf.

Der Spanier verschwand unter Wasser.

Carberry schloß sich den anderen an, die wieder Kurs nahmen. Sie bewegten sich alle in die Richtung, in der sie das Festland vermuteten. Aber Gewißheit gab es bei diesem Hundewetter für keinen. Der Gedanke, daß man mit aller Kraft immer weiter ins offene Meer hinausschwamm, hatte etwas Lähmendes.

Trotzdem gab niemand auf. Sie schleppten sich weiter. Lieber ein Ende mit Schrecken, als unter der Knute des Henkers, den alle in Gedanken verfluchten, qualvoll einen höllischen Tod zu erleiden. Im übrigen gab es kein Zurück mehr. Denn niemand konnte gegen den Strom anschwimmen, der an der Teufelsinsel vorbeitrieb.

Das Festland schien noch fern. Stets wenn sie die müden Köpfe über die Schaumkämme reckten, um nach dem Land Ausschau zu halten, wurden sie enttäuscht. Endlos und wild bewegt dehnte sich die Wasserfläche vor ihren suchenden Blicken.

Hätte es nicht hin und wieder die Sandbänke gegeben, sie alle wären ertrunken. So aber konnten sie von Zeit zu Zeit etwas Kraft sammeln und sich in der Hoffnung wiegen, vielleicht doch nicht allzuweit vom Land entfernt zu sein.

Kraft zur Verständigung hatten sie längst nicht mehr.

Immer wieder war es Hasard, der das Zeichen zum Aufbruch gab und losschwamm, ohne allerdings die beruhigende Gewißheit zu haben, wann sie in angemessener Entfernung wieder eine Ruhepause einlegen konnten.

Was bedeutete es da, daß sie die spanischen Verfolger zunächst abgeschüttelt hatten? Am Ende schien doch der Tod auf sie zu lauern.

Hasard selbst mußte seinen ganzen Mut zusammennehmen. Er wußte selbst keine Antwort auf die Frage, ob er diese Flucht ins Ungewisse angetreten hätte, wenn ihm auch nur ein Bruchteil der Schwierigkeiten und Strapazen bekannt gewesen wären, mit denen sie jetzt konfrontiert wurden.

Das Seewasser fügte den Qualen eine weitere zu. Wer offene Wunden hatte – und das war bei den meisten der Fall –, litt furchtbar. Das biß und fraß, daß man kaum die Arme beim Schwimmen zu bewegen vermochte.

Smoky, der immer noch an der Schulter blutete, schnappte sich ein Stück Treibholz und schlug seine Zähne hinein, um seinen Retter nicht durch sein Stöhnen zu verunsichern.

Dabei plagte ihn die gräßliche Vorstellung, seine blutende Wunde könne den mordgierigen Haien eine Fährte legen. Das würde das Aus für sie alle bedeuten. Mit den Spaniern konnten sie fertig werden, aber gegen Haie hatten sie keine Chance. Da konnten sie nur noch beten.

Die Nacht schien kein Ende zu nehmen. Kein Silberstreif über der Kimm flößte den Verzweifelten neue Hoffnung ein. Sie wußten nicht mehr, wie lange sie unterwegs waren. Ihr Zeitgefühl war längst erstorben. Das Leben bestand nur noch aus den zermürbenden Bewegungen der Arme und Beine, die den Körper anscheinend um keinen Inch vorwärtsbrachten.

Was wollte es da schon heißen, daß der Sturm abgeflaut war und kein Regen mehr fiel? Dieses Grau um sie herum und über ihnen, diese endlose Monotonie brach auch die Widerstandskraft des Stärksten.

Wozu sich noch anstrengen, wenn doch alles umsonst war? Sie hatten den Kurs verloren, kein Zweifel. Seit über einer Stunde hatten sie keine Sandbank mehr erreicht und damit keine Gelegenheit gehabt, sich ein wenig zu verschnaufen. Ihre Arme und Beine waren schwer wie Blei. Entzündete Augen hatten es aufgegeben, nach Land zu suchen.

Die Möglichkeit, daß sie sich immer weiter im Meer verloren, nahm erschreckend zu. Mancher der Seewölfe, glücklicher Besitzer eines Messers, spielte bereits mit dem Gedanken, sich die Klinge über beide Handgelenke zu ziehen und anschließend in den Bauch zu rammen. Das mußte eine Erlösung sein gegenüber der Qual des Schwimmens.

Dann wagte sich zum ersten Male der Mond hinter Wolkenbänken hervor. Sein mildes Licht fiel auf die sanft gekräuselte Wasserfläche. Sie erkannten Nachbarn und Leidensgefährten. Sie hatten sie die ganze Zeit neben sich gewußt, aber nicht deutlich erkannt. Jetzt unterschieden sie Gesichter und sahen, daß der andere ebenso schlecht dran war und mit dem letzten Funken Kraft gegen den Untergang kämpfte. Das spornte an. Wieso schaffte der es noch? Da konnte man nicht aufgeben. Nicht eher, als bis der andere auch aufgab.

Die Seewölfe kämpften sich stumm und verbissen weiter vorwärts. Wohin? Wo in diesem elenden Meer war vorn, wo hinten? Wo offenes Meer, wo die Küstenlinie, die sie herbeisehnten?

 

Niemand wußte es.

Jeder sah Hasard da vorn und folgte ihm. So war es immer gewesen. Sie waren nicht schlecht dabei gefahren. Sie hielten sich auch jetzt an ihn.

Ohne es zu ahnen, trug Hasard die Hoffnungen seiner Männer. Er wußte nur, daß er kein Recht hatte, aufzugeben. Nicht, solange er noch Atem schöpfen konnte. Und wenn die Arme ihm abfielen – er mußte weiterschwimmen. Denn er hatte diese Flucht befohlen.

Er trug keine geringe Verantwortung. Er konnte sich alles leisten, nur durfte er seine Männer nicht enttäuschen. Das war ihm klar. Das gab ihm Kraft, auch dann, als er glaubte, er habe keine mehr.

Mit der Gleichmäßigkeit seiner Bewegungen flossen auch Hasards Gedanken. Immer wieder stellte er sich vor, was er auf der Teufelsinsel gelitten hatte. Das hinderte ihn daran, aufzugeben.

So seltsam es klang: El Verdugo, der Henker, den hoffentlich die Haie geholt hatten, größter Feind und Peiniger der Seewölfe, wurde in diesen einsamen Stunden Hasards stummer Verbündeter. Der Gedanke an ihn und seine grausamen Schikanen erfüllten ihn mit einer solchen Wut, daß er davon mehr vorwärtsgetrieben wurde, als würde er ein Dutzend Hiebe mit der neunschwänzigen Katze empfangen. Schmerzen, wenn sie überhand nahmen, stumpften ab und hinderten niemanden daran, zusammenzubrechen. Ganz anders der Haß. Er weckte die Lebensgeister und fachte erlahmende Kräfte wieder an.

Hasard stellte sich immer häufiger die ekelhafte Schinderfratze des spanischen Henkers vor. Er schwamm auf sie zu, um seine Faust in diese Totenfratze zu rammen und ihm die häßlichen Zähne einzeln einzuschlagen.

Mit Entsetzen erkannte Hasard, schon so weit fertig zu sein, daß sich sein Geist verwirrte und seine Phantasie übermächtig wurde. Vielleicht lebte er schon gar nicht mehr? Vielleicht bildete er sich auch das nur ein? Schwamm er gar nicht mehr im Wasser? War er niemals von der Teufelsinsel aufgebrochen ins Ungewisse, das immer gewisser wurde? So gewiß wie der Tod?

Hasards Lippen waren aufgeplatzt. Eine dicke Salzkruste bedeckte sie. Seine Augen, geschwollen und entzündet, sahen nichts als Wasser. Welch ein Hohn, er schwamm in einem Meer und hatte Durst. Er sehnte sich nach einem Schluck frischen Wassers und hätte seine Seele dafür verpfändet.

Hinter ihm ertönte ein heiseres Krächzen.

Hasard hörte den Laut, der kaum etwas Menschliches hatte, aber er brachte es nicht mehr fertig, den Kopf zu wenden. Seine Halsmuskeln waren viel zu verkrampft. Sein Schädel drohte von der Anstrengung zu zerplatzen.

Nur keine überflüssige Bewegung!

Hasard schwamm weiter, mit zähen, langsamen Bewegungen. Es gab keine Rettung mehr aus der Monotonie des jetzt langgedehnten Auf und Ab. Die See war nicht mehr kabbelig. Die lange Dünung lullte einen ein. Man wurde zu einem unbedeutenden Fleck auf der Weite des Ozeans.

Etwas stieß Hasard an.

Er erschrak bis ins Mark, war aber unfähig, entsprechend zu reagieren. Das Gehirn signalisierte Gefahr. Haie vielleicht? Die Augen weiteten sich reflexhaft, aber der zermürbte Körper gehorchte nicht.

Unendlich langsam drehte Hasard den Kopf und starrte auf einen abgerissenen Ast, der ihn berührt hatte. Es dauerte eine Ewigkeit, bis es bei Hasard dämmerte. Ein Ast bedeutete Landnähe. Ein Vorbote der Rettung!

Hasard erwachte aus todesähnlicher Lethargie. Fast schmerzhaft empfand er Freude. Es war ein Gefühl, das ihm den Brustkorb sprengte, das er schleunigst abschütteln mußte, wollte er nicht daran erstikken.

Hasard ruderte mit den Armen, versank, ging unter, kämpfte sich wieder hoch, strampelte vor Freude und trat das Wasser, daß sein Körper sich erhob.

„Land!“ schrie er und wunderte sich, daß die Stimme nicht mehr gehorchte. Er meinte, sein Schrei könne Tote erwecken, und doch erreichte er kaum die Ohren derer, die ihm unmittelbar gefolgt waren: Carberry und Big Old Shane, beide mit Schicksalsgenossen im Schlepp, der eine Old Donegal, der andere Smoky.

Verwirrt stierte Hasard auf die weit auseinandergezogene Kette seiner schwimmenden Männer. Verstand ihn denn niemand? Die Leiden hatten ein Ende! Land in Sicht! Geschafft!

Da sah Hasard, wie in der Ferne Dan O‘Flynn, der Scharfsichtige, verzweifelt nach vorn deutete, als habe er eine Botschaft von höchster Dringlichkeit. Er sah, wie sich der Mund Dans dauernd öffnete und schloß. Aber kein Laut drang an sein Ohr. Darin war nur das ewige Geräusch des Meeres und der Wellen wie in einer leeren Muschel.

Aber Hasard tat Dan den Gefallen. Er veränderte noch einmal die Position. Und da sah er es auch: ein feiner dunkler Strich an der Kimm. Fast nicht zu erkennen im Dunst des nahenden Morgens.

Sie hatten die Küste vor sich.

Alle Ängste verflogen. Sie hatten sich nicht immer weiter in das offene Meer vorgearbeitet. Sie wurden nicht grausam genarrt durch ein unerträgliches Geschick. Sie hatten ein Glückslos gezogen.

Nicht die Spanier, nicht die Haie, nicht der Sturm und nicht das Meer hatten sie bezwungen. Sie waren Sieger geblieben.

Hasard mußte sich dazu zwingen, jetzt nicht durchzudrehen. Er mußte auch weiterhin seine Kräfte einteilen. Er schätzte die verbleibende Strecke, die sie noch zurücklegen mußten, auf eine gute Seemeile. Das war nicht viel gegenüber der Distanz, die sie hinter sich gebracht hatten. Aber es war nach dieser höllischen Nacht kaum zu bewältigen.

Hasard bezähmte den Trieb, das letzte aus sich herauszuholen. Aber seine innere Unruhe kriegte er nicht mehr in den Griff. Jeder Schwimmzug war ihm zuviel. Die Zeit verstrich jetzt viel zu langsam. Die Entfernung wollte nicht schwinden.

Mehr als zwei grausame Stunden kämpften die erschöpften Männer, zumal sich unter Land die Strömungen änderten und sie wieder zurücktrieben. Es war eine letzte furchtbare Prüfung – dann taumelte Hasard an Land. Die Ketten schienen doppelt soviel zu wiegen wie im Wasser. Arme und Beine waren wie abgestorben, als gehörten sie nicht mehr zu seinem Körper.

Hasard hielt sich an den Luftwurzeln einer Mangrove fest. Er taumelte und schloß erschöpft die Augen.

Dann bewegte er sich weiter, um den anderen nicht diesen guten, aber winzigen Landeplatz im Gewirr der Ufervegetation zu sperren. Dabei stolperte er und schlug der Länge nach hin.

Einen Augenblick dachte er, nie wieder aufstehen zu können. Unendlich langsam kämpfte er sich hoch. Erst kniete er. Dann richtete er sich auf. Vor seinen Augen flimmerten und zerplatzten Sterne und Kreise. Alles in ihm sträubte sich gegen die geringste Anstrengung. Er wollte nur noch liegen und ausruhen.

Hasard bezwang den Schwächeanfall.

Er klammerte sich an einer der rissigen Baumwurzeln fest und wandte unendlich langsam den Kopf. Ihn quälte der Gedanke an seine Gefährten. Wie viele waren einsam gestorben auf dieser furchtbaren Strecke zwischen Insel und Festland?

Hasard beobachtete das erschütternde Schauspiel der Landung. Mann für Mann kämpfte sich ans Ufer. Ketten klirrten, entzündete Augen starrten blind in das Grün der Büsche, die bis an den Strand vorgedrungen waren.

Was war aus den stolzen Seewölfen geworden? Ein maroder Haufen. Die Fronarbeit für die Spanier, die Schrecken der Flucht von der Teufelsinsel, die Strapazen des langen nächtlichen Kampfes mit Wind und Wellen hatten tiefe Spuren hinterlassen.

Kaum daß einer ein gequältes Grinsen fertigbrachte wie Big Old Shane, der alte Waffenmeister von Arwenack, oder Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, oder der Riese Edwin Carberry, Profos der „Isabella“. Wobei der Profos wenigstens noch einem Gefährten das Leben gerettet hatte. Treu und brav schleppte er Old Donegal. Ferris Tucker trug seine Axt wie eine Fahne an Land.

„So etwas möchte ich nie wieder erleben“, stöhnte er und schlug in den Sand. Er brauchte lange, bis er wieder soviel Kraft hatte, Hasard zu helfen.

Im Licht des dämmernden Morgens riefen sie Versprengte zu sich heran und halfen den Erschöpften ans sichere Ufer.

Hasard beruhigte sich erst, als er alle wieder um sich versammelt hatte. Ja, sie hatten es alle geschafft, keiner war zurückgeblieben oder hatte sich aufgegeben.

Da lagen sie, mit nackten Oberkörpern, in Ketten, erschöpft und zerschunden, auf dem schmalen Sandstreifen, im spärlichen Schutz der Mangrovenwurzeln, die sich wie ein Netz über ihnen spannten.

Kein anderer Laut drang an ihre Ohren als das leise Plätschern der Wellen, die sich am Ufer totliefen.

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