Politisch urteilen ohne Wissen und Verstehen? (E-Book)

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Politisch urteilen ohne Wissen und Verstehen? (E-Book)
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Claudio Caduff

Politisch urteilen ohne Wissen und Verstehen?

Eine Studie zum politischen Wissen und Verstehen von

Sekundarstufe-II-Abgängerinnen und -Abgängern im Kanton Luzern

ISBN Print: 978-3-0355-1667-8

ISBN E-Book: 978-3-0355-1668-5

1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.ch

Inhalt

1Einleitung

2Theoretischer Hintergrund

2.1Politikdidaktische Modelle

2.2Konzepte der Politik versus Konzepte der politischen Bildung

2.3Weitere politikdidaktische Ansätze

3Zur politischen Bildung in der Schweiz

3.1Bildung auf der Sekundarstufe II

3.2Politische Bildung in den Lehrplänen – zwei Beispiele

4Das Verständnis von politischer Bildung für diese Studie

5Untersuchung

5.1Fragestellungen und Hypothesen

5.2Erhebungsinstrument

5.3Stichprobe und Datenerhebung

5.4Ergebnisse

6Diskussion

6.1Die Bedeutung von Verstehen

6.2Politische Bildung in Sammelfächern und als Teil eines anderen Fachs

6.3Kleiner Exkurs zur Interdisziplinarität

7Ausblick

8Anhang

8.1Literatur

8.2Abbildungsverzeichnis

8.3Tabellenverzeichnis

1Einleitung

Politische Bildung hat in der Schweiz einen schweren Stand, und dies aus zwei Gründen. Erstens gibt es im Gegensatz zu vielen anderen Ländern auf keiner Schulstufe ein eigenes Fach, und zweitens fehlt eine fachdidaktische Tradition. Anders als bei traditionellen Fächern prägen nicht Fachexpertinnen und -experten, also Politologinnen und Politologen, die Diskussion um die politische Bildung, sondern Pädagoginnen und Pädagogen, deren Diskurs weniger auf den Gegenstand Politik gerichtet ist als vielmehr auf pädagogisch-didaktische Fragen. Und das macht politische Bildung umso anfälliger für erziehungswissenschaftliche Modeerscheinungen. Immerhin herrscht unter den eher wenigen Expertinnen und Experten weitgehend Einigkeit darüber, dass politische Bildung in den Schweizer Schulen ein stärkeres Gewicht haben sollte. Denn jüngere internationale Vergleichsstudien brachten deutliche Defizite der Jugendlichen in der Schweiz zutage.

Ausgehend von dieser Situation will die vorliegende Studie untersuchen, über welches Wissen und Verstehen von zentralen politischen Konzepten wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus, Grundrechten, Macht- und Herrschaftskontrolle Abgängerinnen und Abgänger der Sekundarstufe II verfügen. Die Studie erhebt weder den Anspruch auf Repräsentativität für die Schweiz – es wurden lediglich Lernende aus dem Kanton Luzern getestet –, noch umfasst die Studie das ganze Feld der politischen Bildung, wobei gerade auch darüber, was denn noch Teil der politischen Bildung sein sollte und was nicht, unter Politikdidaktikerinnen und -didaktikern heftig gestritten wird. Hier wird vielmehr im explorativen Sinne das Wissen und Verstehen erhoben, da, so die Ausgangsthese dieser Arbeit, die politische Bildung in der Schweiz in diesem Bereich ein erhebliches Manko aufweist.

Die Kapitel 2 bis 4 setzen sich mit den bedeutendsten politikdidaktischen Konzepten im deutschsprachigen Raum auseinander, werfen einen vertieften Blick auf die politische Bildung auf der Sekundarstufe II und erläutern das Verständnis von politischer Bildung, das dieser Studie zugrunde liegt. In Kapitel 5 werden die Fragestellung, das Erhebungsinstrument, die Stichprobe und die Datenerhebung sowie die wichtigsten Ergebnisse vorgestellt. Der abschliessende Diskussionsteil (Kapitel 6) kommentiert zunächst die Resultate, erläutert die grosse Bedeutung von Wissen und Verstehen für die politische Bildung und zeigt auf, warum Sammelfächer, fächerübergreifender Unterricht und Interdisziplinarität für die politische Bildung eher hinderlich sind. Ein kurzer Ausblick, der einige Forschungsdesiderate aufzeigt, beendet die Arbeit.

2Theoretischer Hintergrund

Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Darstellung des fachdidaktischen Diskurses zur politischen Bildung im deutschsprachigen Raum in den letzten zehn Jahren. Dieser widerspiegelt das Hauptproblem der Politikdidaktik: die Offenheit des Gegenstands und die Unbestimmtheit aus der Sicht des lernenden Subjekts. Schon Johann Friedrich Herbart hat Anfang des 19. Jahrhunderts festgehalten, dass politische Bildung bestimmt sei durch die anthropologisch determinierte politische Unbestimmtheit (Rucker 2014, S. 27). Die Regeln der politischen Orientierung müssten vom Menschen erlernt werden, denn die Natur gebe ihm keine bestimmten Regeln vor. «Aufgrund seiner Bildsamkeit steht ihm vielmehr ein nicht auslotbarer Horizont an Möglichkeiten bereit, ein politisches Selbst- und Weltverständnis zu entwickeln» (Rucker 2014, S. 27).

Der deutsche Politikwissenschaftler Dolf Sternberger hat vor rund fünfzig Jahren versucht, den Facettenreichtum des Politischen in drei geistesgeschichtliche Positionen zum Politischen zu ordnen (Sternberger 1978; zusammenfassend Meyer 2010, S. 46–56): Im Verständigungsmodell von Aristoteles fällen gleichberechtigte Bürger Entscheide über das Gemeinwesen, das heisst, die Entscheide unter Gleichen müssen sich aus zwanglosen Verständigungsprozessen ergeben. Es ist also die politische Sphäre, die Polis, die aus sonst unterschiedlichen Menschen gleiche Bürger macht (allerdings waren davon die Frauen und die Sklaven ausgeschlossen). Damit entsteht «aus der ursprünglichen Vielheit höchst unterschiedlicher Gleicher dennoch Einheit» (Meyer 2010, S. 48). Und es ist die Vernunft der einzelnen Bürger, die eine Verständigung und Einigung ermöglicht. Das Heilsmodell geht auf Augustinus’ Werk «Vom Gottesstaat» (entstanden 413–426 n. Chr.) zurück. Politik legitimiert sich danach aus ihrem Beitrag zur (christlichen) Erlösung des Menschen. Politik hat sich also nach dem Willen Gottes auszurichten, indem sie den religiösen Geboten folgt. Allerdings kann irdische Politik beziehungsweise Herrschaft nie gerecht sein, da Menschen unvollkommen sind und sie absolute Gerechtigkeit erst im Reich Gottes erlangen werden. Die reale Politik auf Erden und damit der Staat ist einerseits geprägt durch den Egoismus der einzelnen sündigen Menschen und neigt dadurch dem Bösen zu, während anderseits Vertreter des Gottesstaates sich bemühen, Gottes Wille auch auf Erden geschehen zu lassen. Die Güte der Politik ergibt sich also nicht wie im Verständigungsmodell aus der Gleichheit der Bürger und deren Vernunft, sondern aus der Frage, inwiefern sie einen Beitrag zum göttlichen Heil zu leisten vermag. Das Machtmodell basiert grundsätzlich auf Niccolò Machiavellis Vorstellungen von Herrschaft. Danach geht es dem Staat (und jenen, die darin die Macht innehaben) um den Machterhalt, und Politik ist dabei nichts anderes als die wertfreie Technik, die Macht zu erobern und zu sichern.

Diese drei Modelle wirken auch im modernen Politikverständnis nach: Den beiden ersten Modellen liegt ein normatives Politikverständnis zugrunde. Die Idee von der guten Politik für eine gerechte Gemeinschaft, die über die Verständigung unter vernünftigen, gleichberechtigten Bürgern erreicht werden kann, wird zum Beispiel in der republikanisch-kommunitaristischen und noch in stärkerem Masse von der deliberativen Theorie vertreten (vgl. dazu zusammenfassend Schaal & Heidenreich 2006, S. 138–219). Die Heilslehre lebt heute nicht nur im theokratischen Politikverständnis (z. B. im Iran) weiter, in erweitertem Sinne erkennt man sie heute immer dort, wo Politik mit Rekurs auf letzte Wahrheiten betrieben wird und dogmatische Lehren hermetische Wahrheitsansprüche erheben. Dazu sind kommunistische Heilslehren ebenso zu zählen wie die Ideologien reiner Volksgemeinschaften und die reine Marktideologie (verbunden mit dem Menschenbild des homo oeconomicus), wie sie zum Beispiel Libertäre (vgl. dazu Schaal & Heidenreich 2006, S. 125–138) vertreten. Das Machtmodell spielt heute eine wesentliche Rolle in der empirischdeskriptiv orientierten Politikwissenschaft, die untersuchen will, wie Politik ohne Bezugnahme auf Normen als Kampf um Macht funktioniert.

 

Die Politikdidaktik muss sich angesichts der Offenheit des Politikbegriffs die Frage stellen, welches Verständnis von Politik sie als Basis der politischen Bildung bestimmen will. Denn angesichts der (zumindest in der Schweiz) äusserst knappen zeitlichen Ressourcen im Politikunterricht auf der Sekundarstufe II ist eine auf tiefes Verständnis ausgerichtete Auseinandersetzung mit dem Politikbegriff, die im Wesentlichen auch historische und philosophische Aspekte einschliesst, im Unterricht nicht möglich.

Die Offenheit der politischen Bildung ergibt sich aber auch aus der Sicht der Lernenden, nämlich aus der Frage, welchen Zweck sie denn im Hinblick auf die Bildung und Erziehung der jungen Menschen zu erfüllen hat. Einigkeit herrscht zwar mittlerweile darin, dass politische Bildung aus einer demokratischen Perspektive die politische Mündigkeit der Lernenden zum Ziel haben muss (Sander 2014a, S. 28 f.). Doch darüber, was darunter zu verstehen ist, herrscht grosse Uneinigkeit. Welche Bürgerkompetenzen (vgl. zusammenfassend dazu Massing 2011, S. 146–160) soll denn ein mündiger Mensch haben? Soll er als «reflektierter Zuschauer» über political literacy verfügen, ohne dass er sich aktiv am politischen Geschehen beteiligt? Soll er als «Interventionsbürger» nicht nur kundig sein in der Politik, sondern auch die Fähigkeit haben, politisch zu urteilen, und über das Wissen verfügen, wie er Einfluss nehmen und sich beteiligen kann? Oder soll er als «Aktivbürger» das politische Geschehen mitbestimmen?

Die Offenheit der politischen Bildung zeigt sich auch im Unterrichtsfeld und im inhaltsbezogenen Aufgabenfeld. Das Werk «Handbuch politische Bildung» (Sander 2014e) enthält Artikel zur politischen Bildung als «schulischer Fachunterricht» (Pohl 2014) oder «im gesellschaftswissenschaftlichen Lernbereich und in Integrationsfächern» (Sander 2014b), zur politischen Bildung «als Unterrichtsprinzip» (Lechner-Amante 2014) oder «als Schulprinzip» (Henkenborg 2014). Inhaltlich umfasst politische Bildung ein breites Feld, dazu gehören «Institutionskundliches Lernen» (Massing 2014), «Rechtserziehung» (Oberreuter 2014), «Ökonomisches Lernen» (Hedtke 2014), «Historisches Lernen als Dimension politischer Bildung» (Lange 2014), «Moralisches Lernen» (Reinhardt 2014), «Prävention gegen Autoritarismus» (Bundschuh 2014), «Interkulturelles Lernen» (Holzbrecher 2014), «Geschlechterspezifische Aspekte politischen Lernens» (Richter 2014), «Medienerziehung» (Besand 2014), «Umweltbildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung» (Overwien 2014), «Friedenserziehung» (Sander 2014c), «Europabezogenes Lernen» (Rappenglück 2014) und «Globales Lernen» (Asbrand & Scheunpflug 2014).

Die Offenheit des Politikbegriffs, des Zwecks politischer Bildung, des Praxisfeldes sowie der Inhalte widerspiegelt sich in den verschiedenen politikdidaktischen Modellen, auf die im folgenden Abschnitt eingegangen wird.

2.1 Politikdidaktische Modelle

Spätestens seit TIMSS und PISA Anfang des 21. Jahrhunderts fokussiert die politikdidaktische Diskussion auf die Frage, welche Inhalte und Kompetenzen für die politische Bildung zentral sein sollten. Schon im Jahr 2003 legte die Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE), die deutsche wissenschaftliche Fachgesellschaft für politische Bildung, einen Entwurf für nationale Bildungsstandards vor (zusammenfassend vgl. Sander 2014d), auf dessen Basis ein Kompetenzmodell entworfen wurde (GPJE 2004).


Abbildung 1: Kompetenzmodell der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE 2004, S. 13)

Überraschend daran waren zwei Tatsachen: Erstens herrschte in Bezug auf das Modell ein grosser Konsens unter den Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktikern, und zweitens war damals der bildungstheoretische und vor allem der bildungspolitische Paradigmenwechsel von der inputorientierten Lehr-Lern-Theorie zur outputorientierten Kompetenzorientierung praktisch unumstritten. Offenbar wollte man damals den Anschluss an die durch die sogenannte Klieme-Expertise (Klieme 2003) vorgelegte Neukonzeptionierung nationaler Bildungsstandards nicht verpassen.

Das Kompetenzmodell der GPJE (siehe Abbildung 1) erlangte schon innert Kürze grosse Bedeutung und wurde rasch zur Referenz der politikdidaktischen Weiterentwicklungen in Deutschland. So wurden beispielsweise bereits im Entwurf zu den drei Kompetenzbereichen politische Urteilsfähigkeit, politische Handlungsfähigkeit und methodische Fertigkeiten Standards für die verschiedenen Schulstufen definiert. Der breite Konsens unter den Politikdidaktikerinnen und -didaktikern bröckelte in der Folge allerdings schnell. Diese Erosion wird durch das GPJE-Kompetenzmodell selbst verursacht: Das die drei Kompetenzbereiche ergänzende «konzeptuelle Deutungswissen» wurde weder im Entwurf selbst noch später genauer bestimmt. Mittlerweile findet in der Gemeinschaft der deutschen Politikdidaktik eine heftige Kontroverse statt, die über die ursprünglich im Zentrum stehende Frage nach den relevanten Inhalten (Wissen, Konzepte, Kategorien) der politischen Bildung längst hinausgewachsen ist – es geht heute auch um Lerntheorien und um die Kompetenzorientierung in der schulischen Bildung generell.

Bevor der aktuelle Diskurs nachgezeichnet wird, sollen drei Kompetenzmodelle vorgestellt werden, die in der Folge des GPJE-Modells entwickelt wurden.

Das Modell von Gollob et al. (2007) lehnt sich stark an das GPJE-Modell an. In Abbildung 2 wird es knapp erläutert. Auffällig daran ist, dass (zumindest in der Verkürzung des Modells) Wissen und/oder Kenntnisse nicht vorkommen. Implizit findet man wohl Hinweise darauf in den «Sachaspekten» (im Kompetenzbereich A).


Abbildung 2: Kompetenzmodell nach Gollob et al. (2007)

Im Modell von Krammer (2008) findet sich neben der Urteils-, Handlungs- und Methodenkompetenz auch die Sachkompetenz (siehe Abbildung 3). Darunter versteht der Autor «jene Fähigkeiten, Fertigkeiten und jene Bereitschaft, die notwendig sind, um die Begriffe, Kategorien beziehungsweise die Konzepte des Politischen zu verstehen, über sie zu verfügen sowie sie kritisch weiterentwickeln zu können. Unter Begriffen sind hier die politischen Fachausdrücke, die sich von der alltagssprachlichen Verwendung durch exakte Definition unterscheiden, zu verstehen, unter Kategorien jene ‹Kernbegriffe›, denen allgemeine Merkmale eigen sind, sodass sich Gegenstände, Vorstellungen und Ereignisse diesen Merkmalen entsprechend zuordnen lassen. Basiskonzepte (key concepts) sind Leitideen beziehungsweise Grundvorstellungen, mit deren Hilfe Schüler und Schülerinnen politisches Wissen strukturieren und einordnen können. Sie werden in einem ständigen Prozess der Differenzierung und Komplexitätssteigerung weiterentwickelt» (S. 11). Zu den vier Kompetenzbereichen gesellt sich noch das «Arbeitswissen», das anlassbezogen ist und instrumentellen Charakter aufweist; es ist erforderlich, um sich über konkrete politische Fragestellungen zu informieren (Krammer 2008, S. 6).


Abbildung 3: Kompetenzmodell nach Krammer (2008, S. 6)

Moegling (2008) modelliert vier Kompetenzbereiche um die zentrale Metakompetenz «politische Mündigkeit» (siehe Abbildung 4).


Abbildung 4: Kompetenzmodell nach Moegling (2008, S. 14)

Er definiert in seinem Modell die politische Wissenskompetenz als «Fähigkeit, Wissen – sei es Faktenwissen oder konzeptuelles Deutungswissen, also auch Kernbestände von Theorien – aufzunehmen, zu verknüpfen, zu integrieren und zu erinnern» (S. 15). Damit beschreibt er aber eine allgemeine Lernfähigkeit in Bezug auf Wissen, wie sie wohl in praktisch allen Fächern notwendig ist. Über welches politische Wissen (seien das Begriffe, Konzepte, Kategorien oder Theorien) politisch mündige Menschen verfügen sollten, ist jedoch nicht klar.

Basierend auf den drei oben dargestellten Modellen politischer Bildung entwarfen Hellmuth & Klepp (2010, S. 116–123) ein «subjekttheoretisches Modell politischer Bildung» mit den beiden Kompetenzbereichen Reflexions- und Partizipationskompetenz (s. Abb. 5).


Abbildung 5: Subjekttheoretisches Modell politischer Bildung (Hellmuth & Klepp 2010, S. 118)

Reflexionskompetenz ist die Voraussetzung für Partizipationskompetenz, sie umfasst einerseits die (De-)Konstruktionskompetenz, die politische Sinnbildung ermöglicht, besonders aber den Einzelnen befähigt, «die eigene Sinnbildung zu hinterfragen und zu dekonstruieren» (Hellmuth & Klepp 2010, S. 116). Die (De-)Konstruktionskompetenz ermöglicht es dem Individuum zudem, Politik kritisch zu analysieren. (De-)Konstruktionskompetenz ist anderseits eine unabdingbare Voraussetzung für die Urteilskompetenz, und diese beiden setzen ihrerseits Methodenkompetenz voraus. Zur Partizipationskompetenz gehören die Kritik-, die Orientierungs- und die Handlungskompetenz.

Die Kritikkompetenz versteht sich als «Fähigkeit und Bereitschaft, die eigene politische Sinngebung dahingehend zu hinterfragen, ob sie […] – im Sinne der Aufklärung […] – individuelle Freiheit garantiert, ohne die Freiheit der anderen einzuschränken» (S. 122). Handlungskompetenz basiert schliesslich auf der Kritik- und der Orientierungskompetenz. Auf das rahmende (Arbeits-)Wissen wird auch in diesem Modell nicht weiter eingegangen.

Gerade aber an der Frage um das Wissen in der politischen Bildung entfachte sich die jüngste Kontroverse in der Politikdidaktik. Diese soll im Folgenden knapp dargestellt werden.

2.2 Konzepte der Politik versus Konzepte der politischen Bildung

Das GPJE-Kompetenzmodell aus dem Jahr 2004 (siehe Abbildung 1) war ein Konsensmodell, allerdings ging der Konsens auf Kosten der Differenziertheit. Daher war zu erwarten, dass sich vor allem bei der konkreten Ausgestaltung von Kompetenzbereichen – insbesondere beim Fachwissen – Gräben von unterschiedlicher Tiefe auftun würden. Seit der GPJE-Tagung 2006 versuchte man zunächst, einen Minimalkonsens hinsichtlich des fachlichen Kerns der politischen Bildung zu finden, doch seither sind vor allem zwei Autorengruppen mit höchst unterschiedlichen Positionen – und dies nicht nur in Bezug auf den Bereich des Wissens – in den Vordergrund der politikdidaktischen Diskussion gerückt: 2010 präsentierten vier Autoren und eine Autorin1 ein Konzeptmodell politischer Bildung, das sie in der Schrift «Konzepte der Politik – ein Kompetenzmodell» (Weißeno et al. 2010) veröffentlichten. Diese Publikation löste eine heftige Reaktion von zwei Autorinnen und vier Autoren2 aus. In der Streitschrift «Konzepte der politischen Bildung» stellen sie dem Wissensmodell von Weißeno et al. ein offenes Modell von sechs Basiskonzepten entgegen (zur Kontroverse siehe auch Henkenborg 2012; Goll 2013; Meyer 2013; Fröhlich 2014; Oeftering 2014).

 

In «Konzepte der Politik – ein Kompetenzmodell» steht die Frage des Fachwissens im Zentrum. Obwohl «das Wissen nicht die einzige Kompetenzdimension der Politikkompetenz» (S. 17) ist, spielt es für die politische Bildung eine zentrale Rolle, denn sowohl Meinungen wie auch Beteiligung setzen Wissen voraus (S. 7). Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Bestimmung von content standards als Lerninhalte für den Unterricht. Ausgehend von einem engen Politikbegriff wird ein Kompetenzmodell des Fachwissens vorgestellt, das sich in Basis- und Fachkonzepte aufgliedert (siehe Abbildung 6). Nach dieser aus den Fachdidaktiken der Naturwissenschaften übernommenen «Struktur zur Systematisierung der in der Schule zu erwerbenden Konzepte» (S. 11) sind Basiskonzepte «zentrale Prinzipien beziehungsweise Paradigmen der Domäne, also Grundvorstellungen des jeweiligen Fachs. Sie repräsentieren das Spezifische einer Domäne für den Unterricht» (S. 48). Basiskonzepte müssen durch Fachkonzepte weiter ausdifferenziert werden. Diese, so argumentieren die Autoren in Anlehnung an Anderson (2001) weiter, ermöglichen das Abrufen von bedeutungs- und wahrnehmungsbezogenem Wissen.

Die Inhalte des Modells (siehe Abbildung 6) kommen alle aus der Domäne Politik:


Abbildung 6: Kompetenzmodell des Fachwissens (Weißeno et al. 2010, S. 12)

Lernpsychologisch orientiert sich das Modell am Verständnis von literacy als ein Stufenkonzept für die Politikkompetenz. Danach umfasst civic literacy vier Stufen (S. 19):

1.Politische Themen, Namen und Wörter werden gewusst, aber falsch verstanden.

2.Begriffe werden korrekt verwendet und Faktenwissen ist vorhanden.

3.Zentrale politische Konzepte und die Bedeutung politischer Verfahren werden verstanden, und es können Beziehungen zwischen Fakten, Begriffen und Prinzipien hergestellt werden.

4.Es besteht ein Verständnis der Besonderheiten politischen Denkens, und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zusammenhänge können eingeordnet werden.

Das Stufenkonzept findet jedoch noch in anderer Form Eingang in das Modell: In der Konkretisierung der einzelnen Fachkonzepte werden für die einzelnen Altersstufen «konstituierende Begriffe» definiert. Für das Fachkonzept Öffentlichkeit zum Beispiel sind dies (S. 132):

•Primarstufe: Zugang (Öffentlichkeit), Partizipation, Privatheit

•Sekundarstufe I: Kommunikation, Diskurs, öffentliche Meinung, Transparenz, Offenheit, Medien, Geschlechtergerechtigkeit

•Sekundarstufe II: Verrechtlichung

Des Weiteren werden zu allen Fachkonzepten Fehlkonzepte aufgeführt und erläutert.

Die herausragende Bedeutung von Wissen aus der Sicht der Autorinnen und Autoren zeigt sich auch in deren Verständnis des Wissenserwerbs. Das lernende Subjekt konstruiert sich ein Netzwerk von Konzepten, wobei diese Konzepte (bzw. Begriffe) als «kognitive Wissenseinheiten, als Vorstellungskomplexe und Wertungen über zentrale Merkmale von Dingen oder Phänomenen» (S. 21) verstanden werden können. Insofern verändern sich Konzepte ständig, und zwar sowohl im historischen Prozess als auch beim individuellen Wissenserwerb.

2012 betteten vier der fünf Autoren ihr Kompetenzmodell des Fachwissens in ein umfassendes Politikkompetenzmodell ein (Detjen et al., 2012), das sich aus den Kompetenzdimensionen Fachwissen, politische Urteilsfähigkeit, politische Handlungsfähigkeit sowie politische Einstellungen und Motivationen zusammensetzt.

Die Streitschrift «Sozialwissenschaftliche Basiskonzepte als Leitideen der politischen Bildung – Perspektiven für Wissenschaft und Praxis» der Autorengruppe Fachdidaktik (2011) kontrastiert die theoretischen Annahmen des Kompetenzmodells des Fachwissens (im Folgenden als KF abgekürzt) mit ihren eigenen theoretischen Annahmen (S. 163–168):

Das KF verkürzt den GPJE-Entwurf (siehe S. 11) einerseits auf die kognitive Politikkompetenz und vernachlässigt damit die Handlungskompetenz. Anderseits reduziert das Modell die Kompetenzentwicklung auf das Lernen von Begriffen beziehungsweise Konzepten.

Die ausschliesslich politische Perspektive des KF erzeugt keine civic literacy, sondern höchstens eine political science literacy, schliesst sie doch die breite sozialwissenschaftliche Perspektive aus. Dazu gehören nach Ansicht der Autorengruppe Fachdidaktik neben der Politik noch die Gegenstandsbereiche Gesellschaft, Wirtschaft und Recht mit den Inhaltsbereichen Individuum und Gesellschaft, Demokratie, Recht und Rechtsprechung, Internationale Beziehungen und Globalisierung sowie Markt und Wirtschaftsordnung. Damit wird auch das Politikverständnis der Autoren des KF kritisiert, das politische Bildung auf den Staat und die Herstellung von Ordnung reduziere, vielmehr solle sie sich an einem «umfassenden Politikbegriff orientieren, der fundamentale lebensweltliche und gesellschaftliche Zugänge explizit erschliesst» (S. 165).

Das KF fällt in längst vergangene Zeiten der Instruktionsdidaktik zurück, da weder Interaktion zwischen den Lernenden vorkommt noch Aushandlung von Bedeutung stattfindet und Identitätsbezüge ausgeblendet werden. «In den klassischen politikdidaktischen Konzeptionen [hingegen] ist Didaktik inwendig bereits integrales Element der Bewegung der Sache selbst. Die Verfahren der Demokratie tragen eine Motivation in sich, sie haben eine ursprünglich eingeschriebene Vermittlungsleistung» (S. 166).

Auch wenn sie Begriffe wie Konzeptorientierung, Netzwerk und Kompetenz aufnehmen, haben die Autoren des KF ein extrem verkürztes Verständnis von Konzepten als eindeutig definierbaren Begriffen, und entsprechend werden Fehlkonzeptionen als zu korrigierende Fehler bestimmt. Politische Bildung verkommt somit zur Stoffvermittlung. Im Zentrum der politischen Bildung stehen jedoch «die Bedürfnisse und Erfahrungen, die individuellen Konzepte und Deutungsmuster, die subjektiven Lernthemen und Lernauffassungen, die Schülerinnen und Schüler in ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema politischer Bildung selbst hervorbringen» (S. 168).


Abbildung 7: Sechs Basiskonzepte als Leitideen der politischen Bildung und ausgewählte Teilkonzepte bzw. Teilkategorien (Autorengruppe Fachdidaktik 2011, S. 170)

Die Autorengruppe Fachdidaktik stellt dem hermetischen Kompetenzmodell Fachwissen Basiskonzepte beziehungsweise Leitideen entgegen, die als «Orientierungshilfen für die multiplen sozialwissenschaftlichen Bezüge des Politischen» (S. 169) genutzt werden können. Die Zusammenstellung der sieben Basiskonzepte (siehe Abbildung 7) hat laut Autorengruppe Werkstattcharakter und soll als kontextübergreifende Formulierung verstanden werden, die gleichsam den interdisziplinären Blick verschiedener sozialwissenschaftlicher Zugänge ermöglicht.

Kürzlich publizierte die Autorengruppe Fachdidaktik (2015) einen Leitfaden für den sozialwissenschaftlichen Unterricht, in dem sie ihre Vorstellungen von guter politischer Bildung konkretisiert. Einleitend wird unmissverständlich festgehalten, dass Mündigkeit als «allgemein anerkannte Zielformel» (S. 13) der politischen Bildung gelten soll, wobei ein radikales Verständnis von Mündigkeit Abstand nehmen müsse von normativen Wahrheitsansprüchen auch bezüglich Demokratie und Marktwirtschaft (S. 15). Demzufolge sei der Politikunterricht kein Paukfach, sondern ein Denkfach, bei dem es im «Kern um die Aktivierung und Transformation der Wissensbestände von Schülerinnen und Schülern» (S. 61) gehe. Im Kapitel zum Wissen im Politikunterricht (S. 91–105) wird dann gleichzeitig vor der Wissensfalle und der Meinungsfalle gewarnt. Dabei wird einerseits die Fähigkeit zur Informationsverarbeitung als selbstverständliches Ziel der politischen Bildung bezeichnet und anderseits die Anhäufung von Einzelinformationen, was die Autorengruppe offenbar als klassischen Wissensaufbau versteht, abgelehnt. Gewarnt wird jedoch auch davor, alle Lernendenäusserungen in der Klasse als gleichermassen gültig zu akzeptieren, führe dies doch zu einem Relativismus, «der junge Menschen mit ihren Orientierungsbedürfnissen allein lässt» (S. 93).

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