Die Taufe auf den Tod Christi

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1.1 Definition(en)

Viele Kontroversen wie auch die Vielfalt der Theorien innerhalb der Ritualwissenschaften gründen im Fehlen einer konsensfähigen Definition für den Untersuchungsgegenstand „Ritual“. Einen ersten Hinweis auf der Suche nach dem „Wesen“ eines Rituals bietet die Begriffsgeschichte.

1.1.1 Die sprachliche Wurzel des Rituals

Die Bezeichnungen, welche sich in den europäischen Sprachen finden, gehen beinahe alle auf das lateinische Adjektiv ritualis bzw. das Nomen ritus zurück, welches „Brauch, Sitte, Gewohnheit“ meint.1 Eine rite vollzogene Handlung wurde in der festgelegten Form ausgeführt. Die etymologische Wurzel ist nicht eindeutig: Die zwei gemeinhin angeführten Möglichkeiten betonen entweder die „auf Regelmäßigkeit beruhende Struktur“ (von sanskrit. r̥ta) oder, etwas neutraler, den Verlauf einer Handlungsabfolge (von indogerm. ri).2 Die regelmäßige wie die prozessuale Charakteristik scheinen zwei Elemente zu sein, die sich bis in den heutigen Sprachgebrauch des „Rituals“ durchziehen. Bei der Übernahme in die modernen indogermanischen Sprachen entwickelt sich der Begriff jedoch sehr schnell zum terminus technicus und Schlüsselbegriff in verschiedenen Zusammenhängen, so etwa im Deutschen3 oder auch Englischen.4

Die zunächst scheinbar verheißungsvolle Feststellung, dass die einschlägigen Begrifflichkeiten in so vielen der europäischen Sprachen sich auf eine gemeinsame Wurzel, nämlich das lateinische ritus zurückführen lassen, „does not imply semantic and pragmatic continuity“.5 Will man dem ursprünglichen Sinn des Begriffes auf die Spur kommen, ist vielmehr nach semantisch-pragmatischen Synonymen zum heutigen Ritualbegriff zu fragen – mit Blick auf den Gegenstand der Arbeit – über das Lateinische ritus hinausgehend speziell im (neutestamentlichen) Griechischen: „The (ancient) Greek language does not have a word that corresponds to the modern notion of a ‚ritual‘.“6 Chanoitis meint vielmehr, verschiedene Arten von Entsprechungen für „Ritual/ritual” ausmachen zu können: zum einen Wörter, welche einzelne Rituale bezeichnen (θυσία, ἐναγισμός, σπονδή), zum anderen Begriffe, die – aus dem semantischen Feld „to act“ / „action“ stammend – in einem allgemeineren Sinne Rituale bezeichnen können (ἱερὰ ποιεῖν, θεραπεύειν τοὺς θεούς), und davon wiederum abgegrenzt weitere Begriffe, welche beinahe ausschließlich im Zusammenhang mit Mysterienreligionen und Initiationen belegt sind (τελεῖν, δρόμενα, ὄργια). „Instead of using a word that corresponds to our notion of a ritual, the Greeks often use the general term tà nomizómena (‚the actions prescribed by custom‘) in order to refer to ritual actions, not only of a religious nature.“7

1.1.2 (Ansätze zu) Ritualdefinionen

Wie das Griechische unterschiedliche Termini verwendet und das lateinische ritus bereits zwei grundlegende Bedeutungstendenzen beinhaltet, so lassen sich auch in den heutigen Ritualwissenschaften nicht allein unterschiedliche Ritualdefinitionen, sondern kategorial verschiedene Ansätze, ein Ritual zu definieren, ausmachen, welche hier lediglich in einer kleinen Auswahl dargeboten werden können:1 1) Einige Ritualdefinitionen beschreiben in Form von Nominalsätzen das Wesen von Ritualen.2 2) Andere Ritualdefinitionen sind von Negativbestimmungen geprägt.3 3) Wieder andere heben auf den Handlungsaspekt eines Rituals ab.4 4) Das Ritual wird selbst als Handlungsweise verstanden.5 5) Externe Intentionen haben Einfluss auf die Definition, wie etwa die Absicht rituelle Phänomene maximal zu erfassen6 oder auch die Abwehr dessen.7

Die Problematik führt einige Forscher schließlich dazu, „not to define ‚ritual‘ explicitely (forgetting that they do have some idea of what a ‚ritual‘ is anyway), or to argue against the use of the term altogether!“8 Stollberg-Rilinger hält solchen Tendenzen wiederum entgegen: „Es ist aber weder möglich noch notwendig, ja nicht einmal wünschenswert, sich auf eine einzige, ‚richtige‘ und ‚endgültige‘ Definition zu einigen. Deshalb ist die Geschichte der Ritualforschung immer zugleich eine Geschichte unterschiedlicher Ritualdefinitionen.“9 In diesem Sinne sollen die verschiedenen Ritualdefinitionen in ihrer Weite und Vielfalt an dieser Stelle stehen bleiben, und „Ritual“ mit Grimes grundsätzlich verstanden werden als ritualisiertes Handeln, dessen Ritualisierungsgrad unterschiedlich hoch sein kann.

Diese recht allgemeine Definition genügt an dieser Stelle, insofern bei keinem der in dieser Arbeit untersuchten Rituale ein Zweifel daran besteht, dass sie tatsächlich als Rituale gelten können. Sowohl die besprochenen Taufen, als auch die zum Vergleich herangezogenen sonstigen Wasserrituale, die Beschneidung wie auch die gelegentlich thematisierten Mysterieneinweihungen stellen Rituale dar. Zu diskutieren sind vielmehr ritologische Sachfragen, wie Möglichkeit und Umstände von Ritualentwicklungen oder auch Ritualkritik sowie die Ritualkategorie. Dort hat auch der methodische Fokus bezüglich zu befürchtender Engführungen zu liegen, nicht aber auf der Ritualdefinition im Allgemeinen. Daher werden im Folgenden nach einer Übersicht über mögliche Ritualklassifikationen mit Blick auf die christliche Taufe und ihre Entstehung offensichtlich relevante Sonderfragen der Ritualwissenschaften dargestellt.

1.2 Kategorisierungen

Ebenso verschieden und vielfältig wie die Ritualdefinitionen gestalten sich auch die Ansätze, Rituale zu klassifizieren. Neben binären Grundunterscheidungen, etwa in religiöse und säkulare Rituale1 oder in Hauptrituale und Teilrituale/-riten,2 werden auch immer wieder mehrgliedrige Modelle vorgeschlagen. Die meisten Kategorisierungen unterscheiden dabei nach inhaltlich-funktionalen Aspekten, wobei auch bei den von etablierten Ritualwissenschaftlern vorgeschlagenen Modellen sich Beschreibungsschwierigkeiten auftun und reflektiert werden,3 welche entweder zu Mischkategorisierungen oder aber dazu führen, dass Rituale in mehrere der Kategorien eingeordnet werden können.4 Als klassische Modelle können gelten die sechs Kategorien Bells,5 die 16 Kategorien Grimes,6 aber auch Grimes’ Katalog an typischen Ritualeigenschaften, nach welchem der Grad an Ritualisierung gemessen werden kann.7

Die Zuordnung eines Rituals zu einer der Kategorien kann je nach Art des Rituals einen einfachen Schritt im Rahmen der Analyse darstellen oder aber eine wesentliche Entscheidung im Interpretationsprozess, welche ggf. an dessen Ende erneut zu prüfen ist. Die Taufe wird gemeinhin zur Kategorie der Reinigungsrituale8 und/oder zur Kategorie der Initiationsrituale gerechnet. Letztere bedürfen auf Grund ihrer Geschichte wie auch Vielfalt einer kurzen Darstellung.

Exkurs: Initiationsrituale

1. Begriffsgeschichte

Das Spannungsfeld der verschiedenen Vorstellungen und Assoziationen zur Initiation liegt bereits im Begriff begründet, denn in ihm „kreuzt sich ein antiker, an den ‚Mysterien‘ orientierter Begriff mit einem modernen, der auf Entwicklungspsychologie und Gesellschaftstheorie ausgerichtet ist“.9 Insofern ist im Folgenden zwischen dem griech.-lat. Ursprung des Begriffes und dessen heutiger Verwendung als Kategoriebezeichnung innerhalb von Anthropologie, Ethnologie und den Ritualwissenschaften zu unterscheiden.

Der heutige Fachbegriff leitet sich vom Lateinischen initia / initio bzw. initiare ab, was zunächst „Anfang / anfangen“ bedeutet, hierbei allerdings als Übersetzung für die griechischen Begriffe μύησις, μυστήρια, ὄργιον und τελεθή verwendet wird, auch wenn sich „keines dieser griech. Substantiva […] auch nur annähernd mit dem lat. Wort“ deckt.10 Die Rekonstruktionsversuche zur ursprünglichen Bedeutung von dem Wortfeld um μύησις bleiben spekulativ,11 sicher scheint allein, dass sich die griechischen Begriffe zunächst auf die Geheimkulte von Eleusis und Samothrake – später auch auf andere – beziehen,12 und seit der hellenistischen Zeit im Lateinischen durch initia oder auch das Lehnwort mysteria „jeder etwas geheimnisumwitterte Kult“13 bezeichnet werden kann.

2. Definition(en)

In der Moderne wird der Begriff initiation als Ritualkategorie wieder aufgegriffen bzw. neu bestimmt,14 wobei bisher – wie bereits beim Begriff „Ritual“ – keine einheitliche Definition und mit ihr eine entsprechende Abgrenzung und Beschreibung dieser Kategorie gefunden werden konnte. Es lässt sich jedoch feststellen, dass die begriffliche wie inhaltliche Grundorientierung zumeist auf die von van Gennep beschriebenen Passageriten,15 welche „nahezu gleichbedeutend mit ‚Initiation‘“16 verwendet werden, zurückgeht. Drei solcher Definitionen seien im Folgenden zitiert und sollen in ihren Übereinstimmungen, aber auch in ihrer gegenseitigen Weite die Grundlage für das Begriffsverständnis in dieser Arbeit darstellen:

Mircea Eliade: „Im allgemeinen versteht man unter Initiation eine Gesamtheit von Riten und mündlichen Unterweisungen, die die grundlegende Änderung des religiösen und gesellschaftlichen Status des Einzuweihenden zum Ziel haben. Philosophisch gesagt entspricht die Initiation einer ontologischen Veränderung der existentiellen Ordnung. Am Ende seiner Prüfungen erfreut sich der Neophyt einer ganz anderen Seinsweise als vor der Initiation: er ist ein anderer geworden.“17

Jan A.M. Snoek: „Initiations are all those, and only those, rites de passage, limited in time, and involving at least one subject participant, which are nonrecurrent transitions in time for their individual objects (the candidates).“18

 

Anders Klostergaard Petersen: „A ritual of initiation represents a sub-class of the category ritual. The class covers three different types of rituals that mutually differ from each other by the subject of doing of the ritual, as well as the state into which the ritual participant through the ritual is incorporated. Rituals of initiation effectuate an irreversible transfer of individual persons into a higher state of being than the one they had prior to the ritual act.“19

3. Beschreibung

Konsensfähig bestimmt die Forschung drei Grundarten von Initiationsritualen: Ini­tiation in ein bestimmtes Alter, in eine Gemeinschaft oder einen Kult und schließlich in das Schamane- bzw. Priestersein.20 Da es als nahezu unbestritten gilt, dass Initia­tionsrituale eine Unterkategorie der sog. Passagerituale darstellen,21 wird für eine erste Beschreibung zumeist auf Beobachtungen von van Gennep zurückgegriffen, welcher für sämtliche Passagerituale drei Teilrituale und damit verbunden drei Phasen postuliert:22 1) „rites de séparation“ / „Trennungsriten“ – die Phase der Trennung bzw. Ablösung, welche oft als Prozess des Sterbens beschrieben wird; 2) „rites de marge“ / „Schwellen- bzw. Umwandlungsriten“ – die Phase der Umwandlung bzw. Schwelle, welcher zumeist ein Status der Heiligkeit zuerkannt wird;23 und 3) „rites d‘agrégation“ / „Angliederungsriten“ – die Phase der Integration, welche oft als Geburt oder auch Auferstehung gedeutet wird.24 Van Gennep weist jedoch darauf hin, dass die Ausprägung der einzelnen Phasen abhängig sein kann einerseits von der jeweiligen Kultur und andererseits von der Art des Passagerituals: „Trennungsriten kommen vor allem bei Bestattungs-, Angliederungsriten bei Hochzeitszeremonien vor. Umwandlungsriten können bei Schwangerschaft, Verlobung und Initiation eine wichtige Rolle spielen oder aber auf ein Minimum reduziert sein wie im Falle der Adoption, der Geburt des zweiten Kindes, der Wiederverheiratung, dem Übergang von der zweiten zur dritten Altersklasse usw.“25

Daneben finden sich bei verschiedenen Forschern Beschreibungs- und Eigenschaftenkataloge, welche angesichts der Fülle und Vielfalt an Initiationsritualen das Verbindende und darin auch das Spezifische gegenüber anderen Ritualen herauszustellen:

Arnold van Gennep weist darauf hin, dass Passagerituale normalerweise ein Erkennungszeichen haben, welches allerdings nicht von permanenter Qualität sein muss, sondern z.B. auch in Kleidung, Masken oder Körperbemalung bestehen kann.26

Jan A.M. Snoek bietet eine Aufzählung von Eigenschaften, die Initationsritualen zueigen sind: „Initiations may be preceded by preparatory rites. […] The object of a rite de passage, and thus of an initiation, must fulfill certain predefined conditions in order to qualify for its role in the ritual. […] the object of an initiation is an individual person: the candidate.”27 Ein Ritual kann nicht lebenslang andauern und „one initiator should take part in the ritual, which renders ‚self-initiation‘ a contradiction in terms.”28 „Initiations are first-time-rituals which cannot be repeated (are nonrecurrent) for the same candidate. […] Through an initiation, one usually becomes a member of a group. In that case it is also the only means to become a member. […] As a rule, a candidate cannot have a stand-in, but must go through the ritual him/herself. […] Usually, taboos or instructions are supposed to help a candidate to avoid dangerous influences of the sacred during the liminal phase of ritual. […] Usually, the candidate is conducted by one or two guides or instructors. […] Usually, the initiated can be recognized by (permanent or removable) badges, obtained during their initiation.”29

Anders Klostergaard Petersen ergänzt diese Beobachtungen: „The ritual participants in the ritual of initiation consist of one or, at the very maximum, a few individuals. It never includes an entire community or society. […] The qualitative changes acquired by the ritual participants through the completion of the ritual are of an irreversible nature, i.e. they cannot be lost unless, and very seldom, a new narratively staged ritual process is initiated.“30

Mircea Eliade listet in ihren elaborierten Werk „Rites and Symbols of Initiation“31 eine Vielzahl an Elementen und Charakteristika auf, welche häufig bei Initiationsritualen anzutreffen sind: Bezugnahme auf frühere und kommende Zeiten und eine Verhältnisbestimmung zum Moment der Initiation, Bezugnahme auf mythische Gründungserzählungen, ggf. mit Wiederholung derer während der Initiation, Thematisierung der Gemeinschaft und der Stellung der Neophyten in ihr, dazu sind Prüfungen zu bestehen und sehr oft ein ritueller Tod zu erleiden, um danach ganz neu zu den Lebenden zurückzukehren oder auch ganz neu geboren zu werden.32

Aus dieser Fülle an Elementen und Deutungen stechen Eliade zufolge bei religiösen Initiationen zwei Motive heraus:

1) Religiöse (Initiations-)Rituale stellen die Wiederholung des Schicksals einer Gottheit oder aber der Schöpfung als Ganzes dar,33 „[d]enn die symbolische Wiederholung der Schöpfung impliziert eine Reaktualisierung des ursprünglichen Ereignisses und damit die Gegenwart der Götter und ihrer schöpferischen Energien.“34 Dabei kommt es zu einer Vereinigung zwischen der Gottheit und demjenigen, der im Ritual ihre Rolle spielt bzw. nachahmt.35

2) Doch „[j]eder rituellen Wiederholung der Kosmogonie geht eine symbolische Regression zum ‚Chaos‘ voraus. Damit die alte Welt von neuem erschaffen werden kann, muß sie zuerst vernichtet werden. […] Im Szenarium der Initiationsriten entspricht der ‚Tod‘ der vorübergehenden Rückkehr zum ‚Chaos‘“.36 Dies zeige sich in folgender Weise: „Die meisten Initiationsprüfungen enthalten in mehr oder weniger erkennbarer Form einen rituellen Tod, dem eine Auferstehung oder eine Wiedergeburt folgt. Das zentrale Moment jeder Initiation wird durch die Zeremonie dargestellt, die den Tod des Neophyten und seine Rückkehr zu den Lebenden symbolisiert. Aber es kommt ein neuer Mensch ins Leben zurück, der eine andere Seinsweise auf sich genommen hat. Der Initiationstod bedeutet gleichzeitig das Ende der Kindheit, der Unwissenheit und des profanen Zustands.“37 Petersen formuliert diesbezüglich vorsichtiger: „The relationship between the two non-liminal phases and the liminal one is expressed through the use of analogical, binary contrasts.“38 Der von Eliade beschriebene Ini­tiationstod mit folgender Neu- bzw. Wiedergeburt ist aus anthropologischer Sicht der deutlichste und augenfälligste Ausdruck eines solchen Kontrastes.39

1.3 Ritualveränderungen und -neuentwicklungen

Die Veränderung oder gar Neuentwicklung1 von Ritualen scheint deren ur­eigenem Wesen zunächst zu widersprechen, denn „rituals tend to present themselves as the unchanging, time-honored customs of an enduring community.“2 Entsprechend scheinen Beobachtungen zu bestätigen, dass „ritual activities generally tend to resist change and often do so more effectively than other forms of social custom.“3 Gleichzeitig zeigen genauere Untersuchungen, dass dies keinesfalls selbstverständlich ist: „Es kostet Mühe und ist aufwendig zu verhindern, dass Rituale sich verändern; formale Konstanz ist keineswegs selbstverständlich.“4

Und so hat sich in den vergangenen Jahren innerhalb der Ritualwissenschaften ein eigener Forschungsschwerpunkt herausgebildet, welcher unter den Stichworten „ritual dynamic“5 und „ritual design“6 Anlässe und Prozesse von Ritualveränderung, -weiterentwicklung und -neuentwicklung untersucht und interpretiert. Im Folgenden kann und soll es nicht um eine ausführliche Darstellung des Phänomens, sondern lediglich um einen kleinen Einblick in die Problematik gehen.

1.3.1 Anlässe und Ursachen für Ritualveränderungen und -neuentwicklungen

Die Hauptursache von Ritualveränderungen liegt in ihrer starken Kontextabhängigkeit begründet. Jede Art von Veränderung einer Gruppe bzw. des Umfeldes eines Rituals tritt in eine Wechselwirkung mit diesem. Konkret kann dies geschehen „[…] aufgrund interner oder externer Faktoren, von oben gesteuert, von unten erzwungen oder zwischen den Beteiligten ausgehandelt.“1 Zwei Sonderfälle sind zu beachten: 1) der Ritualtransfer und 2) die Neuentstehung bzw. -entwicklung von Ritualen.

1.3.1.1 Der Ritualtransfer

Ein Ritualtransfer stellt eine Übertragung von Ritualen in andere Kontexte und Gesellschaften dar, bei welchem das Ritual zwar im Ganzen fortbesteht, jedoch normalerweise „seine Form, Funktion und Bedeutung im Laufe des Transferprozesses veränd[ert].“1 Widengren betont zwar einerseits das teilweise hohe Alter von Ritualen trotz derartiger Transfers, hält aber andererseits eine völlig unveränderte Übernahme eines Rituals samt des daran gebundenen Mythos in eine andere Religion für unmöglich.2 Für die Neukontextualisierung ganzer Kulte samt deren Ritualinventars prägte Schmidt den Begriff der „Kultübertragung“.3 Werden hingegen lediglich einzelne Ritualelemente in einen anderen Kontext transferiert, spricht man heute eher von „Interritualität“:4 „Der springende Punkt dabei ist, dass diese Elemente als ‚Zitate‘ erkennbar sind und auf ihren Herkunftskontext verweisen; dadurch werden die verschiedenen Rituale untereinander symbolisch verknüpft.“5

1.3.1.2 Die Neuentstehung bzw. -entwicklung von Ritualen

„The tendency to think of ritual as essentially unchanging has gone hand in hand with the equally common assumption that effective rituals cannot be invented.“1 Entsprechend werden offensichtlich neue Rituale gelegentlich abgewertet,2 durch die Forschung ignoriert oder aber ihnen wird mit einer hohen Erwartungshaltung begegnet: „There is increasing pressure for the invented rite to show that it ‚works‘; this is what legitimates the rite since there is no tradition to do this.“3

Myerhoff sieht den Grund dafür im Ritual selbst: „the invisibility of ritual’s origins and its inventors is intrinsic to what ritual is all about“.4 Bell widerspricht ihr darin, dass dies für alle Rituale zutreffen würde.5 Zudem betont sie, dass es sich bei der Ritualentwicklung keineswegs um ein ausschließlich modernes Phänomen handelt.6 Auch Stollberg-Rilinger verweist darauf, durch die Geschichte seien gerade in Umbruchssituationen Rituale erfunden worden, um etwa Brüche zu überbrücken.7 Zumeist handelt es sich dennoch nicht um eine „[…] creation ex nihilo. Various familiar symbols and traditions were evocative while still espousing sentiments in keeping with official directives.“8