Flohsommer

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Claudia Jüngling

Flohsommer

Ein Würzburg-Roman

Claudia Jüngling

Flohsommer

Ein Würzburg-Roman

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2017

© 2017 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: Christine Eisner, Würzburg

Satz: Hain-Team (www.hain-team.de)

ISBN

978-3-429-04322-3

978-3-429-04895-2 (PDF)

978-3-429-06314-6 (ePub)

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

„Ich wünschte mir mal ein Buchohne diese pseudointellektuellen Zitate auf der ersten Seite“

Leander, Flohsommer

Vorwort

Mein Buch … Keiner meiner Freunde und Freundinnen wusste von der Schreiberei. Irgendwie war’s mir peinlich.

Wer schreibt, lässt Fremde in sein Inneres blicken und gibt viel von sich preis – auch wenn er das eigentlich gar nicht will.

Um meine Identität zu verschleiern, hatte ich mir ursprünglich ein Pseudonym und eine fiktive Stadt namens „Wülzburg“ ausgedacht.

Ich bin von meinem Plan abgekommen, als ich ein Mädchen kennenlernte, das meinen Künstlernamen bereits als (echten!) Namen trägt und ich durch einen Tippfehler bei einer Internetrecherche erfuhr, dass es in Bayern tatsächlich einen Ort namens Wülzburg gibt – samt Festung. (Gelegentlich begehen japanische Reisebusse angeblich den Fehler, Würzburg und Wülzburg zu verwechseln und sich dann sehr zu wundern.)

Da es schwer ist, den Einfallsreichtum des realen Lebens zu übertrumpfen, habe ich aufgegeben.

Würzburg, Anfang Mai

Ich wollte noch bis vor einer Woche eigentlich nie schreiben. Und auf keinen Fall Tagebuch führen.

Letzte Woche habe ich trotzdem ein Tagebuch gekauft; eines mit rotem, samtenem Umschlag und Mini-Bügelschloss.

Der Mini-Mini-Schlüssel war verloren, bevor ich das Buch geöffnet hatte.

Deshalb habe ich das Schloss „geknackt“, was erschütternd einfach ging.

Jetzt sitze ich da und frage mich, was ich in das Buch schreiben kann.

Gerne hätte ich den Seiten unaussprechlich intime Erlebnisse aus meinem verruchten Leben anvertraut. Geständnisse, die jedem heimlichen Leser die Schamröte in das Gesicht getrieben hätten.

Mit dem ersten Eintrag habe ich eine ganze Woche gewartet, weil ich die Illusion hatte, es würde, vielleicht am nächsten Tag, doch noch irgendetwas passieren.

Vielleicht liegt es an mir.

Laut Geburtsurkunde bin ich zwar zwanzig Jahre alt, fühle mich aber entweder unsicher und gehemmt wie mit vierzehn oder abgeklärt und erfahren wie mit 99 Jahren.

Mein Äußeres ist mit dem schrecklichen Wort „mittel“ am besten beschrieben.

Mittelgroß, mittelblond, mittelschlank. Eine wie tausend andere.

Nach einem Bankraub hätte die Polizei große Probleme, mich anhand der Personenbeschreibungen aufzuspüren. Die Gefängnisse würden überquellen mit 08/15-Blondinen. Gerne hätte ich rote Haare, aber nach dem ersten und einzigen Tönungsversuch musste ich wochenlang Kopfbedeckungen tragen, um die orange Wolke auf meinem Kopf zu verbergen. Deshalb habe ich mich mit mir abgefunden.

So gut es eben geht. Laut einer Studie ist keine Frau richtig mit sich zufrieden, was ja etwas Tröstliches hat. Bestimmt gibt es irgendwo auf der Welt eine wunderschöne Frau mit langen, roten Locken und zarten Sommersprossen, die mich glühend beneidet.

Schöne Vorstellung eigentlich.

Vielleicht liegt es aber an Würzburg, dass mein Buch so lange leer blieb.

Man hört oft: „Würzburg ist ein Dorf“, was ich nur bestätigen kann.

Obwohl die Stadt fast 130 000 Einwohner hat, treffe ich immer nur dieselben fünf.

Ich hatte mir das Leben in der „Universitätsstadt“, die ja immerhin Regierungshauptstadt von Unterfranken ist, aufregender vorgestellt.

Ohne dass ich in Worte fassen könnte, was ich vermisse.

Partys statt Weindörfer und Drogen statt Wein vielleicht.

Natürlich enthält Wein Alkohol und ist eine Droge – aber in Deutschland weiß das keiner.

Da ich aus Bayreuth stamme, das gerade mal die Hälfte an Einwohnern zählt, habe ich mir von einer doppelt so großen Stadt irgendwie auch doppelt so viel Aufregung erwartet.

Multipliziert man null mit null, ergibt das aber weiterhin null und nicht, wie ich mir ausgerechnet hatte, hundert.

Würzburg, 4. Mai 2013

Warum Würzburg? WÜ auf dem Autonummernschild ist zwar besser als BT – man kann WÜ-RG und WÜ-ST bilden –, aber da ich kein Auto habe, ist das kein Grund zu bleiben. Da die Stadt im II. Weltkrieg völlig zerstört worden ist, gibt es wenig echt Altes. Die Gebäude passen nicht zusammen, das „Neue“ aus den 50/60er Jahren ist oft unfreundlich und kalt. In der Fußgängerzone fahren die Straßenbahn, die Müllabfuhr, die Taxis, sämtlicher Lieferverkehr. Und Radfahrer, die offensichtlich an Radrennen teilnehmen. Die arg strapazierten Glocken erinnern oft eher an das Halalie der Jäger als an eine freundliche Warnung. Straßen sind ständig gesperrt, weil der gemeine Würzburger gerne rennt: zur Erinnerung an die Zerstörung der Stadt, für eine bessere Welt, für den Arbeitgeber, für ein Fitnessstudio oder ohne Grund einfach um die Residenz. Abends muss man auf der Alten Mainbrücke die Weintrinker, die grüppchenweise den Weg blockieren, wie ein Eisbrecher auf die Seite schieben. Was hat mich in diese Stadt gelockt?

Leander.

Als ich letztes Jahr kurz vor dem Abitur von ihm eher zufällig erfuhr, dass er in dieser kirchenreichen Stadt am Main künftig Ägyptologie studieren wollte, wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt keine Vorstellung hatte, was ich nach der Schule machen wollte. Fast mein ganzes Leben bin ich zur Schule gegangen und irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass diese Zeit endgültig vorbei sein sollte. Natürlich haben alle in unserem Abi-Jahrgang Zukunftspläne geschmiedet, aber mir war nicht so richtig bewusst, wie sehr sich alles ändern würde, nach diesem Sommer. Es ist schon seltsam, dass man sich dreizehn lange Jahre auf etwas vorbereitet und trotzdem nicht bereit ist. Leander gehört schon so lange in mein Leben, dass ich nie auf den Gedanken gekommen bin, er könnte einfach so aus Bayreuth weggehen. Schon gar nicht ohne mich.

Deshalb bin ich einfach mitgegangen.

Als ich in der elterlichen Badewanne liegend die Anzeige der Würzburger Dolmetscherschule in einer Zeitschrift erblickte, hielt ich das für einen Wink des Schicksals. Wunderbar – plötzlich hatte ich wieder eine Zukunft.

Angemeldet, Ausbildungsplatz kurzfristig bekommen – Problem gelöst.

„Schule“ – das klang vertraut, weniger beängstigend als „Universität“.

„Dolmetscher“ andererseits: fremde Länder und Unabhängigkeit. Im Geiste sah ich mich schon als elegante, vielsprachige Dolmetscherin. Ich stellte mir vor, wie ich Politiker zu wichtigen Verhandlungen begleiten, deren peinliche verbale Entgleisungen souverän ausgleichen und so einen großen Beitrag zum Weltfrieden leisten würde. Immer unterwegs, immer perfekt gestylt. Wie die Dame in der alten Drei-Wetter-Taft-Werbung. Inzwischen ist fast ein Jahr vergangen, und diese Zukunftspläne sind am besten beschrieben mit dem Wort: „unrealistisch“.

Leander und ich kennen uns schon ewig. Beinahe zumindest. Seine Mutter hatte, als sie mit ihm schwanger war, für kurze Zeit in einer Wohnung neben dem Haus meiner Eltern gewohnt. Da ich etwas jünger bin als er, hatten wir damals noch keinen Kontakt.

Leander betont aber trotzdem immer wieder gerne den merkwürdigen Zufall, dass wir uns schon seit meiner Geburt kennen könnten, wenn seine Eltern nicht kurz nach seiner Geburt in ein eigenes Haus in einem anderen Stadtteil umgesiedelt wären oder ich früher auf die Welt gekommen wäre.

Da das Schicksal unterhaltungssüchtig ist und gradlinige Lebenswege strikt ablehnt, konnten wir uns erst Jahre später treffen.

Und zwar bei der Mathe-Nachhilfe, die ich im Laufe der 7. Klasse bitter nötig hatte.

Genau wie Leander, der zwar auf ein anderes Gymnasium ging, aber mit mir an einem Tisch lernte.

Als ich Leander das erste Mal sah, waren seine langen Haare gerade blau und seine großporige, fettige Haut irgendwie auch. Auf seiner langen, glänzenden Nase trug er eine kreisrunde Oma-Brille, die ihm überhaupt nicht stand.

Seine Kleidung könnte man als „alternativ“ bezeichnen oder als schlampig – „ den Körper bedeckend“. Besondere Liebe empfand er zu einem unförmigen grau-braunen Überzieher mit Fischgrätenmuster, riesiger Kapuze und Bauchtaschen, in die er seine Hände wie in einen Muff steckte. Die Kapuze hatte er oft über den Kopf gezogen, so dass nur die Nasenspitze von der Seite zu sehen war – wirkte leicht gruselig. Mit leicht hängenden Schultern schlurfte er schweigend wie ein Mönchsfreak durch die Gänge des Nachhilfe-Tempels, der unser aller Leben verbessern sollte.

Obwohl wir auf engstem Raum miteinander lernten, wechselten wir in der ersten Zeit kaum mehr als die üblichen Begrü-ßungs- und Verabschiedungsfloskeln.

Wenn er etwas zu mir sagte, waren es meist irgendwelche leicht nervenden, belehrenden Bemerkungen, die nichts mit dem eigentlichen Thema zu tun hatten und mich nicht interessierten. „Fleisch aus Massentierhaltung sollte gesetzlich verboten werden“, tat er einmal kund, als ich abgehetzt mit einem Hamburger von McDonalds erschien. „Für jeden Hamburger stirbt ein Baum im Regenwald!“ (McDonalds lag zwischen der Nachhilfe und der Bushaltestelle und war die einzige Möglichkeit für mich, nach der Schule irgendetwas Bezahlbares in den Magen zu bekommen. Nicht, dass das heute noch von Interesse wäre, aber ich möchte es trotzdem erwähnen.)

 

Seine alte, abgegriffene Ledertasche zierte ein Aufkleber mit indianisch anmutendem Muster und einem Spruch der Hopi: „Erst w nn der te Ba m gerod -“ der Rest war unleserlich. Einmal erwähnte er, dass er sich irgendwann ein Huhn halten will, um immer frische Bio-Eier zu haben. (Wir haben bei Aldi und Lidl eingekauft und wollten keine Hühner.)

Trotz Nachhilfe blieben wir beide fast sitzen.

So etwas verbindet.

Ich hatte Probleme mit Mathe und Latein – der klassischen Durchfallkombination.

Leander eigentlich mit allem. Die Lehrer haben seinen Eltern schriftlich nahegelegt, ihn lieber abzumelden. Leanders Eltern haben sich furchtbar aufgeregt, Lehrer angeschrien und Leander an der Schule gelassen. Was auch richtig war, da seine schlechten Noten nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun hatten oder mit Faulheit. Er fand einfach keine Zeit, für die Schule zu lernen. Oder Hausaufgaben zu machen.

Oder pünktlich im Unterricht zu erscheinen.

Leander interessierte sich eigentlich für alles. Er spielte Geige und Gitarre, fotografierte leidenschaftlich und machte Tae Bo.

Wie Leonardo da Vinci, nur nicht so genial. Egal, wen ich damals kennenlernte – jeder kannte bereits Leander. Die einen aus der Theatergruppe, die andern von der AG „Geschichte des Nahraumes“ oder dem Bund Naturschutz. Er schrieb für die Schülerzeitung, protestierte gegen Tierversuche und war in der Schülermitverwaltung engagiert.

Es gab auch etliche Leute, die Leander vom gemeinsamen Nachsitzen her kannten, da er dort recht häufig seine Freitagnachmittage verbrachte.

Er hatte im Nachsitzraum sogar einen eigenen Stuhl, auf dem sein Name stand – Leander hatte ihn sich selbst zur 20. Strafarbeit „geschenkt“. (Für das Einritzen seines Namens nahm er einen Verweis in Kauf – damals fand ich es aber witzig.)

Als ich anlässlich der Feier meiner ersten „Mathe-Vier“ euphorisch eine Flasche Sekt zur Nachhilfe mitbrachte, kamen wir uns näher.

Das ging allein von ihm aus – ich wurde völlig überrumpelt.

Er behandelte mich von einem Tag auf den anderen wie eine enge, geschätzte Freundin, lächelte mich an und ließ die sonst üblichen Zwischenschritte des langsamen Aufeinanderzugehens und Kennenlernens einfach aus. Ausschlaggebend war ein Missverständnis :

Leander fand es unheimlich lässig von mir, geradezu rebellisch, als Minderjährige Alkohol zu kaufen und bei der hochpreisigen Mathe-Zusatzstunde in Plastikbechern auszuschenken.

In Wahrheit habe ich ohne groß nachzudenken unüberlegt gehandelt. Der Nachhilfe-Student kannte sich mit dem Jugendschutz wohl genauso wenig wie die Kassiererin aus, sonst hätte er seinen Zöglingen nie und nimmer den Verzehr von Rauschmitteln gestattet. Oder sich auf ein Becherchen eingeladen.

Es wurde eine der lustigsten Nachhilfestunden, die ich in meinem Leben gehabt habe.

Vor der darauffolgenden Stunde wartete Leander vor dem Gebäude auf mich. Es war für mich etwas befremdlich, dass er das weder spannend noch aufregend zu finden schien, sondern so wirkte, als ob er schon immer auf mich gewartet hätte. So, als ob das gar nichts Besonderes wäre – weil wir ja schon so lange so gute Freunde sind. Ich weiß noch, dass er zur Begrüßung: „Und, wie war dein Tag so?“ sagte – so, als ob wir ein altes Ehepaar wären. Keine Spur von Schüchternheit oder Unsicherheit. Im Gegensatz zu ihm war ich nervös und aufgeregt und fand die Tatsache an sich – ein JUNGE wartete auf MICH – extrem aufregend. Ich war total verunsichert, wie ich mich verhalten sollte, was von mir erwartet wurde, und hatte Angst, etwas falsch zu machen. In dieser Nachhilfestunde saß ich die ganze Zeit über meine Arbeit gebeugt mit rotem Kopf, während ich unauffällig versuchte, Leander zu beobachten. Von den Erklärungen der studentischen Mathehilfe bekam ich fast nichts mit, da es in meinem Kopf rauschte und ich in Gedanken unser Gespräch („Und, wie war dein Tag so?“ „Hmm, hmhm, hmn“) immer wieder durchkaute.

Nach der Stunde fragte er mich, ob ich Lust hätte, am nächsten Tag mit ihm ein Eis essen zu gehen – vormittags.

Wir haben dann die Schule geschwänzt und sind in ein Café in der Nähe des Rathauses gegangen – was ungünstig war, da dort bereits ein Lehrer von mir saß. Deshalb versuchte ich mich ganz klein zu machen und rutschte möglichst nahe an Leander, um mich hinter ihm zu verstecken.

Worüber wir uns unterhalten haben, weiß ich nicht mehr. Aber es war schön.

Irgendwann hat er mich wohl das erste Mal geküsst. Als Erster überhaupt.

Oder habe ich ihn geküsst? Seltsam, dass ich das nicht mehr weiß.

In meiner Erinnerung fließen alle möglichen Momente ineinander, ohne dass ich sie konkret erfassen und zuordnen kann. Wie ein roter Schleier zieht sich ein Film durch alle Erinnerungen: Leander, immer wieder Leander: wie er lacht, wie er philosophiert, wie er küsst.

Meine ganze Welt scheint sich plötzlich um ihn gedreht zu haben. Meine Freunde wurden seine und ich wurde fester Bestandteil seiner sich ständig ändernden Welt. Als Leanders Freundin fand ich mich auf einmal in einer Pantomime-Gruppe wieder, fing an, Bücher über Mahatma Gandhi zu lesen, und trug Kröten in Eimern über Straßen. Warum auch immer. Einmal haben wir zu zweit demonstriert und Unterschriften gegen die ungerechtfertigte Abholzung einer wunderschönen, gesunden Baumallee gesammelt. Eine sehr peinliche Geschichte, da Leander im Überschwang der Gefühle die ähnlich klingenden Namen zweier Straßen verwechselt hatte und wir die armen, über die Abholzung ihrer Straße uninformierten Anwohner in Angst und Schrecken versetzten mit unserer überraschenden Solidaritätserklärung.

Wir haben uns zwar über die mangelnde Teilnahme Gleichgesinnter gewundert, sind uns aber umso heldenhafter vorgekommen – zwei gegen den Rest der Welt. Unseren/seinen Fehler haben wir erst erkannt, als wir am nächsten Tag im „Nordbayerischen Kurier“ ein großes Bild mit ca. hundert Demonstranten in der richtigen Straße sahen.

Wir haben uns aber bei allen in „unserer“ Straße entschuldigt, was nicht immer einfach war. Nur wenige lachten und nicht alle begriffen, dass ihre Bäume doch sicher waren. (Ich mache bis heute einen großen Bogen um den Stadtteil.)

Über mein neues, leandergeprägtes „Ich“ habe ich meine alten Freunde stark vernachlässigt – was sich jetzt rächt. Damals ist es mir leider nicht aufgefallen.

Mein Freundeskreis bestand überwiegend aus Leuten, die ich seit dem Kindergarten oder spätestens der Grundschule kannte und die eher „bodenständig“ waren, sofern dieses Wort auf Jugendliche überhaupt anwendbar ist. Die sind jeden Freitag- und Samstagabend immer in die gleiche Diskothek gegangen, um sich im „Tanzpalast“ nachgesungene Hits älterer Coverbands anzuhören und „abzutanzen“. Alle verhielten sich vorhersehbar.

Leander war immer schon anders: flatterhafter, launischer, schwieriger, kränkender, aber auch offener, klüger, freier, mutiger, selbstbewusster, mitfühlender, humorvoller. Äußerlich trotz Kampfsport nicht unbedingt ein Mädchenschwarm.

Ich weiß noch, dass eine Freundin sich wunderte: „Der ist doch gar nicht dein Typ.“

Haben Frauen überhaupt „einen Typ“? Ich kenn das eher von Männern.

Bei meinen früheren Freundinnen habe ich tage-, teilweise sogar wochenlang mitgefiebert, wenn sie aufgeregt vom ersten Augenkontakt und stundenlangen Telefonaten mit ihrem jeweiligen Schwarm erzählten. Jeder mit dem Jungen gewechselte Satz wurde genauestens untersucht und gedeutet, in die kleinste Kleinigkeit gewaltige Bedeutung interpretiert. „Liebt er mich – liebt er mich nicht?“ – man hatte immer ein Thema, über das man sprechen konnte. Selbst, wenn es immer und immer wieder durchgehechelt wurde.

Ich stand nie wegen Leanders Blicken im Mittelpunkt – es war nie spannend oder ungewiss. Er hat nie mit einer meiner Freundinnen geflirtet oder einer anderen schöne Augen gemacht – deshalb musste ich nie verheult von den anderen getröstet und bemuttert werden, während meine Freundinnen Leander als „mieses Schwein“ beschimpften. Jahrelang habe ich das nicht vermisst, aber irgendwie fühle ich mich inzwischen doch um einen wichtigen Teil der Pubertät betrogen.

Braucht man die Erfahrung von Liebeskummer, um erwachsen zu werden?

Setzt das Auf- und Ab der Gefühle im menschlichen Gehirn Bereiche frei, die sonst verschlossen bleiben – ähnlich einem Computerspiel, bei dem das nächste Level nur erreicht werden kann, wenn bestimmte Prüfungen abgelegt wurden?

Leanders erster Kuss liegt jetzt schon so lange zurück.

Ich fühle mich unglaublich alt, wenn ich an früher denke.

Obwohl „früher“ gerade mal sechs Jahre her ist.

Leander hat sich in dieser Zeit geändert; äußerlich und auch in seinem Wesen.

Natürlich habe ich mich auch verändert, aber nicht im Dreimonatstakt.

Seine Haare sind schon lange nicht mehr lang und blau. Zurzeit sind sie kurz geschnitten, wuschelig und hellbraun getönt. Steht ihm gut; viel besser als dieses fettige Blau von früher. Meistens trägt er eng anliegende, schwarze Kleidung.

Statt Brille hat er jetzt Kontaktlinsen, leider auch farbige in Neongrün oder Knallblau. Die grässlichen „Tigeraugen“ in Gelb mit seltsamen, an Ziegen erinnernden, schwarzen Schrägbalken über der Pupille hat er zum Glück verloren.

(Eigentlich habe ich sie im Abfluss des Waschbeckens runtergespült, aber das weiß er nicht.)

Er achtet sehr auf „gesunde Bräune“, die völlig ungesund im Solarium entsteht und vermutlich in den kommenden Jahren Hautkrebs bei ihm auslösen wird.

Er geht regelmäßig ins Fitnessstudio (daher auch der Hang zu enger Kleidung. Was bringt der schönste Körper, wenn ihn keiner sieht).

Vor einiger Zeit lernte er zufällig jemanden kennen, der „junge, interessante, unverbrauchte Gesichter“ suchte für Werbesendungen im Würzburger Lokalfernsehen „TV Touring“.

Leander hat einen Job ergattert und darf jetzt für einen Hundesalon werben. Er mag zwar eigentlich keine Hunde, sondern ist Katzenfreund, aber wegen der relativ guten Bezahlung überwindet er sich und krault vor laufender Kamera begeistert einen frisch geschorenen Pudel, der ihm freudig ins Gesicht hechelt. Wer Leander kennt, sieht, dass der Pudel unter starkem Mundgeruch leidet. (Leander leidet, dem Pudel ist der Geruch eigentlich egal.)

Seine (momentane) große Leidenschaft ist die Malerei. Er ist sogar relativ erfolgreich und hatte schon eigene kleine Ausstellungen.

Leider lernt er nicht dazu: Aufgrund vieler Interessen findet er kaum Zeit für sein Studium. Er trägt zwar keine suizidgefährdeten Amphibien mehr über Straßen und hat sich erfreulicherweise auch von der gruseligen Pantomime abgewandt, aber er spielt im „Theater Chambinzky“ und engagiert sich im „Museum im Kulturspeicher“.

Würzburg, 5. Mai

Leander und ich haben uns heute am Frankonia-Brunnen vor der Residenz verabredet. Dort sind wir eine halbe Stunde rumgehangen und haben den vielen fotografierenden Touristen zugeschaut. Leander hat versucht, sich bei Gruppenfotos einzuschmuggeln, wurde aber meistens bemerkt und verscheucht.

Der Platz mit dem Schloss wirkt ein bisschen wie eine Filmkulisse, weil er keinen Bezug zur Stadt hat. Die Hofstraße wurde zwar in der Barockzeit extra so angelegt, dass sie direkt auf das Gebäude hinführt, aber heute ist sie eine viel zu unwichtige Straße, um als „Wegweiser“ wahrgenommen zu werden.

Die große „Balthasar-Neumann-Promenade“, an der wegen des ständigen Verkehrsstromes niemand promeniert, lässt Neumanns Meisterwerk achtlos links bzw. rechts liegen.

Viele Würzburger nehmen die Residenz, die wirklich eines der schönsten Gebäude bayernweit ist, kaum wahr, sondern interessieren sich nur für die Parkplätze davor, weil man von dort aus schnell zu Fuß in die Würzburger Innenstadt laufen kann.

Leander ist im Brunnenbecken herumgewatet, um die Münzen herauszufischen, die abergläubische Touristen hineingeworfen haben, um „Glück“ zu haben.

Als ich ihn getadelt habe, weil die Menschen jetzt wegen ihm kein Glück mehr hätten, hat er gemeint : „Glück ist, so viel Geld zu haben, dass man es wegwerfen kann!“ Es ist seltsam, dass sich in unserer aufgeklärten, rationalen Welt überflüssige Bräuche mit solcher Hartnäckigkeit halten. Ich habe gelesen, dass dieser Brauch von dem Glauben kommt, man müsse die Brunnengeister bestechen, damit das lebensnotwendige Wasser immer sprudelt. Daran glaubt heutzutage natürlich niemand mehr, und dass sich die Qualität des Wassers durch eingeworfenes Kleingeld eher verschlechtert als verbessert, ist allen klar.

 

Und trotzdem werfen Menschen unterschiedlicher Nationen und jeden Alters seit Jahrhunderten Tag für Tag Geld in Brunnen überall auf der Welt.

Leider opfert niemand einen nennenswerten Betrag – gäbe es doch Brunnengeister, würden sie vor Empörung über den Geiz der Menschen das Wasser vermutlich abstellen. Vom Ertrag wollte Leander mich eigentlich in der nahen Eisdiele auf einen „Schlumpfbescher schpezial“ mit Sahne und Streusel einladen. Der von Leander zutage geförderte Gesamtbetrag langte aber nur für eine Kugel Eis und selbst die bekamen wir nur nach längeren Diskussionen, weil der Eisverkäufer die grün gewordenen Centmünzen nicht nehmen wollte. „Pecunia non olet“, hielt Leander dagegen, „Geld stinkt nicht.“

Die leicht nervende, belehrende Art hat Leander immer noch. Um nicht die siffigen 1-Cent-Münzen nehmen zu müssen, die ihm angeblich Ärger mit dem Gesundheitsamt eingebracht hätten, und um schleunigst an das saubere, glänzende Geld der hinter uns wartenden Schlange zu gelangen, erließ uns der Verkäufer zwanzig Cent und gab uns eine Kugel grün-blaues Schlumpfeis. Es hatte die gleiche Farbe wie die abgelehnten Münzen und schaffte es, gleichzeitig nach nichts und nach „künstlich“ zu schmecken. Wir teilten es, um das Krebsrisiko für den Einzelnen (mich) zu halbieren.

Weil es ein schöner, sonniger Tag war, sind wir in den Hofgarten neben der Residenz geschlendert.

Erst zu den kegelförmigen Eiben, die rund um das Wasserbecken mit dem großen Felsen stehen. Unter den barock in Form geschnittenen Bäumen sind Steinfiguren versteckt. Pan lässt sich anhand der Panflöte identifizieren. Die vier Jahreszeiten auf der gegenüberliegenden

Seite sind durcheinander aufgestellt – der Herbst befindet sich vor dem Frühling und nicht zwischen Sommer und Winter, wo er stehen sollte.

Die beiden großen Steinfiguren-Gruppen stellen den Raub der Europa und den Raub der Persephone dar. Eigentlich merkwürdig, dass der Würzburger Fürstbischof in seinem Garten gleich zwei Szenen verewigt wissen wollte, bei denen Männer Frauen gewaltsam erobern: Zeus hat ja sogar die Ehe gebrochen, als er in Stiergestalt die Europa entführt hat. Ich finde, psychologisch gesehen wäre es sehr interessant, die Gründe zu entschlüsseln, warum sich ein katholischer Priester frauenfeindliche Gewaltszenen in den Garten setzt.

Leander meint, dass ich das falsch sehe und es nur drum ging, die Bildung der barocken Herrscher zu demonstrieren.

Die Orangerie hinter der Persephonegruppe ist auf dieser Seite unfertig – nur eine schäbige Ziegelsteinmauer. Die andere, südliche Seite hat große, bogenförmige Fenster und passt nicht zu der Rückseite. Wo früher die kälteempfindlichen Pflanzen überwinterten, sind heute die Originalsteinfiguren aus den Würzburger Schlossverwaltungsgärten. Manchmal, wie auch in dieser Woche, finden in der Orangerie Kunstausstellungen statt. Mein Interesse galt aber mehr den Toiletten neben der Orangerie. Leider stand am „STILLEN (!) Örtchen“ bereits eine unglaublich laut schwätzende Gruppe älterer Damen aus Schwaben Schlange. Der Gruppe waren Hemmungen unbekannt – fern vom Schwabenländle schaffe es schwäbisch schwätzende Schwäble mehr zu schwätze als gierig gackernde Gänsle. Oberflächlichste Konversation mit vielen, sogar anzüglichen ! Witzen und weit mehr Gelächter als Witz. Sehr irritierend war, dass diejenigen, die eigentlich schnell schweigend pinkeln sollten, vom Klo aus mitschwäbelten. Waren die Toilettenschwätzerinnen nach einer gefühlten Ewigkeit fertig, hörte man die Spülung, die Tür ging auf und die nächsten Damen gingen rein. Fliegender Wechsel – ohne das Gespräch auch nur für eine Sekunde zu unterbrechen. Die Damen sangen anscheinend in einem Gesangsverein. Als, leicht gedämpft, hinter der Klotür die musikalische Frage erklang: „Was kann der Siegesmund dafür, dass er so schön ist“, konnten alle sofort wie aus einer Kehle die richtige Antwort schmettern: „Was kann der Siegesmund, der Siegesmund dafür.“ Als ich endlich, in plötzlicher Stille nach dem Weiterzug der Sangesschwestern, meine inzwischen schmerzhaft gefüllte Blase leeren konnte, grölte Leander vor meiner Tür : „Hier kommt die Flut.“

An einer Stelle des breiten, geraden Weges, der oberhalb der Orangerie beginnt, haben wir uns im Schatten eng nebeneinander vor die Mauer ins Gras gelegt.

Eigentlich sehr romantisch. Sonne schien, Vögel sangen, Bienen summten.

Ameisen krabbelten, anderes Getier auch.

Leander ist eingeschlafen.

Ich hätte schon aus Angst, zu schnarchen oder andere peinliche Geräusche von mir zu geben, nicht in der Öffentlichkeit schlafen können.

Da ich ja nicht das erste Mal mit Leander verabredet war, hatte ich vorsorglich ein Buch eingepackt und habe nun etwas gelesen.

Nach seinem Nickerchen wollte Leander unbedingt in der Orangerie die Bilder eines zeitgenössischen Würzburger Künstlers anschauen, der momentan dort ausstellt. Der

Künstler selbst war leider auch da und nur zu gerne bereit, über seine Werke zu plaudern.

Leander und er unterhielten sich endlos lange, während ich, gelangweilt und extrem schlecht gelaunt, vor orangeroten Strichen auf gelbem Untergrund stand.

Leander lud den Strichmaler in meinem Beisein zu seiner eigenen Vernissage ein, die nächste Woche „in einem großen Würzburger Museum“ stattfinden werde.

Und von der ich eigentlich gehofft hatte, ich könnte mein Fernbleiben damit erklären, dass ich sie vergessen hätte.

Leander hat schon mit siebzehn Jahren Bilder auf kleinen Vernissagen diverser Künstlervereinigungen in Bayreuth ausgestellt, da diese ganz gerne „junge Talente“ fördern. Ich war bei einer davon dabei; dies allerdings mehrmals, da diese eine Vernissage immer und immer wiederholt wurde. Wie in dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Es waren immer die gleichen Leute, die immer das Gleiche sagen. Und immer die gleichen Bilder. Eine Lemniskate der Kunst.

Im Film sehr lustig, im eigenen Leben alptraumhaft.

Dass ich Leander immer treu zu seiner ewig währenden Vernissage begleitet habe, halte ich für den höchsten Liebesbeweis.

Samstag, 6. Mai

Irgendwie fühle ich mich seit einiger Zeit schon innerlich leer.

Das sieht seltsam aus, wenn man es so aufschreibt, aber es stimmt. Ich habe keine echte Lebensfreude mehr in mir, ich bin eigentlich nie richtig glücklich.

Dabei geht es mir so gut; mir fehlt nichts!

Um mir das vor Augen zu führen, habe ich eine Liste angefertigt, auf der in einer Spalte alle Dinge stehen, die gut sind in meinem Leben, und in einer weiteren alle schlechten.

Auf der guten Seite steht: fester Freund Leander, Gesundheit, tolle Eltern und eine tolle Ausbildung zu einem interessanten Beruf mit unbegrenzten Möglichkeiten.

Die schlechte Seite ist leer, weil ich die Dinge, die ich ehrlicherweise auflisten müsste, unmöglich auf diese Seite schreiben kann, da das Jammern auf sehr hohem Niveau wäre. Mir ist bewusst, dass andere Menschen wirkliche Probleme haben und ich froh und dankbar sein sollte. („Denk an die hungernden Kinder in Afrika!“, hat eine Kindergärtnerin früher immer gesagt, wenn die Pausenbrot-Banane widerliche braune Druckstellen hatte, „die wären froh, wenn sie eine Banane hätten!“) (Was natürlich nichts daran änderte, dass die Banane matschig war.)

(Eine jahrelange (ewige), eingefahrene Beziehung mit Leander, Pickel und Orangenhaut, vermutlich unerträglich enttäuschte Eltern und eine furchtbare, frustrierende, finanziell unzumutbare, überfordernde Ausbildung zu einem langweiligen Beruf mit sehr eingeschränkten Möglichkeiten.)

Eigentlich geht es mir sehr gut.