Herr Oluf in Hunsum

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„Ich“, sagst du und seufzt tief, „ich bin’s, Oluf. Jasper ist auf Klassenfahrt. Er muss heute Nachmittag am Bahnhof abgeholt werden.“ Wie? Scharf nachdenken! Miriam weiß ja nicht, dass du einen Wagen gemietet hast. Unfassbar, dass keine einzige SMS gesendet wurde! Bockiges Handy, denkst du, unfähiger Benutzer oder eine Kombination aus beidem. Du hast sie so satt, diese fest im System verankerte Abhängigkeit des Konsumenten von technischen Gerätschaften, die niemals das tun, was sie tun sollen, nämlich funktionieren. Miriam, wird dir bewusst, hat nun schon seit Stunden nichts von dir gehört. Sie kann ja nicht riechen, dass du ihr wie ein Dussel Nachricht um Nachricht geschickt hast! Wieso ruft sie nicht an? Macht sie sich keine Sorgen? Du könntest dich doch bisher nicht zu Hause gemeldet haben, weil du einen Unfall gehabt hast. Oder interessiert sie das nicht, weil ihr Ärger darüber, dass du gefahren bist, so groß ist? Oder kann sie gar nichts mehr tun, weil sie längst neben dem Baby im Bett verwest?

Nach einem trockenen Schlucken: „Geh zum Arzt! Nimm das Auto! Oder falls du es nicht findest, äh, das Auto nicht findest oder den Schlüssel nicht findest, den Autoschlüssel, meine ich, Schale, Flur, da müsste er liegen … da liegt er immer … Nimm den Bus! Oder ein Taxi. Spielt keine Rolle. Und denk bitte an Jasper! Und ruf mich mal zurück! Bald bitte. Irgendwie spinnt mein Handy. Ich habe dir schon vor Stunden einige Nachrichten geschrieben. Ehrlich. Der Zettel, genau, der Zettel hängt am Kühlschrank. Auf dem draufsteht, wann Jasper am Bahnhof abgeholt werden muss. Der Schlüssel … Autoschlüssel … Schale im Flur … ich, äh, ich …“ Dir kommt ein grässlicher Verdacht: Sendet dein Handy keine SMS mehr, weil es total im Eimer ist, und zeichnet der Anrufbeantworter statt deines Gestammels womöglich nur knisternde Stille auf? „Ich bin … unterwegs und habe die Befürchtung, dass mein Handy kaputt ist. Rufst du mich bitte zurück?“ Blödsinn! Wieso sollte sie dich zurückrufen, wenn sie nicht weiß, dass du sie unentwegt zu erreichen versuchst? Kann sie sich, fragst du dich, das nicht denken? Oder bist du ihr inzwischen schnurz? Für Heidegger ist das Sein des Daseins identisch mit Sorge. „Bitte ruf mich kurz an, auch wenn du sauer auf mich bist! Ich möchte bloß wissen, wie es euch geht.“

Vielleicht liegen sie beide auf der Intensivstation. Mit Schläuchen gespickt. An zischende Maschinen angeschlossen. Und hat Jasper überhaupt seinen Schlüssel mit? Wieso (diese Frage stellst du dir überraschend spät) bin ich Idiot nicht mit dem Zug gefahren? Schlüssel, fehlende: Einmal bist du von der Arbeit nach Hause gekommen und die ganze Familie hat im Vorgarten auf dich gewartet – mit Gesichtern wie Chaplin in Goldrausch, wenn er vergegenwärtigt, dass die Gäste nicht zu spät, sondern gar nicht kommen, doch bei ihm gibt es dann den Brötchentanz, diesen tapferen und dennoch erschütternd bitteren Triumph über das Sein des Daseins, die Sorge.

So – oder zumindest ähnlich – muss es sich anfühlen, wenn man den Verstand verliert: Du merkst, dass du schon seit geraumer Zeit hinter dem Wagen stehst und in den geöffneten Kofferraum starrst. Kaffee, denkst du. Großer Becher Kaffee. Jetzt sofort! Schilder an der Decke, bildungsferne Schichten unterwegs, in Vierrerreihen am Eiffelturm vorbei, doch kein Barbapapa im Glaskasten, sondern gar kein Glaskasten, aber stattdessen ein Spielautomat mit rotierenden Früchten in Dreierreihen. Idee! Du zückst das Handy, kommst mühelos ins Internet, erst zu Google, dann zu deinem Mailportal. Erleichtert gibst du deine Mailadresse ein, das Passwort, drückst optimistisch auf Weiter, doch es geht nicht weiter.

Wichtige Mitteilung, liest du. Zum besseren Schutz Ihres Kontos geben Sie bitte nochmals Ihr Passwort ein, und geben Sie dann die Zeichen ein, die in der Abbildung unten gezeigt werden.

Besagte Abbildung zeigt oder ist eine irrwitzige Kombination aus Zahlen und Buchstaben: 86f2b7. Bis auf die Ziffer 7 ist alles mit einer Krakellinie durchgestrichen, die wie ein Riss auf dem Display aussieht. Unter der so genannten Abbildung gibt es ein klar formuliertes Angebot und eines, das eher eine Frage ist: Anderes Bild anzeigen und Probleme oder unleserliches Bild? Keine Probleme, entscheidest du; die Kombination aus Zahlen und Buchstaben ist keineswegs unleserlich, obwohl sie durchgestrichen ist, ganz abgesehen davon, dass ein Bild nicht unleserlich sein kann, sondern nur das, was es abbildet, wenn denn 86f2b7 überhaupt als „Bild“ oder „Abbildung“ tituliert werden darf. Korrekt, ärgerst du dich, wäre hier die Bezeichnung „Captcha“, ein in diesem Fall textbasierter Voight-Kampff-Test, mit dessen Bestehen du dein Menschsein beweisen musst, um zweifelsfrei klarzustellen, kein feindseliges Programm zu sein.

Leider bist du wieder einmal abhängig von Leuten, die kein Sprachgefühl haben und vermutlich nicht ansatzweise geradeaus denken können. Und weil diese Leute weder präzises Deutsch noch kausales Denken beherrschen, ist gänzlich unklar, was sie von dir erwarten. Wollen sie (die Irren), dass du (ein Mensch) nur eine 7 eingibst (der Rest ist durchgestrichen), oder erwarten sie (die Irren), dass du (ein Mensch) alles eingibst, weil der Strich ein reines Täuschungsmanöver ist, um Roboter (oder wie die Irren sagen würden: „Bots“) auszuknocken, die nichts Durchgestrichenes als „Bild“ erkennen können? Was würde denn so ein Bot denken, wenn man ihm La persistencia de la memoria vorsetzte und beiläufig fragte: Wie viele Uhren erkennen Sie auf der Abbildung?

Du denkst kurz nach und tippst, nachdem du das Passwort eingegeben hast, kurzentschlossen 86f2b7 ein. Danach versuchst du dich erneut anzumelden und liest: Ein Problem ist aufgetreten. Geben Sie Ihr Passwort ein.

Du leistest dem Befehl Folge und sofort purzeln die bekannten Worte in die Manege wie aus einem Clown Car: Wichtige Mitteilung. Zum besseren Schutz Ihres Kontos geben Sie bitte nochmals Ihr Passwort ein, und geben Sie dann die Zeichen ein, die in der Abbildung unten gezeigt werden. Irrerweise ist es dieselbe Kombination wie eben. Dieses Mal probierst du es nur mit der 7, erfolglos, danach probierst du es mit allem außer der 7, erfolglos, und dann kommen die echten Bilder: Auf welchem dieser Fotos sehen Sie Autos?

Es handelt sich jedoch um keine Fotografien im eigentlichen Sinne, sondern um sechs quadratische Fotoausschnitte, die, in zwei übereinanderliegenden Dreierreihen angeordnet, ein einziges großes Foto ergeben, vergleichbar einer Straßenansicht in sechs Panels aus einem Comic der 1950er Jahre. Auf dem ersten Panel ist der Teil eines Autos zu sehen (Heck), auf dem zweiten und dritten ein Omnibus; nur auf dem vierten sieht man ein parkendes Auto – also ein komplettes Auto? Was ist nun richtig? Gilt der Teil eines Autos als Auto? Gilt nur ein komplettes Auto als Auto?

Du liest dir die Frage noch einmal gründlich durch. Auf welchem dieser Fotos sehen Sie Autos? Gilt ein Omnibus als Auto? Nein. Natürlich nicht. Aber ist ein Omnibus für die Entwickler der Aufgabe (die Irren) ein Auto? Verwenden sie den Begriff „Auto“ synonym zum Begriff „Fahrzeug“? Bist du zu schlau für diesen Idiotentest? Bist du eine Maschine?

Langsam … nicht aufregen … nachdenken … Wie würde der sprichwörtliche „Mann von der Straße“ diese Aufgabe lösen? Der würde sich wohl kaum damit aufhalten, dass ein Teil eines Autos kaum als Auto bezeichnet werden kann, und zum anderen würde er einen Bus als Auto bezeichnen (fährt auf der Straße), also setzt du Häkchen auf vier der sechs Fotos. Natürlich ist das falsch. Aber wieso, wieso?

Sofort erscheint ein neues Bildergefüge, eine ähnliche Straßenansicht wie eben in sechs quadratischen Panels. Und wieder wirst du von den Irren gefragt: Auf welchem dieser Fotos sehen Sie Autos? Zum Glück ist diesmal kein Omnibus im Spiel. Allerdings ein Lkw. Auf dem vierten und fünften Panel siehst du – uff, das ist leicht! – ein am Straßenrand parkendes komplettes Auto. Zu leicht? Eine Falle? Der parkende Wagen hat ein erkennbares Nummernschild, ist also kein stillgelegtes Auto? Obwohl auch ein stillgelegtes Auto immer noch ein Auto ist. Oder etwa nicht?

Trotz deiner Bedenken setzt du Häkchen bei den Fotoausschnitten 4 und 5 und auch, ohne groß nachzudenken, bei 6, dem Ausschnitt, wo das Heck eines fahrenden Autos zu sehen ist, kannst dich aber danach lange nicht entscheiden, ob der Lkw auf dem ersten Panel … natürlich gilt der als Auto (fährt auf der Straße) … wer entwickelt solche idiotischen … du setzt grunzend ein Häkchen auf dem ersten Panel, ach, verflucht noch eins, ich hätte es besser wissen sollen! Zum besseren Schutz Ihres Kontos geben Sie bitte nochmals Ihr Passwort ein, und geben Sie dann die Zeichen ein, die in der Abbildung unten gezeigt werden. Diesmal ist die Zahlen-und-Buchstaben-Kombination verzerrt wie der Schriftzug auf dem Cover eines psychodelischen Rockalbums. Skeptisch tippst du auf Probleme oder unleserliches Bild?, doch das, was nun folgt, scheint einem außerirdischen Grimoire entnommen. Erneut tippst du auf Probleme oder unleserliches Bild und es öffnen sich knarzend die Pforten der Hölle und auf steigt aus dem Abgrund die Alogik, die Allpein und die massive Backsteinwand, die sich stets dem Denkenden ins Gesicht wirft, der mehr will, als er darf oder kann oder als SIE ihn können lassen wollen oder dürfen. Lovecraft, den du gerne den „wahren und einzigen Houllebecq“ nennst, um deine Gesprächspartner zu ärgern, versucht in seinen besseren Texten etwas heraufzubeschwören, das er den „kosmischen Schrecken“ nennt, doch die massive Backsteinwand ist ein rein irdischer Schrecken, ein unangenehm banaler zudem, eine Arschbombe ins Gesicht jedweder denkender Kreatur (Ebene 1), die in der Lage ist, über ihr Denken nachzudenken (Ebene 2) – und auch darüber (Ebene 3) nachzudenken vermag. Et voilà – schon wird es kosmisch: Ebene 4.

 

Den Straßenansichten, bei denen du Fotoausschnitte, die Autos zeigen, mit Häkchen hast versehen müssen, folgen „Lebewesen im Wald“ (Problem: der Steinpilz), dann „Nudelgerichte“ (Problem: die Gnocchi) – nach einer halben Stunde gibst du auf. Lösung: Es ist keine einzige Uhr auf dem Scheißbild zu sehen! Was tun?, fragst du dich, während du mit dem Jackenzipfel die Rillenmuster fettiger Fingerabdrücke vom Display des ausgeschalteten Handys wischst. Du wirst sie vom Hotel aus anrufen, beschließt du. Dir bleibt nichts anderes übrig! Unter T könnte man im Klassenfahrt-ABC „Tadel“ anführen, unter S „Shampoo vergessen“ oder „Salmonellen“ (dies nur für die „Menschen von der Straße“, für alle anderen, die so wie du sind: „Selbstverlust“). Muss an dieser Stelle betont werden, dass es keinen qualitativen Unterschied zwischen Klassenfahrten … geschenkt! Und weiter geht es mit dem Mietwagen gen Norden.

Ehrlich gesagt hast du dich auf die Langstreckenfahrt gefreut (auch auf die ungestörte Nacht im Hotel). Im Alltag fährst du selten Auto, nimmst meist das Rad zur Uni oder, falls es regnet, den Bus. Und schon wieder lullt dich die Geschwindigkeit ein, Böschungen schmieren links und rechts an dir vorbei, Lärmschutzwände, flechtenbewachsen oder mit Flechtenmotiven bemalt, doch zunehmend querst du flaches Land, Felder, Weiden. Daher richtet sich dein Augenmerk in zunehmendem Maß auf den Palimpsest des Straßenbelags: Da gibt es helle Flächen, da gibt es dunkle Flächen, da gibt es ausgebesserte Stellen, etwa diese schwarz glänzende Narbe auf dem sommergrauen Asphalt, die dich fast einen halben Kilometer in hypnotisch bedächtiger Schlängelbewegung begleitet. Braune Schilder weisen auf Sehenswürdigkeiten hin, die wie ausgedacht anmuten. Das hat es früher nicht gegeben. Aber sehr wohl die überfahrenen Igel und Marder am Straßenrand sowie die rot-weiß geringelten Windhosen vor den Brücken. „Unsichtbaren Elefant gefangen. Haben ihn angeleint, Herr General, und Rüssel rot-weiß geringelt angemalt!“ – einer von Vaters wenigen, dafür bis zum Erbrechen überstrapazierten Witzen. Dazu Boney M. aus dem Kassettenrekorder: She was the meanest cat / In old Chicago town. / The speedometer / Bannt digital den Raum. Zum vierten Mal überholst du denselben Viehtransporter: Ist dies das Tao der Autobahn? Wo hat sie überhaupt Fieber gemessen? Sie misst immer im Mund. Da muss man 0,4 Grad draufschlagen! Und so, im Geiste die Hände erhoben, fährst du weiter dem Kongress entgegen: Freeze, I'm Ma Baker, / Put your hands in the air.

Wider besseres Wissen bleibst du nach dem Elbtunnel auf der A 7. Das liegt dir, einem ungeübten Langstreckenfahrer, mehr, als hinter Hamburg auf die A 23 zu wechseln. Und so fährst du weiter gen Norden, nach Hunsum, dem Kongress entgegen, put your hands in the air. Schließlich verlässt du die Autobahn bei einem Ort namens Schleswig-Schuby, was unangenehm kindertümelnd klingt und Erinnerungen an Hui Buh, das Schlossgespenst, weckt, und fährst auf der B 201 weiter, langsamer als zuvor. Das Land ist weit und flach und überwölbt von einer prachtvoll blauen Himmelskuppel.

Hunsum ist wie Husum, beziehungsweise exakt so, wie du dir Husum vorgestellt hast: pittoresk, doch zugleich elend kleinstädtisch. Im Binnenhafen liegen einige malerische Kutter zu, argwöhnst du, Dekorationszwecken, Möwen, Lastkräne als Kulisse, Möwen, die Tische der Restaurants sind vollbesetzt, aus den Fenstern der Garküchen strömen zwieblige Butterdünste hinein in die gepflasterten, ärgerlich steilen Seitenstraßen, Möwen, die Speichergebäude prahlen mit Treppengiebeln, zwischen zwei Pflastersteinen klemmt ein geschälter Krabbenschwanz, groß wie der kleine Finger eines Babys, wohl vom Brötchen gefallen, eine Möwe schnappt ihn sich, die ganze Innenstadt ist voller Touristen („Touris“ denkst du und schämst dich vor dir selbst) und Möwen, ganz Hunsum ist voller Möwen: Sie hocken auf den Bänken, den Dächern, den Ampeln, du magst sie nicht, die Möwen, weil sie alles verlachen und von oben jeden, der nicht damit rechnet, mit ihrer ätzenden Kacke bombardieren. So zornig wie gestern hast du Miriam nie zuvor erlebt. Halt, das stimmt nicht! Kürzlich ist sie ähnlich pissig gewesen: Wegen dieser bescheuerten Gartenparty.

„Ich habe nichts gegen eine Gartenparty“, hast du gesagt.

„Es wird aber keine alltägliche Gartenparty.“

„Auch damit habe ich keine Probleme. Werden Clowns auftreten?“

„Bleib bitte ernst, Oluf! Die Sache ist mir wichtig. Sehr wichtig. Ich will zu der Party, und deshalb ist es eine besondere Gartenparty, all die Leute einladen, mit denen wir tagtäglich zu tun haben.“

Du bekommst es mit der Angst zu tun und fragst: „Welche Leute meinst du?“

„Deine Friseuse zum Beispiel, meinen Friseur. Den netten Metzger von EXPLUS. Den Gemüsemann vom Markt, der dem Baby immer eine Banane schenken will, aber das Baby darf ja noch keine.“ Sie lacht und du weißt nicht so recht, weshalb sie lacht, willst es auch gar nicht so genau wissen, denn nun hast du keine Angst mehr, sondern die Panik beginnt bereits zu flöten. „Den Briefträger“, fährt sie fort, „will ich auch einladen und den Mann vom Hermes-Versand. Aber ich will auch Leute einladen, die auf den ersten Blick nicht so nett sind, aber mit denen wir Tag für Tag etwas zu tun haben. Den Mann am Postschalter zum Beispiel. Oder die Frau im Bioladen mit der Schuppenflechte. Und auch die Gründlinger von nebenan. Oder die Scheukels mit ihrem Agro-Hund. Verstehst du? Mir kommt alles absurd vor. Wir haben so viel mit diesen Leuten zu tun – es wäre doch nur rechtens, sie alle einzuladen, um sie richtig kennenzulernen.“

„Kennenzulernen? Der Köter der Scheukels gehört totgespritzt!“

„Du verstehst mich nicht!“

„Ich fürchte, dass ich dich nur zu gut verstehe.“

„Du bist immer so verkrampft!“

„Nein, das hat mit Verkrampftheit nichts zu tun“, hast du gesagt und dabei überlegt, wie weit du in der Bewertung ihres Plans gehen darfst. Nicht weit genug, aber so weit, dass sie versteht … Du hast ihr die Party schließlich ausgeredet, aber zu welchem Preis? Tränen, Vorwürfe, drei Tage kaltes Abendessen … Hätte sie die verfickte Party doch feiern sollen …

Was wirst du tun, wenn sie beide gestorben sind? Jasper wird dir das nie verzeihen. Du siehst dich in langen Gesprächen mit ihm in der stillen Wohnung. Dann werden die Babysachen in Kisten gepackt und der Wickeltisch abgebaut und im Keller endgelagert. Miriams Kleiderschrank wird ausgeräumt und der Inhalt zum Sozialladen gekarrt. Weiterhin gehst du brav zur Arbeit, vögelst ab und zu mit Fräulein Kloppel, streitest zu Hause mit Jasper, bis er mit achtzehn auszieht, und dann? Das Haus ist nicht einmal zur Hälfte abbezahlt! Und die Kloppel sieht zwar ganz gut aus für ihr Alter, ist aber eine entsetzliche Nervensäge. Vielleicht will sie ja gar nicht mit dir vögeln? Und doch, denkst du, habe ich fahren müssen.

Mir blieb keine Wahl!

Erneut zückst du das Handy: Wieder keine SMS von Miriam.

Du rufst den heimischen Anrufbeantworter an und stammelst Entschuldigungen. Danach probierst du aus, ob mit deinem kaputten Handy überhaupt Anrufe möglich sind.

Weil du blöd bist, wählst du die Nummer des Institut-Sekretariats.

Frau Schirra-Wiedemann meldet sich, die dumme Sau.

„Hallo, Frau Schirra-Wiedemann, hören Sie mich?“

„Natürlich.“ Und dann heimtückisch: „Von wo rufen Sie an?“

„Aus Hunsum. Ich wollte nur …“

Entgeistert: „Von wo rufen Sie an?“

„Ich wollte nur …“

Lauernd: „Ja? Von wo rufen Sie an?“

„Hunsum“, sagst du. „Nichts von Belang. Es ist alles in bester Ordnung. Geben Sie mir nur noch mal schnell die Adresse des Hotels durch …“

Sie tut es, du machst dir Notizen, unterbrichst die Verbindung.

Telefonieren klappt noch. Das ist gut. Deine Nachrichten sind demnach auf dem Anrufbeantworter. Und wieso meldet Miriam sich nicht? Zurückfahren ist keine Option. Götzloff würde dich schlachten. Ich stehe das jetzt durch, nimmst du dir vor, du hast schon Schlimmeres bewältigt.

In der Nähe des Parkhauses, wo der Mietwagen steht, kaufst du in einer Apotheke Schmerztabletten und fragst unter Zuhilfenahme deiner Notizen nach dem Hotel.

Man lacht dir dreist ins Gesicht.

„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragst du.

Der Apotheker, ein bis zum roten Haarschopf an Beaker aus der Muppet Show erinnernder Mittdreißiger, beschwichtigt deinen Zorn mit einer dämpfenden Handbewegung. „Entschuldigen Sie, dass ich lachen musste, aber Sie sind heute nicht der Erste, der nach diesem Hotel fragt. Eigentlich fragt alle paar Tage jemand danach. Das liegt vermutlich daran, dass die Apotheke neben dem Parkhaus liegt. Aber heute geht fast halbstündlich – dingdong! – die Tür auf und jemand ist völlig verkehrt hier.“

„Zeichnen Sie mir den Weg auf?“

„Das mache ich immer, aber bei jemandem, der die Höflichkeit besitzt, vor seiner Frage etwas käuflich zu erwerben, wird der Plan ausnahmsweise mal stimmen.“ Lachend nimmt Beaker Block und Stift aus der Kitteltasche und beginnt, die Zungenspitze zuckend im Mundwinkel, zu zeichnen. Während er dies akribisch tut, von gelegentlichem Aufkichern unterbrochen, presst du eine Tablette aus dem Blisterstreifen und schluckst sie trocken.

Das Land ist plan, fast schon konkav wie eine flache Schale. Dunkelgrüne, saftstrotzende Felder, in Grüppchen herumstehende Windkraftanlagen mit Dreiblattrotoren auf unten fingerfarbengrün gestrichenen, gen Himmel hin nadelspitz zulaufenden Betontürmen, wenige reetgedeckte Häuser, ein Campingplatz. Natürlich befindet sich das Hotel nicht in der Innenstadt, sondern weit außerhalb, ein alleinstehender, mehrstöckiger Klotz am Deich, einem grasbewachsenen Bollwerk, wo schläfrige Schafe weiden. Du parkst auf mit den Zähnen knirschendem Kies. Das Hotel sieht aus wie alle Tagungshotels, ähnelt aber besonders diesem einen in Bad Raubach, wo Götzloff auf dich aufmerksam geworden ist. Vermutlich gibt es in ganz Deutschland nur einen Architekten, den man diese Hotels bauen lässt, beziehungsweise einer hat damit angefangen und nun bauen es alle nach: Denn nur ein Tagungshotel, das wie ein Tagungshotel aussieht, ist ein echtes Tagungshotel. Du nimmst Tasche und Rede vom Beifahrersitz.

Draußen riecht es nach Nordsee, im Foyer nach alten Polstermöbeln und Holzpolitur. Du stellst dich an eine für Hünen gefertigte Rezeption, schlägst mit der flachen Hand zweimal kurz hintereinander auf die verchromte Tischklingel. Sofort setzt im Raum hinter dem Tresen ein geschäftiges Wursteln ein, dann erscheint der Portier, nicht in Uniform, sondern angetan mit einer tiefsitzenden Hüftschürze und einem Schälmesser in der Hand. Er erinnert dich an einen prominenten Fernsehkoch: Schüttere, hellblonde Augenbrauen wie ein Mastschwein und bläulich-violett geäderte Wangen, die wie ausgestopft wirken. „Moin“, sagt er und versteht es, den Gruß wie eine Mischung aus Drohung und ungläubiger Frage klingen zu lassen.

„Moin“, antwortest du fröhlich, ein kleiner Westentaschenmalinowski.

Der Portier legt das Schälmesser beiseite und zieht erwartungsvoll einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seines blau-weiß gestreiften Hemdes. „Herzlich willkommen!“, sagt er geschäftsmäßig. „Wie war die Fahrt?“

„Danke, gut.“

„Hat Sie der Apotheker zum Mond geschickt?“

„Nein, alles bestens, da gibt es wohl einen Trick.“

„Einen Trick?“

„Ich habe Schmerztabletten bei ihm gekauft.“

„Aha?“

„Wenn man nichts bei ihm kauft …“

„Haben Sie reserviert?“, unterbricht dich der Portier.

„Nicht ich, aber für mich ist reserviert.“

„Und Sie sind?“

Indigniert nennst du deinen Titel, deinen Nachnamen und erhältst mit einer unkomplizierten Promptheit, die dein Menschenbild Lügen straft, den Zimmerschlüssel, eine abgegriffene rechteckige Plastikkarte. Der Portier wühlt, tonlos das Alphabet memorierend, in einem Kasten. Du greifst dir eine Broschüre mit dem Titel Fauna und Flora des Wattenmeers und steckst oder vielmehr stopfst sie in die Jackentasche. „Hier. Das ist für Sie!“ Während dir ein schmerbäuchiger Din-A4-Umschlag ausgehändigt wird, auf dem dein Nachname in Großbuchstaben steht, rattert der Portier Frühstücks-, Mittagessens- und Abendessenszeiten runter. „Der Pool“, schließt er, „hat noch bis zehn geöffnet, die Sauna nur noch bis acht. Bademantel und Puschen sind im Zimmer; Handtücher finden Sie im Wellnessbereich. Schuhe zum Putzen in den Flur. Die Haustür ist immer offen, hier kommt keiner her, um was zu klauen. Vegetarier?“

 

Du verneinst, schiebst Umschlag und Schlüsselkarte in die Folienmappe zu deiner idiotischen Rede, bedankst dich und merkst, während du dich nach deiner Tasche bückst, dass du heute früh besser geduscht hättest.

„Brauchen Sie Hilfe beim Gepäck?“

Mit einem ironischen Gesichtsausdruck hebst du die Tasche hoch. „Das ist alles. Ich will hier keinen Urlaub machen. Ich bin zum Arbeiten hier.“

Offenbar hast du etwas Falsches gesagt, denn die Miene des Portiers wird zu Stein; es ist ein prozessuales Steinwerden in mehreren Etappen, das einem das wahre Wesen des Versteinerns deutlich vors Auge führt.

„Vierter Stock“, sagt er grimmig. „Aufzug ist da – Treppe ist da.“

Du bedankst dich, gehst – vierter Stock! – hinüber zum Aufzug, den zwei Blumenkübel mit künstlich aussehenden Sukkulenten einrahmen, und drückst den Rufknopf. Immerhin funktioniere ich noch im Alltag, denkst du, obwohl du dir wie ein Schauspieler vorkommst, der spielt, wie Professor Oluf Sattler in einem norddeutschen Tagungshotel eincheckt, während zu Hause der Tod seine Sense im Schlafzimmer schwenkt, ein blau-grünlich lumineszierendes Gerippe in zerfetztem Talar, zwei Punkte aus Nacht als Augen und mit einem Knochengrinsen unter der obszönen Nasenlosigkeit. Und doch, denkst du, bin ich in der Lage, in einem Hotel einzuchecken. Und doch weiß ich, wie man einen Aufzug herbeiordert. Und doch kenne ich Hotelschlüsselkarten aus Plastik und frage nicht weltfremd, was ich damit anfangen soll. Irgendwie vermisst du jedoch diese klobigen, absurd schweren Schlüsselanhänger von früher: lange Miniaturmonolithen aus abgewetztem Metall mit einem kegelkopfförmig-plumpen, von einem schwarzen Gummiring gepolsterten Ende. Trotz allem funktioniere ich, denkst du, ohne aufzufallen. Ich tue dies, ich tue jenes, ich kann mich, denkst du, während es dich in ruckartigen Intervallen in die Höhe trägt, sogar an fremde Redegepflogenheiten anpassen („Moin“) und weiß sogar, denkst du weiterhin, weshalb die Schlüsselanhänger meiner Jugend Rettungsringe aus Gummi hatten: Damit sie nicht die Türen verkratzten.

Es ist der Alltag, der uns erlöst.

Das Zimmer ist klein, aber sauber und aufgeräumt. Die Leselampe auf dem Nachttisch ist tadellos. Du schaltest sie wieder aus, schließt das auf Kippe stehende Fenster. Die Aussicht zeigt leider nicht den Seedeich, sondern den gekiesten Parkplatz. Leicht schräg steht der Mietwagen in seiner Parkbucht, Windschutzscheibe und Dach bereits verschissen von den Möwen. Auch viele der anderen wesentlich heftiger zugepollockten Autos haben Hamburger Kennzeichen. Du bist also nicht der Einzige, der mit dem Mietwagen angereist ist, oder die anderen Kongressteilnehmer kommen, was du dir kaum vorstellen kannst, allesamt aus Hamburg.

Du entkleidest dich wie unter einem hypnotischen Bann, duschst ausgiebig, hüllst dich in den Hotelbademantel, fällst aufs Doppelbett, widmest dich erst der Broschüre über Fauna und Flora des Wattenmeers, dann – mutiger geworden – dem Inhalt des Umschlags: ein selbstbewusster Hotelprospekt, das Kongressprogramm (du schaust lediglich nach, wann du mit deiner Rede dran bist, elf Uhr morgen früh, der dritte Vortrag von fünf vor dem Mittagessen), ein halbes Dutzend kopierte, an der rechten oberen Ecke zusammengetackerte Aufsätze, einer davon von Götzloff, das hätte er dir ruhig sagen können, verdammt noch mal, zwanzig Seiten, terminologisch verquast, über Charmineaux, den du nicht magst, ein Irrweg, vergleichbar mit Derrida und Bourdieu, hochgeblasener Bockmist auf den Schultern des Poststrukturalismus, dennoch einer dieser französischen Modedenker, die man stets voller Ehrfurcht nur mit dem Nachnamen nennt.

Außerdem findest du in der Kongresswundertüte ein Leporello, das fragwürdige nordfriesische Sehenswürdigkeiten anpreist, ein laminiertes Kärtchen, das in Form einer schwer verständlichen Tabelle die Zeiten für Ebbe und Flut verzeichnet, einen hochwertigen Schreibblock, unliniert, einen Kugelschreiber einer Marke, die du dir niemals leisten würdest, sowie ein Namensschild in einer Hartplastikhülle zum Anstecken.

„Ich finde es bemerkenswert, dass Sie keine Möwen mögen.“ „Inwiefern?“

„Sie brauchen nur einen Buchstaben zu ersetzen …“

„Das ist doch nicht Ihr Ernst!“

In letzter Zeit stellst du dir häufig vor, lange Gespräche mit Doktor Felke zu führen, in denen du ehrlich deine Meinung kundtust. Bei Felke mit seiner leisen, schwul-sanften Art zu reden macht ihr derzeit die zweite Paartherapie eurer Ehe, sofern es dir nicht gelingt, mit einer glaubwürdigen Ausrede die bevorstehende Sitzung zu verschieben. Die Paartherapie ausgerechnet bei Felke zu machen ist hirnrissig! Da er der verlängerte Arm Miriams ist, wird jede Sitzung zur Gerichtsverhandlung. Es war ihre Idee, erneut zur Therapie zu gehen, nicht deine, sie hat Felke ausgewählt, weil er mit einer Bekannten verheiratet ist, die du nicht kennst oder die es nicht gibt, und Miriam hat sich einige Male, was du höchst unprofessionell von Felke findest, alleine mit ihm getroffen, ehe sie dich zur Schlachtbank einer tendenziösen und listigen Befragung geführt hat, in der alles, was du ehrlich äußern würdest, die Sache nur noch schlimmer machte, als sie ohnehin schon ist. Also wiegelst du in den Therapiesitzungen ab oder gibst dich nichtsahnend oder entschuldigst dich oder gelobst Besserung, was von Mal zu Mal immer weniger gut ankommt, und würdest am liebsten mit dem Arsch voran in das geheuchelt verständnisvolle Gesicht des Komplizen deiner Frau springen. Da du Doktor Felke misstraust und, man kann fast sagen, Abneigung und Abscheu dir gegenüber witterst, verstehst du selbst nicht so recht, wieso tief in dir das Verlangen gewachsen ist, dich ihm völlig zu offenbaren.

„Ich hätte nicht fahren dürfen.“

„Weshalb sind Sie dann dennoch gefahren?“

„Ich hatte keine Wahl.“

„Das sagten Sie bereits zu Beginn unseres Gespräches. Aber wissen Sie, zum Menschsein gehört es zwingend dazu, immer eine Wahl zu haben.“

„Das mag in Ihren Lehrbüchern stehen, hat aber nichts mit dem wirklichen Leben zu tun. Ich musste fahren. Begreifen Sie das nicht? Ich würde heute gerne über etwas anderes mit Ihnen reden. Seit langer Zeit fühle ich mich wie eine Puppe, die gespielt wird. Eine Gliederpuppe aus Holz, eine Marionette, sowas in der Art. Ich sehe mich handeln und bin nicht der, der handelt. Ich sage Dinge und es sind nicht die Dinge, die ich sagen will. Es ist, als würde ich von jemandem oder etwas ferngesteuert, damit ich mich nicht selbst sabotiere.“

„Was meinen Sie damit?“

„Ich muss funktionieren, ich weiß, wie Funktionieren geht, ich will funktionieren und also funktioniere ich, bin es aber nicht selbst, der funktioniert, sondern mein Ich sieht sich staunend beim Funktionieren zu.“

„Können Sie das konkretisieren?“

„Am besten mit einem Beispiel: Ich fahre mit dem Mietwagen zu einem Kongress, ich checke im Hotel ein, ich öffne die Zimmertür mit einer Schlüsselkarte, ich nehme ein Duschbad, ich liege im Bett und betrachte ein Namensschild, auf dem mein Name steht. Doch bei all diesen Verrichtungen fehlt mir zu dem handelnden Ich jeglicher Bezug; ich könnte einen Film über mein Leben sehen, in dem ein Schauspieler mich selbst verkörpert, der nach einem Drehbuch agiert, das ich nicht kennen darf, und auch die Anweisungen des Regisseurs sind für mich unhörbar.“

„Wie beurteilt denn Ihre Frau diese Einschätzung Ihrer Lebenspraxis?“

Und schon wieder hat dich Felke in die Ecke gedrängt.

Nie wieder!, nimmst du dir nicht zum ersten Mal vor. Da gehe ich nie wieder hin! Selbst der fiktive Felke steckt mit Miriam unter einer Decke. Du siehst dich behutsam die Schlafzimmertür zuziehen, um Miriam und das Baby – als du erwachst, nimmst du zwei Schmerztabletten. Du schluckst sie trocken und packst die Reisetasche aus. Den schlaffen Kulturbeutel trägst du ins Badezimmer, entnimmst ihm Rasierer, Zahnbürste und -pasta (somit den kompletten Inhalt) und steckst alles in den Plastikbecher, der umgestülpt auf dem Glasregal über dem Waschbecken gestanden hat. Die Unterwäsche kommt in den Schrank. Frische Socken hast du vergessen. Unter deinem Pyjama, den du gerade aufs Bett pfeffern willst, stößt du auf eine Tafel Schokolade. Deine Lieblingssorte. Vollmilch mit Mandelsplittern.

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