Herr Oluf in Hunsum

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Was entgegnet man auf eine solche Offenbarung?, fragst du dich.

Ihr seht der Frau nach, die mit einem Mal, als wüsste sie, dass man sie beobachtet, kokett das Handtäschchen zu schlenkern beginnt.

Kunstleder, denkst du. Kein echtes Leder würde so glänzen.

Der Lkw-Fahrer ist schwer tätowiert, jedoch nicht mit so befremdlichen Motiven wie Anne Franks Gesicht, sondern mit blassblauen, beinahe grünlichen Beliebigkeiten, die dich an lange Haftstrafen denken lassen.

„Tut das nicht weh?“, fragst du.

Der Lkw-Fahrer grunzt überrascht.

„Wenn man tätowiert wird, meine ich?“, sagst du schnell.

„Ja, schon, aber was muss, das muss!“ Der Lkw-Fahrer grinst frech. „Sie wissen schon, Herr Doktor, dass Sie grad nem Kollegen den Parkplatz wegnehmen?“ Ohne deine Antwort abzuwarten, schickt er sich an, ein dreibeiniges, hüfthohes Gestell aufzubauen, krönt es mit einer flachen Metallschüssel, gießt dampfendes Wasser aus einer überdimensionalen Thermosflasche hinein und beginnt sich ohne Hemmungen den Oberkörper zu waschen. Er hat Hängebrüste wie eine Halbweltvettel auf einem Gemälde von Dix. Auf einmal hält er mitten beim Einschäumen inne, starrt dich an. „Ham wohl noch nie sich nen Mann waschen sehn?“

Du entschuldigst dich stammelnd und gehst, ergebnislos über die Grammatikprobleme des Anwurfs nachdenkend, quer über den Parkplatz hinüber zur Raststätte, einer architektonischen Totalkatastrophe aus den Neunzigern, deren Inneres aufgrund von an Ketten baumelnden Schildern mit Aufschriften wie „Selbstbedienung“, „Kaffee“ oder „Schnitzelstraße“ mehr als nur selbsterklärend ist. Für dich jedenfalls, der du dich im Inneren der Raststätte mit einer Gründlichkeit umsiehst, als analysiertest du eine vom Kunstbetrieb gefeierte Rauminstallation eines Außenseiterkünstlers. Der Terminus „bildungsferne Schichten“ kommt dir in den Sinn. Professor Kornbluth, dein Doktorvater, selig, hat ihn gerne gebraucht und in diesem Zusammenhang stets vom „marche des imbéciles“ gesprochen: Ließe man alle Vollidioten der Welt in Viererreihen am Eiffelturm vorbeimarschieren, endete diese Parade niemals, da die marschierenden Vollidioten unterwegs unentwegt Kinder zeugten und bekämen und diese wiederum unentwegt weitere Kinder zeugten und bekämen und so weiter und so fort.

Schlaffes Mischbrötchen mit großzügig Butter, durchgehend hellgrauem, jedoch an mehreren Stellen blau-grün, fast seifenblasenartig schillerndem, zu salzigem Kochschinken und einer hauchdünnen, wässrig schmeckenden, eiskalten Gurkenscheibe. Schlaffes Roggenbrötchen mit großzügig Butter, winzige klare Tröpfchen ausschwitzender Käsescheibe und einem eiskalten fingerdicken Stück unreifer Tomate. Rührei (hellgelb, lauwarm) mit beachtlicher Pfefferpigmentierung sowie ein tadelloser Schokopudding (hellbraun, von der Struktur sämig-glatt, eiskalt), den du, da du verabsäumt hast, einen Dessertlöffel aus der Besteckwanne neben der Kasse zu nehmen, mit der Gabel verzehrst, was sich leichter als befürchtet erweist.

Nun ist es aber höchste Zeit, zu Hause anzurufen! Als Erstes – sofort nach den Mitleidsbekundungen und Entschuldigungen – müsstest du Miriam sagen, dass du einen Mietwagen genommen hast. Oh je, schon fast elf! „Und“, würdest du danach beiläufig oder, besser gesagt, in gespielter Beiläufigkeit anmerken, „du weißt schon, dass Jasper heute Nachmittag am Bahnhof abgeholt werden muss. Er kommt ja von der Klassenfahrt zurück.“

Der tätowierte Lkw-Fahrer trägt sein Tablett an dir vorbei. Micha hat einen Hintern wie ein Liliputaner, denkst du. Etwas, das du nicht denken oder – noch schlimmer – jemals sagen oder schreiben dürftest. Woher weißt du überhaupt, dass der Kerl Micha heißt? Dein Wissen befremdet dich, bis dir das Schild in Nummernschildoptik mit den fünf Großbuchstaben hinter der stirnhaft gewölbten Windschutzscheibe des Lkws einfällt, das du vorhin unbewusst zur Kenntnis genommen haben musst. Micha trägt noch immer die Sporthose ohne Innenslip, hat sich hingegen mit einer grauen Kapuzenjacke der Marke University of Irgendwo und braunen Alpargatas, deren Hanfsohlen an den Rändern tabakhaft ausfransen, halbwegs den Gepflogenheiten eines Restaurantbesuchs angepasst.

Und dann in Viererreihen am Eiffelturm vorbei.

Drei Minuten nach elf. Auf Michas Tablett bewachen zwei klobige Schornsteine qualmenden Kaffees einen quadratischen Teller mit hummerpanzerrotem, extrem salzig aussehendem Kassler zwischen Bratkartoffel-Trümmerfeld und Mount Sauerkraut. Nach einem heiter-verschwörerischen Nicken, das dir gilt, setzt sich der Mensch mit dem Ogergesicht und dem Liliputanerhintern gegenüber von dir an einen Tisch direkt bei dem würfelförmigen Kirmesautomaten mit Glasaufsatz, worin man mit einer dreizinkigen Greifzange nach Plüschtieren angeln kann.

Du nickst geistesabwesend, aber nicht unfreundlich zurück und nimmst das Handy aus der Jackentasche. Nach fünfmaligem Klingeln meldet sich der heimische Anrufbeantworter. Du unterbrichst die Verbindung, siehst, wie dein Spiegelbild in der Frontscheibe des Plüschtierautomaten langsam das Handy sinken lässt. Dahinter: blaue Hasen, grüne Kätzchen, gelbe Piepmätze mit orangefarbenen Plastikschnäbeln und als König der Menagerie – rosa und riesig wie ein ausgewachsener Hund – Barbapapa.

Du bist wohl der Einzige in der ganzen Raststätte, der weiß, wie Barbapapa entstanden ist (in der Erde gewachsen) und wie Annette Tison und Talus Taylor auf den Namen des freundlichen Gestaltwandlers gekommen sind (barbe à papa, frz., Zuckerwatte). Seit Jahren verrottet im Keller ein Karton mit VHSKassetten, die dir früher mal wichtig waren. Wieso denke ich jetzt daran?, überlegst du, doch da erinnerst du dich, dass auf einer der Kassetten Barbarella aufgezeichnet sein müsste, ein Spielfilm, den du, obwohl du ihn aus ästhetischen Gründen verachten solltest und willst, stets gemocht hast. Im Gegensatz zu Miriam. Dabei hätte sie ihn, da sie ihr Studium nicht beendet hat, durchaus mögen dürfen. Dein Spiegelbild macht sich erneut am Mobiltelefon zu schaffen … Kontakte … Miriam … Handynummer … verflucht, sie geht nicht dran! Wieso geht sie nicht an ihr gottverdammtes Handy? Micha fixiert dich die ganze Zeit und kaut dabei sein salziges Essen. Du siehst auf und ihn fragend an. Langer Augenkontakt. Wie in Zeitlupe streckt er auf einmal den Zeigefinger der rechten Hand aus und schiebt ihn immer noch peinigend langsam – und dabei den Mund zum Kuss gespitzt – im Daumen-Zeigefinger-Rund der linken Hand vor und zurück.

Du machst eine ungehaltene Gebärde, die eher in südlichere Länder gepasst hätte, und tippst einfingrig, jedoch nicht unflott: Wie geht es Dir? Ich bin unterwegs. Im Mietwagen. Das Auto habe ich Dir dagelassen, damit Du mit dem Baby zum Arzt und nachmittags Jasper am Bahnhof abholen kannst. Das Auto … Wo hast du es gestern nach dem Einkaufen geparkt? Verdammt noch eins! Du löschst die letzten beiden Wörter, denkst kurz nach, schickst die SMS trotzdem ab.

Miriam mag zwar nicht ans Handy gehen, weil sie sauer auf dich ist, aber ihre SMS wird sie ja wohl lesen. In einem schlechten Buch hättest du dir jetzt die Haare gerauft. Kontakte … Miriams Handynummer … sie geht immer noch nicht dran … das sieht ihr gar nicht ähnlich … du wartest auf die Ansage ihres Anrufbeantworters, atmest tief ein und sprichst nach dem Signalton: „Hallo. Ich wieder. Oluf. Ich bin mit einem Mietwagen unterwegs. Weißt du, dass du Jasper heute am Bahnhof abholen musst? Das wäre gut. Der Brief seiner Klassenlehrerin mit der genauen Uhrzeit hängt am Kühlschrank oder liegt auf meinem Schreibtisch. Das Auto habe ich vermutlich in der Nähe geparkt. Oder Bus. Nimm den Bus! Nein, besser. Nimm ein Taxi!“ Ihr wohnt jetzt schon seit fast acht Jahren in der Stadt und noch immer kennt ihr niemanden, den man Jasper abholen lassen könnte. Freunde habt ihr leider noch keine gefunden. Nicht einmal gute Bekannte habt ihr. Wie auch? Neue Stelle, Umzug, Paartherapie, Hüftoperation, zweite Schwangerschaft, Hausbau, Geburt, Umzug und jeden zweiten Nachmittag Anrufe vom Mittelstufenleiter oder ständig wechselnden, jedoch allesamt mit den drei komplizierten Kasus auf Kriegsfuß stehenden Schulsozialarbeiterinnen. „Du hast was?“ – „Du weißt, was ich gemacht habe. Sie haben es dir doch gesagt.“ – „Wieso hast du ihm in den Schenkel gebissen?“ Du unterbrichst die Verbindung. Wühlen in der Hosentasche (Frage), leises Klimpern (Antwort), auch das noch! Der Autoschlüssel hängt an deinem Schlüsselbund. Du hättest ihn … nein … dafür gibt es doch den … aber wo mag er denn sein, der Ersatzschlüssel? In der Schale, wo er hingehört? Wohl kaum! Wieder rufst du Miriam auf dem Handy an, wartest geduldig, hinterlässt eine weitere Nachricht: „Ich wieder. Tut mir leid. Ich hätte das alles gerne ausführlich mit dir besprochen. Das soll jetzt kein Vorwurf sein. Sorry. Du warst ja krank. Hoffentlich geht es dir besser! Der Autoschlüssel. Es geht um den Autoschlüssel. Deshalb rufe ich schon wieder an. Der Schlüssel liegt bestimmt in der Schale im Flur, wo er hingehört. Hoffe ich. Wie geht’s dir? Sehr wahrscheinlich liegt der Schlüssel da. Nein, ich meinte natürlich: Wie geht’s euch? Ich hoffe, dass du nicht mit dem Bus zum Kinderarzt gefahren bist. Ich komme leider jetzt erst dazu, mich bei euch zu melden … Entschuldigung! Ruf mich bitte mal zurück! Wie geht es euch? Ich frühstücke gerade in einer Raststätte.“

Mittlerweile sitzt du jedoch nicht mehr am Tisch der Raststätte, sondern trabst fluchend über den Lkw-Parkplatz, den eine im Smalteblau beharrlich auf der Stelle vibrierende Augustsonne jodorowskyhaft beleuchtet. Eine derart gnadenlose Ausleuchtung verleiht selbst dem kleinsten Bodenritz tiefste Bedeutung. Und sie bewirkt auch dies: Wie Quecksilber gleißt eine Pfütze neben dem Mietwagen. Das Indiz für Michas Waschritual ist von amöbenförmiger Gestalt, wirkt blasser an den dunstenden Rändern als im sich scheinbar wölbenden Zentrum, duckt sich auf den rissigen Asphalt wie ein schmelzender Spiegel, Symbol alles Verrinnenden: die verstrichene Zeit (wir jagen ihr vergeblich nach), der Leib (im Traum schon starb ich), die Bedeutungslosigkeit allen Denkens, denn immer marschiert die unendliche Prozession in Viererreihen am Eiffelturm vorbei.

 

Etwas von der Sonne so – beinahe vorsätzlich – Beleuchtetes ist, überlegst du, wie ein mit Textmarker hervorgehobener Passus in einem unverständlichen Text. Natürlicher Index, nicht intendiertes Zeichen: Kein Schatten zerstört den Wasserglanz am Boden.

Denn: Der Lkw steht nicht mehr da.

Was geht in diesen Menschen vor?

Du setzt dich auf die Rückbank des Mietwagens. Bilder verstehst du, Texte über Bilder auch, Texte über Texte über Bilder ebenfalls, aber nicht die Beweggründe von Menschen, die mit einem Lkw tagtäglich Waren von hier nach dort transportieren und auf Raststätten Frauen in ihr Führerhaus locken, um mit ihnen Unsägliches zu treiben. Da entdeckst du an der Rückseite des Fahrersitzes eine kleine Tasche. Mit Scherenfingern spreizt du das nach Neuwagen riechende Kunstleder. Das Täschchen erweist sich als leer, doch sein Inneres fühlt sich angenehm kühl an. Als du kurz darauf beide Hände aus dem waagerechten Schlitz ziehst, schiebt sich sogleich, als gäbe es einen Kausalzusammenhang, die Seitenwand eines Kühlsattelschleppers neben den Mietwagen, auf dessen Rückbank du nach wie vor benommen hockst wie ein Kirschkern, und verwandelt (echter kausaler Zusammenhang) das Quecksilber der Pfütze in schwarzen öligen Samt.

Die Bremsen des Kolosses zischen auf wie der unterdrückte Rülpser eines Gottes, unmittelbar wird die Beifahrertür von innen aufgestoßen und die dickliche Frau im Lederminirock klettert flink hinauf und hinein.

Aus deiner Perspektive erkennst du, dass sie keinen oder einen fleischfarbenen Slip trägt, der vaginale Fältchen wirft.

So schlampig sie auch aussehen, rasiert sind sie immer.

Bei einer Damien-Hirst-Retrospektive in der Nähe von Kopenhagen bist du einmal zwischen zwei riesigen Behältern durchspaziert, die jeweils eine aufrecht stehende, in Formaldehyd eingelegte oder in Plastik eingegossene Kuhhälfte enthielten. Hirst hat eine ausgewachsene Milchkuh säuberlich an der Hüfte durchgesägt oder – wahrscheinlicher – von seinen Mitarbeitern durchsägen lassen, damit der Betrachter, also du selbst, zwischen dem halbierten Vieh hindurchgehen und/oder dazwischen sinnierend innehalten kann. Gefühlt hast du dabei nichts. Noch nicht einmal Ratlosigkeit. Und was fühlst du jetzt? Kannst du deine Gefühle greifen? Konntest du es je? Das Einzige, was du weißt, ist, dass du zu schwitzen beginnst, sobald du an Miriam und das Baby denkst. Schuld, denkst du, Schuld fühlt sich so an, und das denkst du, weil du genau weißt, wie sich Schuld anfühlt.

Wenig später treibt es dich zurück in die Raststätte. König Barbapapa feixt in seinem Aquarium: Man hat dein Tablett abgeräumt. Der Tisch, an dem du gesessen hast, ist frisch gewischt und riecht nach ungewaschenem Lappen. Micha ist natürlich nicht mehr da. Bringt Dosenfraß nach Aldi. Und wenn sie gestorben ist? Tot im Bett liegt und das Baby drängt sich wimmernd an ihren kalt werdenden Leib und sucht die nährende Brust?

Produziert eine tote Frau überhaupt noch Milch?

Entsetzt von diesem Gedanken, zapfst du dir einen weiteren Becher Kaffee am Automaten, stehst jedoch kurz darauf wieder neben dem Wagen, ohne dich erinnern zu können, den Kaffee bezahlt oder getrunken zu haben.

Du hältst das Handy in der Hand und wählst die heimische Festnetznummer. Es klingelt fünf Mal, dann hörst du dich gestelzt sagen: „Guten Tag, Sie sprechen mit dem Anrufbeantworter der Familie Professor Sattler. Hinterlassen Sie bitte eine Nachricht nach dem Pfeifton! Vergessen Sie Ihre Nummer nicht! Wir rufen zurück.“

Pfeifton und du, der echte Sattler: „Ich wieder. Also ich …“ Du brichst ab, sie schlafen sicher noch, schlafen sich gesund. „Gute Besserung“, sagst du tonlos. Und danach in atemloser Hast: „Raststätte. Bin unterwegs. Viel Verkehr auf der Autobahn. Ich melde mich später wieder bei dir.“

Längst ist die quecksilbrige Pfütze verdunstet. Rissiger, warmgrauer Asphalt zwischen dir und … das Führerhaus des Sattelschleppers ein miefendes Séparée mit geschlossenen Vorhängen … Schottenmuster … nein, das ist dein eigener Schlüsselbund … Schale, Flur, sicherlich liegt da der Ersatzschlüssel … du greifst in die andere Hosentasche: Fehlanzeige … Jackentasche: Da ist er ja, der Mietwagenschlüssel, uff! Du setzt dich hinters Steuer, Puff, Schottenmuster, du wärst besser nicht gefahren.

Jasper kommt nach Hause. Sperrt die Tür auf. Ruft: „Mama?“ Nie ruft er: „Papa?“ Aber das ist eine andere Geschichte. Also Jasper kommt nach Hause. Er sperrt die Tür auf und zieht empört die Schuhe aus. Sogleich riecht es bis in die letzten Winkel der Wohnung nach Schweißfuß. Niemand hat ihn abgeholt. Er sperrt auf, zieht empört die Schuhe aus, ruft: „Mama?“ Stille. In Socken und sehr feuchte Fußspuren hinterlassend geht er zum Schlafzimmer. Klopft an. Stille. Klopft wieder an. Stille. Öffnet die Tür. Tot liegt sie im Bett, die Mama. Und neben ihr tot … sie sind beide tot!

Du überholst denselben nach Schweinescheiße und Todesangst riechenden Viehtransporter, den du vorhin schon einmal überholt hast (ein Irrtum ist ausgeschlossen), schaltest das Radio ein und sofort wieder aus. Noch drei Stunden Fahrt, wenn keine Baustelle dazwischenkommt. Micha fährt auch gen Norden. Leergefickt und vollgefressen. Hört Musik und singt mit. Falsch und laut. Oh-ladi-ladi-ho! Bekloppterweise findet der Kongress in Hunsum statt. In Hunsum! Nicht in Husum, der, wie Götzloff sicher gewusst und in dröhnendem Pathos verkündet hätte, grauen Stadt am Meer, sondern in Hunsum. In Hunsum! Liegt auch an der Nordsee wie Husum. Was für ein Blödsinn!, denkst du. Und was zu Hause los ist, weiß kein Mensch!

Ich hätte nicht … Licht von links … du erinnerst dich an das Frauenantlitz im Seitenspiegel und schämst dich … und dennoch Vermeer … man muss ehrlich zu sich sein … denke ich, fragst du dich, an ihr Gesicht, weil es mich an Vermeer erinnert, oder weil es das Gesicht einer schönen, jungen Frau … ablenken, ich muss mich, muss mich … bitte … klappt nicht, denn plötzlich ist Jane Fonda da. Sie hat, denkst du, die Rolle der Barbarella nur angenommen, weil sie Roger Vadim, den sie abgöttisch liebte, keinen Wunsch abschlagen konnte oder wollte. Er war es, der sie dazu zwang, diesen durchsichtigen Plastik-BH zu tragen. Erst von Durand-Durand in die Lustmaschine gesperrt, dann als Hanoi Jane unterwegs in Nord-Vietnam. Doch dieser durchsichtige BH … um auf andere Gedanken zu kommen, formulierst du im Geiste die Eingangssätze eines Aufsatzes über Barbapapa: Aus der Erde, der mütterlich bewahrenden, segnenden, in aller Unschuld gewachsen wie eine Pflanze, die das Böse nicht kennt, allein, da sie das Böse nicht zu kennen fähig ist, verkörpert dieser freundliche, in seiner Urform amöbenhaft anmutende Gestaltwandler auch wegen der Heiter- und Friedlichkeit suggerierenden Rosafarbenheit seines Leibes …

Vielleicht publizierst du kaum noch etwas Substanzielles, weil du zu nichts mehr klar Stellung beziehen kannst. Meinungen jeglicher Art bereiten dir zunehmend Unbehagen. Hast du ausnahmsweise mal eine feste Meinung, so irritiert dich das wie eine Wunde im Mund, die man immerzu mit der Zungenspitze betasten muss. Oft denkst du, wenn du zu etwas eine Meinung hast, diese äußerst oder sie sogar argumentativ in der Öffentlichkeit vertrittst, dass du genauso gut für das Gegenteil hättest einstehen können. Leute wie Götzloff oder Frau Dr. Schauper haben natürlich immer und zu allem eine Meinung. Am schlimmsten in dieser Hinsicht ist jedoch Frau Schirra-Wiedemann, die saublöde Institutssekretärin, die ihre eigenen saublöden Meinungen stets in den Status eines allgemeingültigen Gesetzes erhebt. Saublöd sagt sie: „Morgens muss man Kaffee trinken. Mindestens zwei Tassen. Ohne zwei Tassen verlässt man das Haus nicht als Mensch.“ Saublöd sagt sie: „Den Film kann niemand ankucken. Will auch keiner. Die Farben sind viel zu düster.“ Saublöd sagt sie: „Wer jeden Tag einen Apfel ist, bekommt nie eine Erkältung.“ Die dumme Sau! „Man darf keinen Kaffee trinken“, sagt sie saublöd, „wenn man ein Wurstbrot isst. Käsebrot und Kaffee geht, aber am besten sind“, sagt sie saublöd, „Kaffee und Marmeladenbrot oder Kaffee und Kuchen – allein dafür haben die Türken den Kaffee erfunden!“

Unumstößliche Meinungen zu haben oder zu äußern, findest du, ist ein Zeichen von Dummheit oder wie im Falle von Götzloff von berechnender Schläue, um die Dummen einzuseifen, damit man selbst als der Oberschlaue dasteht. Aber auch das ist, denkst du weiter, bloß eine Meinung … zwar meine eigene Meinung, aber nichtsdestotrotz eine Meinung … also saublöd … ich bin Frau Schirra-Wiedemann … morgens dusche ich immer erst heiß und am Schluss eiskalt, das ist gut fürs Herz … wenn ich erkältet bin, versuche ich immer den Niesreiz zu unterdrücken, denn beim Niesen platzen Adern im Gehirn, und schmiere mir fingerdick Nivea unter die Nase … früher waren die Filme besser … heute geht es in der Kunst nur noch um Nackte. Wie schön wäre es, und das sind jetzt wieder deine eigenen Gedanken (wenn es so etwas überhaupt gibt), nichts mehr bewerten zu müssen, sondern einfach sein restliches Leben abzuleben, meinungslos und ohne den Zwang, immerzu alles und auch sich selbst zu zergrübeln bis auf die Knochen, also so zu leben, wie man vorm Einschlafen einen Taschenbuchkrimi liest, den man sich verschämt in der Bahnhofsbuchhandlung gekauft hat und bei der Abreise im Hotelzimmernachttisch unter dem NT liegen lässt. Bei der nächsten Rast, nimmst du dir vor, darfst du auf gar keinen Fall vergessen, dir einen Krimi – das Handy piept in der Brusttasche der Anzugsjacke.

Du brichst das Überholmanöver ab, ignorierst die Lichthupe des gelben Audis, mit dem du dich schon seit einigen Kilometern kabbelst, und scherst hinter dem Viehtransporter ein. Verstörenderweise ist es wieder derselbe wie vorhin, ein zweietagiges Monstrum mit kiemenartigen Luftschlitzen an den Seiten, oder vielmehr, präzisierst du die Assoziation, sind es Schlitze, die an altmodische Klappfensterläden aus Holz gemahnen, schmale Spalten zwischen schräg stehenden Lamellen, und dahinter wabert ein körniges Dunkel, aus dem dann und wann das feuchte, mit schneller Bewegung verbundene Aufglänzen todgeweihter Rüsselnasen auftaucht. Du setzt den Blinker und kommst auf dem Seitenstreifen zu stehen.

Deine Knöchel sind weißer als sonst.

Du löst die Hände vom Lenkrad, bewegst prüfend die Finger, schaltest die Warnblinkanlage ein, nimmst das Handy aus der Tasche.

Nein, Miriam hat nicht geantwortet.

Fassungslos starrst du auf einen Hinweis, der dich darüber in Kenntnis setzt, dass dein Handy Probleme beim Versenden von Textnachrichten hat. Du tippst mit schweißnasser Fingerkuppe, durchsuchst alle Nachrichten: Keine einzige SMS ist an Miriam gesendet worden.

Micha fährt vorbei und hupt. Zweimal kurz, einmal lang. Beim langen Hupen kommst du in den vollen Genuss des Dopplereffekts, etwas, wovon Leute wie Micha wohl nie gehört haben, aber jetzt mal ganz ehrlich: Was nützt dir all deine Bildung? Wozu brauchst du dieses ganze wie ein Drachenschatz aufgehäufte Wissen? Und wieso hast du nicht auf Jasper gehört und dir ein neues Handy gekauft, als deins zu mucken begann?

Du blickst in den Rückspiegel, löst zeitgleich den Gurt, als würdest du ein Schwert ziehen, wartest eine ausreichend große Lücke ab und läufst vor innerer Erregung heftig gestikulierend um den Wagen herum. Nach einem guten halben Meter geht die rissige Elefantenhaut des Seitenstreifens in eine bröckelnde Asphaltböschung über. Und dort, jenseits der Leitplanke, wo verdrehter und offenkundig kränklicher Bewuchs den Straßenbelag sprengt und in Schuppen ablöst, da liegt er: ein handplatter, von der Sonne gedörrter Froschkadaver. Wie mumifiziert sieht er aus. Ist wohl beim Queren der Autobahn erwischt worden. Und dann hat ihn die Sonne getrocknet. Denkt euch nur, der Frosch ist krank … Dein Kopf. Wollen wir nun über deinen Kopf sprechen? – Warum? Na, weil es an dieser Stelle nötig ist. – Danke! Also los: Längst ist das Innere deines Schädels kein Theatersaal nach der Vorstellung mehr, sondern ein vor Leere hallendes gotisches Gewölbe voller Bretterstapel, Schutthaufen, Kübel, umgestoßener Truhen, Kisten, Fässer, Koffer und Schränke, aus deren herausgezogenen Schubladen sich Papiergirlanden ergießen oder faustgroße Kugeln quellen, die wie – Doppelsonorant! – zerknülltes – jetzt: vier Plosive! – Krepppapier – „ich wasch mir die Hände, bevor ich aufs Klo geh, alles andere ist abseitig“ (Frau Schirra-Wiedemann) – aussehen.

 

Wieder auf der Überholspur empfindest du es als Wohltat, zu beschleunigen und von Gang zu Gang hochzuschalten. Je schneller du fährst und je mehr Wagen du überholst, desto verwaschener werden die Gedanken, ja, das Denken insgesamt wird watteweich eingepackt, beinahe barmherzig gebettet, und wie Blasen aus einem urzeitlichen Sumpf steigen Erinnerungen auf. Bei einer Tagung in Norditalien beschwerten sich einige Kollegen über Skorpione im Gästehaus und ein russischer Professor hat allen erzählt, wie man sich erfolgreich vor Skorpionen schützt. „Man muss nur“, hat er laut lachend gesagt, „einen Kreis aus Benzin rund ums Bett gießen. Die Viecher hassen Benzin!“ Und dann hat er nach einem finster-gutturalen Ausruf in seiner Landessprache etwas hinzugefügt, was dir jetzt auf der A 7 ein unangenehm kribbelndes Gefühl im Nacken beschert: „Gießt man einen Kreis aus Benzin rund um einen einzelnen Skorpion, so sticht er sich mit seinem Stachel und stirbt.“

Das Klassenfahrt-ABC: Alkohol und Busengrapschen. Cannabis und Dauerwurst. Ekelspiel mit Furzgerüchen. Gewalt gegen Streber, Heimweh und Innenschau. Jägermeister, Kotzexzesse … Jasper kommt nach Hause, schleudert den Rucksack in den Flur, ruft laut: „Mama?“ Stille. Niemand da. Egal. Er geht in sein Zimmer, schaltet die Anlage an. Bitte mach mir nicht auf Westcoast (Westcoast) / Ich grüße all meine Ex-Hoes (häh) / Nutte, du kennst meinen Dresscode (Dresscode) / Ich steh’ auf Bitches und Frenchtoast (ja). Stunden später, Hunger, zur Abendessenszeit, großer Hunger, ruft er wieder: „Mama?“ – und schließlich findet er die Leichen im Ehebett, Mama ein zerbrochenes Ausrufezeichen, das Baby, ein verkrampftes Semikolon, neben der milchprallen, entblößten Brust.

Alkohol und Busengrapschen. Cannabis und Dauerwurst. Dauerwurst? Sagt heute noch jemand „Dauerwurst“? Besser die Dauerwurst als Salami unter S oder als Minisalami unter M verwenden. Ob sie heute noch BiFi essen? Du weißt es nicht. Von BiFi gab es mal eine „mexikanische“ Variante, die dich in deiner Jugend in helle Aufregung versetzt hat. Irgendwie scharf und mit Bohnenmus. Im Teigmantel. Aber vielleicht täuschen dich da deine Erinnerungen. Klassenfahrten waren dir jedenfalls immer ein Graus. Also keine Dauerwurst. Und beim Jägermeister bist du dir auch nicht sicher, obwohl Jasper mal kennerisch über „Jägermeister-Shots“ gesprochen hat, wobei du wissend genickt hast, kenn ich doch, aber spät abends, als alle geschlafen haben, Google. Es ist dir sowieso ein Rätsel, wie du früher ohne Internet hast arbeiten können. Die Digitalanzeige am Armaturenbrett zählt Minute um Minute ab (Zeit, Max Weber, protestantische Erwerbsethik), während sich im Gewölbe etwas öffnet, das weder Truhe noch Schrank ist, und dieses etwas befreit (Freud? Jung?) auf einmal flatternde Ängste, die sich schattig ausdehnen und allmählich anfangen, deutbar zu werden.

Barbapapa ist mit Barbamama verheiratet. Sie haben zahlreiche Kinder: die Mädchen Barbaletta (nicht Barbarella), Barbalala (auch nicht Barbarella) und Barbabella (fast, aber schon wieder nicht Barbarella) sowie die Jungs Barbarix, Barbabum (Barbawum?), Barbabo und Barbakus. Barbabo (frz. Barbouille) ist schwarz, ungepflegt, zottig behaart – und ausgerechnet er fungiert als Künstler der Familie. Schwarz. Ungepflegt. Zottig behaart. Was bedeutet das? Was genau wollen Annette Tison und Talus Taylor von dir?

Mit einem Mal lullt das Fahren dich nicht mehr ein, sondern gebärt, eine aufplatzende Wunde, Nachtgedanken. Du kennst sie aus jenen Stunden, in denen der Schlaf vor dir flieht und alles ist sinnlos … alles ist sinnlos und unbewältigbar … ist sinnlos und unbewältigbar und zehrende Pein. Solche Nächte plagen dich seit Lacanau-Océan, Leimrutennächte, in denen sich dein Leben in einen nicht lösbaren Test verwandelt, vor dem du ratlos und zitternd sitzt, ehe die Tränen kommen wie bei Studenten, die in der Abschlussklausur feststellen, dass sie fürs falsche Thema gelernt haben oder doch besser etwas anderes studiert hätten. Man (du) lieg(s)t im Bett und spür(s)t den Alpdruck des Versagens in der Magenkuhle, hör(s)t das Singen der Heizung, das Rauschen des Blutes in den Ohren und dahinter die brutale Stille der anklagenden Nacht. Bei Rilke ist es die Kunst, also Barbabos ureigene Domäne (schwarz, ungepflegt, zottig behaart), die den Menschen (dich, mein Freund) dazu treibt, umzukehren, sein Leben zu ändern, wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, doch für dich, Oluf Sattler, ist die Kunst, die vielgeliebte, schaumgeborene deiner späten Kindheit und Jugend längst eine Arznei, deren Verfallsdatum überschritten ist und die daher keinerlei Wirkung mehr auf deinen Metabolismus hat.

Dabei habt ihr nichts getan. Sie ist einfach ertrunken.

Weiter nordwärts fährst du, immerzu nach Norden, du brauchst weder Navi noch Karte, es geht einfach weiter gen Norden, dem Kongress entgegen, und so wie jetzt auf der A 7 schleppen sich in jenen hellen Nächten, wo du ganz Kreatur bist, atmest und dich maschinenhaft atmen spürst, verwest und dich wie ein Tier verwesen weißt, unbedeutend bist und die wie glühendes Erz gleißende Leere des Alls als Brandzeichen empfindest, als Kainsmal, ein doppelter Espresso, gekippt in den Trichter deiner Panik, uff, also so wie jetzt auf der A 7 schleppen sich in jenen hellsichtigen Nächten, wo du der Wahrheit zu nah bist und das Wachs der Flügel zu schmelzen beginnt, ächz, so schleppen sich auch jetzt deine Gedanken von einem Trümmerfeld zum nächsten, durch zerbombte Städte kriechen sie, über Schutthalden, durch brachliegende Wüstungen, seufz, du bist ein Wanderer im Niemandsland zwischen verfeindeten Staaten.

Ein Jahr nach der Unwetterkatastrophe sahst du im Hafenbecken von Rapallo eine havarierte Jacht auftauchen: Man hatte unter Wasser Ballons am Rumpf befestigt, diese mit Pressluft befüllt und mit einem Mal (du lehntest weißclownleeren Geistes auf dem Balkongeländer des Excelsior Palace Hotels) zerriss den kobaltgrünen Wasserspiegel des Mittelmeers ein emporstrudelndes schmutzig-weißes Schiffswrack in einer umbra-schwarzen Wolke von Schlamm und öligem Transzendentalgefunkel. Zwei Stunden später hast du eine selbst für deine Verhältnisse mittelmäßige Rede über Bourdieu gehalten. Das unreflektierte Objektivierungsverhältnis (du kennst den Anfang der Rede auswendig, weil du sie inzwischen ein halbes Dutzendmal bei den verschiedensten Anlässen wieder ausgekramt hast) des Theoretikers verführt diesen dazu, das Konstruierte als Grundlage zu sehen, die bedenkenlos auf die Praxis zu projizieren ist. Oder aber der Theoretiker interpretiert die Praxis so (z.B. einen Mythos oder ein Gemälde oder eine Installation aus bunten Schäumen), als hätte sie dasselbe Anliegen, das auch er hat, wenn er sie als Konstrukt verstehen will, nämlich das Anliegen, die Wirklichkeit zu interpretieren …

Bei der nächsten Raststätte gelingt es dir mit Leichtigkeit, den Pkw-Parkplatz zu erreichen, da du die Tankstelle großzügig rechts umschiffst. Behutsam drosselst du das Tempo und kaum ist der Mietwagen vor einer riesigen, sockelartigen Mülltonne mit einem hellbraunen, bananenförmigen Schwingdeckel aus Plastik zum Stehen gekommen, tippst du, um auf keinen Fall ein weiteres Risiko einzugehen, per Finger die heimische Festnetznummer ein. Nach fünfmaligem Klingeln hörst du dich selbst sagen: „Guten Tag, Sie sprechen mit dem Anrufbeantworter der Familie Professor Sattler. Hinterlassen Sie bitte eine Nachricht nach dem Pfeifton! Vergessen Sie Ihre Nummer nicht! Wir rufen zurück.“ Du hast natürlich keine Ahnung mehr, welche Informationen du als SMS auf die Reise ins Nirgendwo geschickt hast, also geht es diesmal ums Ganze.