Der Bahnhof von Plön

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Jemand ließ, nachdem er halblaut bis sechzig gezählt hatte, die Kette los, so dass sie klirrend zu Boden fiel. Jemand schnaufte laut. Ich war von diesem schnaufenden Jemand und seinen Handlungen völlig getrennt, wollte mit ihm nichts zu schaffen haben und nahm dennoch alles, was diese mir auf ekelhaft intime Weise vertraute Person tat, aus weiter Ferne wahr, wie ein Puppenspieler, der vom Bühnenhimmel aus seine Marionette betrachtet, während er sie für das johlende Publikum tanzen und springen lässt. Ich sah und hörte, wie dieser schnaufende Jemand, der niemand anderes als ich sein konnte, die Plastikfolie mit der Leiche nach unten ins mittlere der drei Zimmer zerrte. Die Eisenkette hing um seinen Hals. Hing um meinen Hals. Aber ich spürte ihr Gewicht nicht. Ich sah, wie meine feingliedrige grazile Hand die Tür des obersten Zimmers zusperrte. Der Strumpf mit den Münzen baumelte dabei zwischen meinen Zähnen. Ich sah weiterhin, wie mein Körper, der von Jahr zu Jahr fetter wurde, die in einen Mantel, den ich nicht kannte, gewickelte Leiche der jungen Frau die Treppe hinabtrug. Ihr Kopf lag an der Brust des Prinzen, ein schlafendes Kind, das man aus einer brennenden Festung trägt. Ich sah, und wäre am liebsten erblindet, wie ich, ich ganz allein, sie auszog und neben den vier anderen Leichen auf den Boden bettete. Mein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Ich beobachtete daher mit wachsender Spannung, wie ich die Tür hinter mir zusperrte und hektisch die Taschen des Overalls abklopfte. Dann steckte ich mir eine Zigarette an und kehrte mit dem ersten Zug in meinen Körper zurück wie ein Ei, das man vom Löffel in kochendes Wasser gleiten lässt.

Vor mir lagen parallel zueinander ausgerichtet fünf Leichen: vier verweste Scheußlichkeiten in Lumpen – und auf etwas Abstand die bleiche Frau. Mit einem Mal und völlig unvorbereitet ergriff mich diese oftmals in Scham umschlagende Ehrfurcht, die man beim Betrachten vollkommener Kunst empfindet. Ich rang um Atem. Das wachsende Bedürfnis, mein Antlitz vor dem Ehrfurcht gebietenden Großen, Wahren verhüllen zu müssen, aber es nicht zu können, es niemals zu können, wurde dadurch gesteigert, dass ich es selbst war, der dieses Große, Wahre geschaffen hatte. Nicht anders, dachte ich, ergeht es wohl einem Künstler, der im Akt des Schaffens begreift, ein Organ der Schöpfung selbst zu sein, der spürt, wie etwas Unbestimmtes, Mächtiges durch ihn hindurch formend ins Material greift, um ihn zum bloßen Werkzeug eines Vorgangs zu machen, dessen Dimensionen sich jeglichem Begreifen entziehen. Zugleich erkannte ich, dass die Ahnung, ein Organ der Schöpfung zu sein, verschwistert mit dem erhebenden Gefühl ist, etwas Schönes zu zerstören: Kinder verwüsten einen Ameisenhaufen und erschlagen die Flüchtlinge mit Weidengerten; der Angler tötet durch einen Schlag mit dem Messergriff einen Fisch, dessen Silber haut metallisch blau im Licht schillert, um ihn, die Unterarme auf die Reling gestützt, auszunehmen, während die Möwen die Innereien aus der Luft pflücken, so dass man den Windzug ihrer Flügel an den Wangen spürt; ein muskelbepackter Koch namens Cal, der alle Zeit der Welt hat und einen zu engen braunen Anzug trägt, erhitzt Olivenöl und gehackten Knoblauch in einer gusseisernen Pfanne, dreht der Languste mit einer geübten Bewegung den Oberkörper ab, löst die Schalensegmente vom Hinterleib, macht einen Schnitt ins glasige Fleisch und entfernt den Darm, einen schwarz gefüllten, glänzenden Schlauch, dessen Inhalt nach Algen und Meer riecht. Da tauchte der Puppenspieler wieder am Bühnenhimmel auf. Er neigte das Kreuz mit den Fäden und mein Kinn sackte auf die Brust und ich sank neben der jungen Toten in die Knie. Auf die Hände gestützt, neigte ich mich schließlich noch weiter vor und leckte ihre Haut. Vom Bizeps bis zum Handgelenk. Die Leberflecke hatten die Farbe heller Milchschokolade.

Wo versteckt man am besten eine Leiche? Natürlich da, wo sie nicht auffällt: unter anderen Leichen. Nachdem ich sie nach ganz unten getragen und mit hochgekrempelten Ärmeln in den warmen Morast des Haufens gewühlt hatte, klatschte ich die vier anderen auf der Plane nach unten geschleiften Leichen obenauf. Dann breitete ich die Folie zum Trocknen aus, schluckte die eingespeichelte Münze mit dem Loch in der Mitte wie eine Hostie und beschloss, indem ich die angenehm glatten Holzperlen Stück für Stück mit Wasser zu mir nahm, die Arbeit für heute einzustellen. Ein gekräuseltes, drahtiges Haar klebte an meiner Unterlippe, ich zupfte es ab, warf es in die Toilette, legte die Stirn an kühle Kacheln; den restlichen Arbeitstag würde ich benötigen, ihre Kleider zu entsorgen.

Ein Auftrag, über den an dieser Stelle nichts Näheres berichtet werden muss, hatte mich zwei Jahre zuvor in den Kaliningrader Zoo geführt. Grundsätzlich deprimieren mich zoologische Gärten, Wildgehege, Aquarien oder Zirkusse, und wäre ich nicht aufgrund einer zwar verschlüsselten, aber dennoch ärgerlich unbestimmten Depesche gezwungen gewesen, mich dort im Laufe des Tages einzufinden, hätte ich, wie Ihr so schön sagt, einen weiten Bogen um diese Einrichtung gemacht. Die Kontaktperson erwies sich erst am frühen Abend als einer der Wärter, doch bis er sich mir endlich mit einer rituellen Verbeugung zu erkennen gab, war es nicht zu vermeiden, dass ich mich gründlich umsah. Im Herzen des Zoos fuhr eine prächtige historische Fontäne gen Himmel, aber im Becken des Elefantengeheges gab es keinen Tropfen Wasser. Der Elefant, ein magerer Bulle mit schlaffem Bauch, lehnte an einem geborstenen Betonpoller und nickte beständig mit dem Kopf wie ein Rosenkranz betendes Mütterchen. Sein Rüssel war eine schmutzige, über den Boden schleifende Wurst. Der Elefantenbulle hatte eine offene Wunde am Knie und auf seinem Rücken wuchs etwas Grünes, das Moos oder Schimmel sein mochte. Im benachbarten Gehege kauerte ein Flusspferd in einem trockengelegten Bassin wie etwas, das ein Ungeheuer ausgehustet hat. Die Haut des Tiers ließ mich an ausgeblichene Marzipanfiguren mit rissig gewordener Glasur in den Schaufenstern von Vorstadtkonditoreien denken. Nirgends treten die herrschenden politischen Verhältnisse deutlicher zu Tage als in den zoologischen Gärten eines Landes. Ein halbblindes Gorillamännchen saß stumpfsinnig in seinem Kot und zupfte an seinem Geschlechtsteil. Ein zerzauster Löwe, allein in einem zu engen Käfig, war zu erschöpft, um die Kinder, die ihn durch das Gitter mit Stöcken neckten, überhaupt wahrzunehmen. Unter dem Gelächter der Besucher drehte sich ein angeleintes Eichhörnchen im Kreis. Ein dürrer Eisbär lag benommen auf einem Bett aus braunem Stroh. Spreizte der Adler die Schwingen, berührten die Spitzen den Maschendraht. All diese Tiere wiesen eine Gemeinsamkeit auf: Sie hatten etwas in ihrem Blick, an das ich mich schlagartig erinnerte, als ich, ein Schritt um Schritt greifbarere Gestalt annehmender Schemen, auf die Scheibe der Hotelrezeption zuhielt. Ganz wie bei den Zootieren ging mir etwas in Micks Blick zu Herzen, etwas Schwaches, Hilfloses, dennoch Tapferes: ein den unfreiwilligen Betrachter mit Zorn auf die Menschenwelt erfüllendes Durcheinander aus Todesangst, Gleichgültigkeit und gebrochenem Stolz. Mick zitterte, hatte die Oberlippe mitsamt dem schmalen Bärtchen in den Mund gesaugt und lutschte daran herum. Nur vier Tiere im Kaliningrader Zoo haben den Zweiten Weltkrieg überlebt: ein Flusspferd, ein Dammhirsch, ein Esel und ein Dachs. Das weiß ich, weil es mir der grauenvoll verstümmelte Wärter in dem Raum unter dem alten Bärenzwinger erzählt hatte, bevor er auf den Grund meiner Anwesenheit in der Exklave Kaliningrad zu sprechen kam und mir, wobei er wiederholt meinen Handrücken küsste, das Paket mit den Glöckchen aushändigte, den Insignien der Macht. Unvermittelt begann Mick die Papiere vor sich zu ordnen. Ich forderte ihn barsch auf, die Glastür zu öffnen, und beugte, ein Fragezeichen aus blauem Gummi, den Oberkörper zu ihm hinein, wohl wissend, dass der mich umgebende Verwesungsgeruch die ganze Rezeption ausfüllte.

»Na, wie geht’s?«, fragte ich leutselig.

Tief aus Micks Brust drang ein Wimmern. Er sah aus, als bräche er jeden Moment in Tränen aus. Am liebsten hätte ich ihn gefüttert oder gestreichelt. Im Kaliningrader Zoo hatte ich lange einen Bären beobachtet, dem der Wärter zur Belohnung Rübenstücke ins Maul warf, wenn er mit beiden Armen winkte wie ein betrunkener Fluglotse. Dieser Wärter war mein Kontaktmann gewesen. Ich gab meiner Stimme einen sanften Klang: »Ich bräuchte eine Schere.«

»Was?«

»Schere.« Ich verdeutlichte mein Anliegen mit Mittel- und Zeigefinger. »Ich muss ihre Kleider klein schneiden, damit ich sie im Klo runterspülen kann. Du hast ja sicher gesehen, was da oben vorhin los war. Was ist? Hat’s dir die Sprache verschlagen? Na, jetzt gib mir schon die Schere her! Ist das mein Abendessen?« Ich griff die Tüte, ohne Micks Antwort abzuwarten. Wieder in der Basis, also dem Bad des untersten der drei Zimmer, trank ich ein Wasserglas voll Schnaps, duschte und seifte mich dabei mehrere Male gründlich ab, steckte mir, nachdem ich mich abgetrocknet hatte, ein Paar frischer Klopapierkugeln in die Ohren, zog saubere Kleider an, blieb aber in Strümpfen, da die über dem Waschbecken abgebürsteten Schuhe vor der Tür der Basis bei den Maden und Fliegen standen. Zum Abendessen gab es hauchdünn geklopfte Kalbsschnitzel in Gorgonzolasauce und Pommes frites, die mit geröstetem Rosmarin verfeinert waren. Dazu trank ich Cola und beendete die Mahlzeit mit einer andächtig gerauchten Zigarette. Danach hockte ich mich im Schneidersitz vor die Kloschüssel und zerschnitt ihre Kleider. Schwammen vier oder fünf Fetzen im Syphon, spülte ich ab. Draußen wurde es dunkel. Ich schnippelte. Ich spülte. Ich trank Schnaps. Jérôme fragte sich bestimmt, wo ich bliebe. Ich ließ mir von Mick zwei Sixpacks bringen. Die Arbeit war nervtötend. Mein Rücken schmerzte. Ich schnippelte. Ich spülte. Die Scherengriffe drückten ringförmige Furchen ins Fleisch von Daumen und Zeigefinger. Irgendwann stand ich schon wieder unten bei Mick an der Glasscheibe und hörte mich vom Kaliningrader Zoo erzählen. Und immer öfter zog es mich zu dem rauschenden Leiberhaufen jenseits der Tür der Basis, in dem sich nun ein Geheimnis verbarg, eine Kammer voller Schmuck und Waffen in einem vorzeitlichen »Hünengrab«.

 

Denke ich an diesen Abend, taucht ein weiteres Erinnerungsbild auf: Mick, der aus dem Bad kommt, schluchzend, panisch, den Holzgriff der tropfenden Saugglocke in der Hand, und sich in krampfartigen Schüben vor dem Haufen erbricht. Ich schaltete schnell und sagte: »Mach das mit diesem Mantel da weg – und dann entsorgst du ihn auf dem Heimweg.« Während er das Erbrochene aufwischte, fragte ich: »Hast du Familie?« Mick kaute an der Lippe, schwieg und sah zu Boden, als hoffte er, so unsichtbar für mich zu sein. »Ich habe ein Geschenk für dich!« Ich legte ihm den Ledergürtel mit der gemmenähnlichen Schnalle um den Hals. Ein Geschenk ist eine fürchterliche Verpflichtung. Nimmt man es an, ist man für alle Zeiten vom Schenker abhängig. Die wenigsten Menschen wissen das. Kaum jemand vermag sich zu wehren – zu groß ist die Verlockung, zu süß der ausgeworfene Köder. Mick stand, den Mantel zu einem Bündel gerollt, vor mir. Ich fand ihn niedlich. »Hast du Kinder?«, fragte ich. »Wenn du eine Tochter hast, dann schenk ihr den Gürtel. Er wird ihr Glück bringen. Oder schenk ihn deiner Frau oder deiner Mutter. Der Gürtel wird nämlich jeder Frau Glück bringen, die ihn trägt. Magst du ein Bier? Eine Zigarette?«

Und wieder schnippelte ich. Und spülte. Inzwischen war das Hotel zum Leben erwacht. Stimmen, Türenschlagen, Gelächter, Gehuste. Einmal, als ich in den Flur hinausspähte, wischte eine mollige Latina den Boden und hörte dabei laut Musik. Ihr Transistorradio stand zwischen den Putzmitteln in einem mit Kordel auf einem Skateboard befestigten Karton. Ich wusch die Metallkette, trocknete sie mit dem Föhn, band sie um den Bauch. Ich kippte die Münzen ins Waschbecken, zerschnippelte den Strumpf, spülte die Fetzen ab. Ich wusch die Münzen mit Shampoo, föhnte sie trocken und steckte sie in die Hosentasche. Sie waren angenehm warm. Dann schlüpfte ich in meinen Mantel, verließ die Basis, stellte wie jeden Abend das Leergut vors Zimmer, schloss die Tür ab und zog, den Rücken gegen die Wand gestemmt und unter wüsten Flüchen und Verwünschungen, die feuchten Schuhe an. Das war die größte Schikane! Die schlimmste Zumutung! Und, bei Gott, ich würde nicht lockerlassen, bis man mir die verdammten Schuhe ersetzt hatte!

Bei Mick war ordentlich was los. Er kniete auf einem Kissen und hatte den Oberkörper über die Schenkel des neben ihm sitzenden Studienrats aus dem Pizza-Laden gelegt. Dieser streichelte ihm begütigend den Rücken und summte dabei, ohne sich von meiner Anwesenheit beirren zu lassen, ein Wiegenlied. Der Blick, mit dem der mütterliche Tröster durch mich hindurchsah, hatte beileibe nichts Zootierhaftes: Vielmehr war er ohne deutbaren Ausdruck. Das gefiel mir nicht. Hinter den beiden stand breitbeinig und mit in die Seiten gestemmten Fäusten die Latinaputze. Ihr Gesichtsausdruck war, was mir gleichermaßen missfiel, sorgenvoll. Doch da bemerkte ich, dass sie den Gürtel mit der keltischen Gemme trug. Ich lachte lauthals, pulte die Klopapierkügelchen aus den Gehörgängen und verließ das Hotel im Bewusstsein, alles richtig gemacht zu haben. Die roten Schlieren der Bremslichter. Die blendende Grelle der Scheinwerfer. Dampfsäulen über den Kanaldeckeln verwehten, bildeten sich schwankend neu, die Geister der Algonquin. Die Gehwege ein Gedränge, Geschiebe – alle Welt schien in dieser Nacht unterwegs zu sein. In der Oblast Kaliningrad hatte ich mit dem Bus von Neman nach Sowetsk fahren müssen. Man zahlte nicht beim Fahrer, einem finsteren Halbaffen, der neben goldenen Abziehbildchen von Ikonen auch ein Porträt Stalins auf dem Armaturenbrett kleben hatte, sondern bei einer alten gedrungenen Frau mit Kopftuch, die mit einer Bauchtasche voller Fahrkartenrollen zwischen den Fahrgästen umherging. Die Straße hatte Schlaglöcher, der Fahrer steuerte wie ein Wahnsinniger, doch die Alte schwankte nicht. Sie bewegte sich so sicher wie ein Matrose auf Deck bei heftigem Seegang, und nicht anders kam ich mir in dieser Nacht vor: Ohne zu schwanken schritt ich durch eine Purzelbaum schlagende Welt, die nicht die meinige war, eine Welt, in der ich gefangen blieb wie in einem von einem Affen gesteuerten Bus zwischen zwei Orten, wo ich nicht sein wollte.

Ich kaufte im Liquor Store in der 1st Avenue, wo man mich inzwischen als Stammkunden zuvorkommend bediente, zwei Flaschen Wodka und winkte ein Yellow Cab an den Bordstein. Schwärze. Meine Erinnerungen setzen erst wieder damit ein, dass der Taxifahrer mir Geld aufzunötigen versuchte, damit ich endlich ausstieg. Widerstrebend nahm ich die Scheine an und setzte mich einer Laune nachgebend in den Park vor meinem damaligen Zuhause, das als mahnender Zeigefinger zwischen den um einiges niedrigeren Hochhäusern aufragte. Tagsüber war der Park voller Liebespaare und fetter dreist bettelnder Hörnchen, aber in der Nacht hörte man hinter den Bänken die Fixer und Penner durchs Gestrüpp kriechen. Mir konnte nichts passieren. Cal saß auf der Bank gegenüber und schüttelte jedes Mal, wenn ich ihn fragend ansah, den Kopf in mitleidigem Unverständnis, als würde er etwas, das ich tat oder getan hatte, nicht billigen. Die Luft war kalt und roch trotz der Abgase winterlich. Dann und wann raschelte ein Windstoß im Laub unter der Bank. Ich klimperte mit den Münzen in der Hosentasche, rauchte, dachte nach. Cal schien mir etwas sagen zu wollen. Ich machte eine fragende Gebärde. Cal schüttelte den Kopf und ging. Ich sah ihm nach, rauchte eine weitere Zigarette und machte mich wenig später mit dem Entschluss auf den Heimweg, Jérôme von Cals Auftritt im Park zu erzählen … dem Blick der Tiere im Kaliningrader Zoo … der Mission nach Russland, die so fürchterlich fehlgeschlagen war … der Fahrkartenverkäuferin im Bus, die nicht schwankte, niemals schwankte … dem Hotel … den unzähligen Leichen im Hotel … der frischen Leiche mit der blassen Haut. »Jérôme«, würde ich sagen, »es gibt eine Art der Traurigkeit, die nie mehr zu lindern ist.«

In der Wohnung blieb es selbst auf mehrmaliges Klingeln still. Nachdem ich eine Weile ergebnislos erst mit dem Fingerknöchel, dann mit der flachen Hand an die Tür geklopft hatte, stellte ich die Schuhe auf die Fußmatte, sperrte leise auf, wickelte einen Teil der Kette um den linken Unterarm, ließ das lose Ende mit der rechten Hand kreisen und schlich auf Zehenspitzen durch die dunkle Wohnung. Ich fand Jérôme stumm weinend in der Küche. Er saß auf dem Boden und hatte den Rücken an den Kühlschrank gelehnt. Ich schaltete das Licht an, band die Kette wieder um den Bauch, massierte das linke Handgelenk. Vor Jérôme war ein befremdliches Sammelsurium ausgebreitet: eine Suppenterrine voller trocknendem Haferschleim, den er offensichtlich nicht angerührt hatte, mein Handy, das ich heute mitzunehmen vergessen hatte, ein Löffel, mit dem er wohl den Haferschleim essen wollte, ein Buch, dessen Titel ich nicht lesen konnte, da er für mich auf dem Kopf stand und sich zudem über mehrere Zeilen erstreckte, ein Notizbuch, an dem ein Plastikkugelschreiber eines mir wohlbekannten Autohauses klemmte, sowie eine Unzahl benutzter und zerknüllter Papiertaschentücher.

Jérôme war, was Mimik und Gestik betraf, das absolute Gegenteil von Cal. Was sich bei diesem als mühsam antrainiertes Zuwenig zeigte, war bei Jérôme ein Vielzuviel, das mich nach all den Jahren immer noch verblüffte: sein wildes Gestikulieren, sein Grimassieren, die aufgerissenen Augen der Ratlosigkeit, der Dackelblick der Zufriedenheit, das buckelnde Stirnrunzeln großer Sorge. Aber an diesem Abend im Oktober erschreckte er mich mit einem Ausdruck allumfassenden Leids, wie ihn kein Bildhauer besser aus dem Stein hätte schlagen können. Ich sprach ihn an, er schien mich nicht wahrzunehmen. Ich ging neben ihm in die Hocke, nahm die Mütze ab, steckte eine Zigarette an. Als er mich endlich erkannte, griff er nach mir wie ein Kind nach einem verloren geglaubten Spielzeug und begann, was mich mehr als sein emotionaler Zusammenbruch erschütterte, in der alten Sprache wehzuklagen.

»Hör auf damit!«, sagte ich heiser. »Sie könnten uns abhören!«

»Sie taten es«, entgegnete er noch immer in der alten Sprache und zog zur Bekräftigung eine Handvoll Wanzen aus der Tasche des Bademantels: Elektroschrott.

»Hast du die heute gefunden?«

Er schüttelte den Kopf auf seine Art. Normalerweise bewegt man beim verneinenden Kopfschütteln oder bejahenden Nicken den Kopf dreimal hin und her beziehungsweise dreimal auf und ab. Jérôme hingegen pflegte dies viermal zu tun, dann eine Pause zu machen, um daraufhin die Bewegung ein letztes Mal mit einer bekräftigenden Entschlossenheit auszuführen, die irritierend und in ihrer kindlichen Ernsthaftigkeit zugleich anrührend war.

»Wann hast du sie dann gefunden?«, fragte ich.

»Immer, wenn sie hier waren, habe ich danach alles auf den Kopf gestellt. Wenn du geschlafen hast. Ich wollte dich nicht beunruhigen.«

»Du beunruhigst mich viel mehr, wenn du in der alten Sprache sprichst.« Das Handy auf dem Küchenboden klingelte. »Und das beunruhigt mich auch.«

»Du klirrst bei jeder Bewegung wie ein Schlossgespenst.«

Das Handy klingelte erneut. »Ich bin bewaffnet. Schau da!« Ich zeigte ihm die Kette, klappte das Handy auf, lauschte: Am anderen Ende der Leitung schwoll eine erwartungsvolle Stille an wie ein Ballon kurz vor dem Platzen. »Ja?«, fragte ich. »Wer ist da? Hallo?« Langsam schälten sich Geräusche aus der Stille. Erst ein leises Klicken, dann ein kaum hörbares, schrilles, mechanisches Hämmern und schließlich ein metallisches Dröhnen und Poltern, als würde in weiter Ferne ein Zug auf ein altes Gleis rangiert. Ich klappte das Handy zu, steckte es in die Manteltasche, sah Jérôme an. Der schüttelte den Kopf auf seine Art, also fünfmal, und sagte, noch immer die alte Sprache benutzend: »Das ist alles meine Schuld. Du darfst nicht … Ich habe«, frische Tränen liefen über seine fleischigen, in Bewegung geratenen Wangen, »alles falsch gemacht.« Er atmete pfeifend ein, wischte sich die Nase mit dem Handrücken und hob die Arme, um sie kraftlos fallen zu lassen. »Ich habe alle in mich gesetzten Erwartungen enttäuscht.« Er räusperte sich. »Wie konnte es bloß so weit kommen? Waren es die Leute, die dich großgezogen haben? Aber du musstest lernen, wie es hier zugeht! Es waren doch keine bösen Menschen! Oder waren sie böse?«

Als ich Jérôme zum ersten Mal sah, tobte um uns die Schlacht, die das Ende meiner Kindheit bedeutete. Die Feste brannte. Außerdem war es dem Feind gelungen, die Gräben, Kriechtunnel und sämtliche Tore zu überwinden und er breitete sich nun in unserer Zuflucht aus wie ein Krebsgeschwür. Schwert klirrte auf Schwert, Befehle wurden gebrüllt, Lanzen aus Holz splitterten an Harnischen, Armbrüste wurden knarrend gespannt, Bannsprüche brachten die Luft zum Vibrieren, verkohlte Balken stürzten von der Decke, Flüche aller Farben durchzuckten die rauchgesättigte Luft. Direkt neben mir wurde eine Leuchtkugel von ihrem hölzernen Sockel gestoßen und zerschellte vor meinen Füßen – befreit stoben die Johanniswürmchen davon, wurden unsichtbar vor den durch das geborstene Portal in den Saal leckenden Flammen. Und inmitten dieses Tumults stand Vater in seiner strahlenden Kriegsrüstung. Er hatte sich auf sein rot triefendes Langschwert Blutvogel gestützt und sprach: »Man hat uns schmählich verraten. Heute also ist der Tag, an dem die letzte Feste fällt. Das, mein Sohn, ist mein Freund Jérôme. Er ist der Einzige, dem ich noch vertraue. Ich gebe dich hiermit in seine Obhut.« Ich bemühte mich, nicht in Tränen auszubrechen, denn ich fürchtete mich sehr vor der ungeschlachten Gestalt mit dem blutverschmierten Lederharnisch, die unter plumpen Verbeugungen vortrat und den Helm mit dem Nasenschutz abnahm, um sich erneut – tiefer als zuvor – vor mir zu verbeugen. »Rasch! Wir haben keine Zeit für Ehrerbietungen«, sagte Vater. »Nimmst du das dir von mir übertragene Los an?« – »Ja, mein Herr«, sagte der Unhold, »ich nehme es an.« – »Dann setz den Helm auf und rette meinen Sohn, als wäre er dein eigen Fleisch und Blut!« Jérôme nahm mich auf den Arm, während Vater uns – das Schwert im Aufwärtsbogen schwingend – den silbernen Rücken zukehrte. Ein Pfeil sirrte an meinem Ohr vorbei und bohrte sich in Vaters nur mit geflochtenen Lederbändern geschützte Kniekehle. Er strauchelte, unterbrach aber nicht den gewaltigen Streich, den er mit Blutvogel gegen die anrückende Schwärze führte. Ich trat um mich, schrie vor Wut und Verzweiflung, doch ungeachtet meiner Proteste trug Jérôme mich aus der brennenden Feste. »Du machst jetzt besser die Augen zu!« – »Du hast mir nichts zu befehlen.« – »Nein?« Er lachte. »Dann halt ich dir eben die Augen zu, kleiner Mann!« – »Hör auf damit!« – »Pah! Wenn du nicht augenblicklich still bist, halt ich dir auch noch den Mund zu!«

 

Wochenlang versteckten wir uns in den Wäldern, verwischten unsere Spuren mit Farn, tarnten unsere Fährte mit Rehlosung, lagen mit den Wildschweinen im Schlamm, die uns Pilze, Bucheckern und Eicheln brachten, wärmten uns an einer heißen, nach Schwefel riechenden Quelle in den Verliesen der geschleiften Feste von Karlsminde, warteten vergeblich auf Nachricht in den Ruinen der schon lange vor meiner Geburt gefallenen Feste von Birkenmoor. Und wieder mussten wir in die Wälder fliehen. Marder brachten uns braun gescheckte Vogeleier und kleinere Nagetiere, Eichhörnchen brachten uns nach vermodertem Laub schmeckende Nüsse, an denen feucht und schwarz der Waldboden klebte, einmal – aber vielleicht stammt dieses Bild aus einem Kinderbuch – kam sogar ein alter Igel in unser Versteck getrippelt und brachte uns vergorenes Fallobst auf seinem stachligen Rücken. Schließlich gab man die Hatz auf und wir wagten es, den Ort aufzusuchen, wo sich die Feste von Krusendorf erhoben hatte, die Heimat. Seither weiß ich: Das, was manche »Schicksal« und andere »Gott« nennen, ist nicht nur ungerecht und grausam, sondern auch zutiefst böse, nimmt es einem doch mit einer heimtückischen Zielsicherheit immer dasjenige, was einem am allerwichtigsten ist. Nimmt es, zerschlägt es und zerstampft die Scherben dann im Mörser der Hirnschale zu Staub. »Wir verstecken uns hier, bis es dunkel ist. Vorsicht! Siehst du diese Spur? Hier patrouillieren sie regelmäßig.« – »Wo ist Vater?« – »Still! Da kommen sie. Und du weißt ja: Wenn ich rufe wie der Waldkauz, rennst du, so schnell du kannst, zur See und watest so tief hinein, bis nur noch dein Kopf aus den Fluten schaut.« Der Jérôme von damals war eine Furcht einflößende Gestalt, die auf alle Fragen eine Antwort wusste, und nun hockte dieser Koloss heulend vor mir in der Küche. Das kam vom vielen Bücherlesen!

Ich nahm ein Bad, zog mich mit dem Wodka in mein Zimmer zurück. Aber bevor ich, ein Boot ohne Steuermann und Besatzung, vom Vollrausch, einem schlangengleich gewundenen Flusslauf, in den schwarzen traumlosen Ozean des Tiefschlafs glitt, erwischte mich die Leere. Die Leere hat Glasfinger. Das Lachen der Leere ist eine Sensenklinge, die den Raum in zwei gleich große Halbkugeln aus gelierter Luft teilt. Der Geruch der Leere ist der Moment, kurz bevor man den Eindringling im Schlafzimmer riecht. Man könnte auch sagen: Die Leere ist das Gefühl, irgendwo zu sein, wo man ein Fremder ist, wo man – wie ich damals in Russland – die Sprache nicht versteht, die Schrift nicht lesen kann und nicht weiß, was Bankhaus, was Kneipe ist, wo man das Essen nicht kennt, nicht verträgt, und nur Wodka den Körper davon abhält, die Nahrung aus allen Löchern gleichzeitig zu verspritzen – und alle erwarten etwas von einem, das man nicht erfüllen kann, da dieses Etwas ein nicht greifbarer, vorwurfsvoll-freundlicher Nebel ist.

Am nächsten Tag ging es Jérôme besser. Er hatte einen Kuchen gebacken und mich überredet, mit ihm zu frühstücken. Aber weil ich schwer verkatert war, konnte ich nichts essen. Aus Höflichkeit schenkte ich mir ein Glas Wasser ein. Jérôme war – wie so oft in letzter Zeit – in Predigerstimmung. »Das, was du zur Zeit tust«, verkündete er, »ist eine Art Exoskelett für dich. Ohne diese Tätigkeit würdest du zusammenbrechen. Und das wissen sie und nutzen es aus. Du tust, was sie dir befehlen, weil du dadurch eine unendliche Schuld von deinen Schultern abzuwälzen glaubst, die nur jemand kennen kann, dem alles genommen wurde.« Er rührte Honig in seinen Kaffee. »Aber wenn du diese, nennen wir es mal, Aufgabe erledigt hast, ist es keineswegs so – ich hoffe, das beunruhigt dich jetzt nicht –, dass alles anders wird. Nichts wird sich ändern. Alles wird weitergehen wie bisher. Das Einzige, was sich ändern könnte und hoffentlich schon geändert hat, ist das Gefühl, mit dem du dem Leben begegnest. Drücke ich mich verständlich genug aus? Denkst du an das Ende deiner gegenwärtigen Aufgabe, scheint sich vor dir ein regelrechtes Geflecht von Möglichkeiten zu öffnen. Das Schlimme daran ist jedoch, dass du unter all diesen Möglichkeiten, die sich dir mehr oder weniger verheißungsvoll darbieten, eine Wahl treffen musst. Du musst, um ein abgeschmacktes Bild zu verwenden, einen Weg unter vielen Wegen wählen und hoffst natürlich, dass der ausgewählte Weg der richtige ist. Bleiben wir noch eine Weile bei diesem Bild. Unter diesen zahllosen Wegen gibt es solche, die breiter und bedeutender sind als die anderen, Wege, die den Kurs festlegen, wohin die Reise gehen soll. Einen derartigen Weg zu erkennen und zu wählen, steht dir nun bevor, oder du hast ihn bereits gewählt oder hast verabsäumt, ihn zu wählen. Hör mir bitte zu! Das ist wichtig! Freunde wie ich oder Menschen, die vorgeben, welche zu sein, versuchen dir bei der Wahl des Weges zu helfen. Mal liebevoll beratend, mal in der despotisch bornierten Haltung der Besserwisserei. Aber letztendlich – und das ist kein großer Trost – bist du es ganz allein, der die Wahl trifft, der eine Wahl treffen muss.« Er sprach immer schneller, da er zu Recht befürchtete, ich würde mir den Quatsch nicht viel länger anhören. »Die Verantwortung, bei dieser Wahl keinen Fehler zu machen, wiegt schwer, denn frei in seinen Entscheidungen zu sein, bedeutet nicht, frei von der Verantwortung für die Entscheidungen zu sein, die man trifft. Es ist kein leichtes Unterfangen, den einen, den richtigen Weg unter vielen zu wählen. Und so wird es unzählige Manöver geben, sich dieser Wahl mehr oder weniger geschickt zu entziehen.« Er rührte einen zweiten Esslöffel Honig in seinen Kaffee und fuhr fort: »In der Psychologie gibt es einen Begriff namens ›Regression‹. Jetzt reg dich nicht auf und lass mich weitersprechen! Lass mich bitte nur dieses eine Mal weitersprechen, auch wenn ich mir zu viel anmaße! Wo war ich stehen geblieben? Regression. Und du willst wirklich keinen Kaffee? Nicht vielleicht ein kleines Stückchen von dem Kuchen? Da sind zwölf Eier drin und fünf Tafeln Schokolade. Entschuldigung, dass ich gefragt habe. Ich meine es doch bloß gut mit dir. Und ich verkneife mir auch den Hinweis, dass man den Hammer sehen kann, den du in deinen Gürtel gesteckt hast. Ein Zimmermannshammer? Und wieso diese Kette? Hast du nicht manchmal das Gefühl, dass dir alles entgleitet, schon längst entglitten ist? He! Bleib sitzen und hör mir bitte noch ein bisschen zu! Ich bin noch nicht fertig.«

»Dann komm endlich zur Sache! Du bist wieder mal unerträglich!«

»Hör mir um deines Vaters willen zu!«

»Du Schwein! Das hättest du nicht sagen sollen.«

»Regression. Unter diesem Phänomen versteht man in der Psychologie das Zurückfallen auf frühere, kindliche Stufen der Triebvorgänge, also das Abgleiten in einen Seinszustand, wo man selbst keine Entscheidungen treffen muss, weil das andere – und zwar meist die Eltern – für einen tun. Aber was spricht denn überhaupt gegen die Regression, also gegen die Flucht aus der uns ängstigenden und bedrängenden Freiheit? Unser Lebendigsein spricht dagegen. Der Wunsch nämlich, ein gutes Leben zu führen, seine Chancen zu nutzen, ein glückliches Leben zu führen – und die Ahnung, dies nur tun zu können, wenn man eine Wahl hat, wenn man also Entscheidungen trifft, über die man im Rückblick sagen kann: Damals habe ich mich so und nicht anders entschieden und ich bin heute nur Ich, weil ich mich damals so und nicht anders entschieden habe. Ein deutscher Philosoph namens Hans Vaihinger –«