Der Bahnhof von Plön

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Fest entschlossen, alles zur vollsten Zufriedenheit meiner Auftraggeber auszuführen, und zugleich im Bestreben, meinen Beobachtern gehörig Angst einzujagen, betrat ich mit einem breiten Bühnengrinsen das von Maden und Fliegen bevölkerte Reich des infernalischen Gestanks und des raspelnden, zischenden, jeden klaren Gedanken im Keim erstickenden Rauschens. Legionen von Fliegen umschwirrten mich, setzten sich mir auf die Lippen und in die Augenwinkel, versuchten in meine schnaubenden Nasenhöhlen zu kriechen, paarten sich in meinen Brauen und versanken im Hitlerbart aus Zahnpasta wie Beeren in einer Quarkspeise. Die rasch trocknende Zahnpasta spannte zwischen Oberlippe und Nase, und fast spürte ich, wie gezackte Risse die Oberfläche aufbrachen und sich zu weit klaffenden Canyons auswuchsen. Leider überdeckte die Zahnpasta kaum den Fäulnisgeruch.

Ich konnte schlecht denken. Ich stand nur da und schaute. Obwohl ich diesmal darauf vorbereitet war, stand ich so erstarrt wie beim ersten Mal vor der schieren Ungeheuerlichkeit dessen, was sich meinen Augen darbot. Hätte ein Maler gemalt, was ich in diesem Raum sah, hätte man ihn entweder für den Rest seines Lebens eingesperrt oder wie einen Gott verehrt. Ich stand in einem vergleichbar halb ehrfürchtigen, halb gelähmten Zustand inmitten des mit Leichen vollgestopften Hotelzimmers, wie ich einige Tage zuvor, und das ist wirklich wahr, vor Le Radeau de La Méduse gestanden hatte. Doch weder zu diesem Zeitpunkt noch zu einem späteren in dieser Lebensphase, die ich wie narkotisiert oder ferngesteuert durchlebte, dachte ich an dieses Gemälde. Erst mit den Jahren habe ich – oder hat sich – eine Verbindung zwischen dem Raum voller Leichen und dem Bild hergestellt, eine Verbindung, die ich damals nicht zu erkennen imstande war, obwohl ich es, ungelogen, einige Tage zuvor bewundert hatte, oder die niemals da war und vielleicht nichts als ein trickreiches Manöver meines Verstandes ist, etwas Unbegreifbares etwas begreifbarer zu machen.

Im Jahr 1819, wenige Jahre vor seinem Tod, reichte der Maler Théodore Géricault ein großformatiges Ölgemälde unter einem verschleiernden Titel beim Pariser Salon zur Ausstellung ein. Das Bild wurde aus Gründen, über die hier nur spekuliert werden kann, angenommen, denn jeder Salonbesucher begriff sofort, was hier auf erschlagenden 7,16 × 4,91 Metern angeprangert wurde. 1816 war die Fregatte La Méduse vor der westafrikanischen Küste auf Grund gelaufen. Der unerfahrene, aber des ungeachtet äußerst von sich überzeugte Kapitän Hugues Duroy de Chaumareys ließ, da nicht ausreichend Platz in den Rettungsbooten für die etwa vierhundert Menschen an Bord war, ein Floß aus den Masten und Rahen des havarierten Schiffes bauen, das von den sechs Beibooten gezogen werden sollte; in einem von ihnen saß natürlich er, ein glatt rasierter Herr mit femininer Gestik und pompösen Manieren.

Das Floß war mit den Ausmaßen 20 × 7 Meter etwa drei Viertel größer als Géricaults Ölgemälde und hatte 149 Menschen zu tragen: hauptsächlich Infantristen, die eigentlich ihre Waffen an Bord des auf den Sandbänken von Arguin zerbrochenen Schiffes hätten lassen sollen, eine Handvoll Seeleute mit bunten Kopftüchern und Ohrringen, einige wenige sich an ihre Taschen und Reisekisten klammernde Verwaltungsbeamte und ein gutes Dutzend junger Naturforscher, die ihrer beginnenden Karriere mit bahnbrechenden Aufsätzen und Monographien über die Tier- und Pflanzenwelt der seit kurzem wieder unter französischer Flagge stehenden Kolonie Senegal auf die Sprünge zu helfen hofften. Über die Gründe dessen, was dann geschah, gibt es nur Mutmaßungen. Jedenfalls ließ der Kapitän, als Land in Sicht kam, die Taue kappen, die das tiefgehende, wellenüberspülte Floß mit den Rettungsbooten verbanden. Gischt sprühend schossen die mit einem Mal federleichten Boote davon, aber das Floß blieb zurück und trieb – sich behäbig um die eigene Achse drehend – wieder hinaus auf die hohe See.

Mit den Tagen gingen den Männern auf dem Floß die Vorräte aus. Es kam zu ersten Selbstmorden und Exekutionen. Auch das Trinkwasser wurde bald knapp. Man begann Exkremente zu verzehren. Die Nächte waren der Tod für jeden, der am Rand stand. Die Tage waren Botschaften für die Starken in der Mitte des Floßes. Dann folgten Nächte mit Träumen, in denen es Tag war. Und für manche war nun der Sonnenball selbst nachts das unaufhörlich gleißende Auge, das in jedem Gehirn lesen konnte wie in einem Buch aus Fleisch. Lasst uns den ins Meer stoßen, las die Sonne, er ist schwach. Und diesen auch, las die Sonne. Und dann diese beiden dort drüben, denn sie trinken uns das Wasser weg. Der Hunger macht mich zum Wolf, las die Sonne. Und sie las: Dieses Fleisch ist tot. Wen schert es schon, woher es kommt. Was? Ich verstehe dein Gerede nicht! Gerechtigkeit? Hier auf diesem Floß? Nächstenliebe? Was ist das denn für ein Blödsinn! Du hältst mir doch auch nicht die andere Wange hin! Und was sind das überhaupt für freche Reden! Kommt her, Jungs! Stoßt den Herrn Doktor ins Wasser! Fresst auf, was nicht redet, nicht mehr reden kann! Was wollt ihr lieber? Salzwasser oder Blut? Ja, Jungs, aus mir spricht das Licht, das alles verzehrende Licht, in dessen weißem Schein alles Leben erstarrt!

Fast zwei Wochen später sichtet eine Brigg mit dem wie schlecht ausgedacht anmutenden Namen L’Argus das Floß der Medusa: Darauf befinden sich nur noch fünfzehn Mann, und das, was am Mastbaum und an gespannten Seilen im Wind schwingt, ist beileibe keine zum Trocknen aufgehängte Wäsche. Fragen müssen gestellt werden. Habt ihr alle von diesem Fleisch gegessen? Wer von euch hat es aufgehängt? Und was sollen wir jetzt mit euch tun? Und hinter jeder mit beschämter Stimme gestammelten Antwort tut sich wie ein bodenloser Abgrund die Frage auf, die keiner zu stellen wagt: Wie hat die Haut auf der Oberfläche unserer Zivilisation so leicht zerreißen können?

Géricaults wandgroßes Ölgemälde, das ich seither noch oft gesehen habe, zeigt das Floß mit den noch Lebenden, den Sterbenden, den wie Skulpturen aus Marmor zur Pyramide aufgetürmten Leichen – und winzig am Horizont sieht man ein Segel auf dem Wasser, die Rettung, die keine ist, denn die Rettung ist das Urteil über die Geretteten. Hätte ich mich seinerzeit auf dem Floß befunden, ich wäre einer der Überlebenden gewesen. Stehe ich vor dem Gemälde, gibt mir dieses Wissen Kraft. Aber je näher ich dem Gemälde komme, desto weniger vermag ich das darauf Abgebildete zu erkennen. Ich sehe dann nur noch, wie sich das Licht in den glänzenden Farbflächen spiegelt. Und stehe ich so nah, dass meine Hüfte die rote Kordel berührt, sehe ich nicht einmal mehr diese Spiegelungen, sondern nur noch die Struktur der Leinwand: glatte Flächen, schartige Flächen, Risse und Krater, Furchen und abblätternde Schuppen. Warum hätte ich Euch nicht essen sollen, bin ich doch keiner von Euch, war es nie und werde es nie sein? Diese Frage hätte ich den Offizieren der Argus zugerufen. Und warum, frage ich mich jetzt, ohne den Füllfederhalter niederzulegen, sollte ich nicht das tun, was ich nach Beendigung dieser Niederschrift zu tun beabsichtige, was ich tun muss? Nichts hindert mich daran! Niemand hindert mich daran!

Wie ein Hund, der einem Gewässer entstiegen ist, schüttelte ich mich ausgiebig, um der Lähmung Herr zu werden, die sich als Käseglocke aus Blei über meinen Geist und Körper gestülpt hatte. Sodann machte ich mich mit einem anklagenden Seufzer an die Arbeit und griff – um keine weitere Zeit zu verlieren – kurz entschlossen einem dünnen Mann, der rücklings auf dem Leichenhaufen lag, unter die Arme und zog ihn mehr oder weniger behutsam auf die am Boden ausgebreitete Abdeckplane. Kaum hatte ich den Leib von seinem angestammten Platz auf dem Körperberg gezerrt, mischte sich unter den durchdringenden, pelzig wie eine Pfirsichschale auf meiner Zungenoberfläche spürbaren Verwesungsgeruch eine fleischige, unangenehm gemüsige Note, als hätte jemand ein Gefäß geöffnet, in dem seit vielen Jahren ein unaussprechlich obszönes Etwas verrottete. Über der Stelle, wo der Tote mit gespreizten Armen und Beinen gelegen hatte wie ein gefallener Krieger auf einem archaischen Schlachtfeld, verdichtete sich eine flirrende Fliegenwolke, die mich für einen kurzen erschütternden Moment an einen Krähenschwarm gemahnte, der den Gipfel eines Berges oder wahrscheinlicher eines Hügels umkreist, der sich, wie ich mich plötzlich zu erinnern glaubte, in der Nähe meines fernen und, wie ich fürchtete, unerreichbaren Zuhauses erhoben hatte.

Ich stützte die Hände auf die Knie und beugte mich über die Leiche, einen nicht sonderlich sympathisch aussehenden Burschen mit der spitzen Nase eines Besserwissers, glasig ins Leere starrenden blauen Augen und einer von hervorgetretenen grünlichen Adern überzogenen Hühnerbrust, auf der man die Rippen zählen konnte. In seinen sandblonden, ihm ins verfärbte Gesicht hängenden Haaren klebten so genannte Puparien: winzige tönnchenförmige Puppen, aus denen binnen weniger Stunden die nächste Generation borstig behaarter Schmeißfliegen schlüpfen würde, um sich in geistloser Gier zu laben, sich im faulen Fleisch zu paaren und ihr weiß durchscheinendes Gelege im butterweichen Leibermeer abzusetzen. Auch im Schamhaar des Mannes hingen klumpenweise Puparien wie Fischlaich an den Wurzeln einer Wasserpflanze. Die Leichenstarre hatte sich schon lange aufgelöst, und nach dem fortgeschrittenen Grad der Verwesung zu urteilen, war er seit Tagen tot. Maden kullerten aus Nasenlöchern und Mundwinkeln, als ich den schlaffen, glitschigen, am Bauch amphibisch geschwollenen Körper auf der Suche nach Verletzungen auf den Bauch drehte, aber weder eine Schuss- oder Stichwunde noch eine Kopfverletzung oder eine sonstige Läsion fand. Meine Lederschuhe waren inzwischen besudelt und völlig ruiniert.

Mir wurde schwindlig. Ich richtete mich auf und streckte und dehnte mich, ehe ich die Leiche in die Plastikplane einschlug. Ich schulterte sie wie ein Möbelpacker einen zusammengerollten Teppich und trug sie – Füße voraus – nach unten, während hinter mir etwas Lauwarmes und Feuchtes, das wohl aus Mund oder Nase der Leiche kam, auf meinen unteren Rücken und die Waden troff. Mit den Füßen des Toten stieß ich die angelehnte Tür des zweiten Zimmers auf, ließ ihn von der Schulter gleiten und rollte ihn aus der Folie, wobei seine Arme wild um sich peitschten wie die eines Ertrinkenden, kurz bevor schwarze Wellen über ihm zusammenschlagen: Geduldig, endgültig und unendlich gelangweilt von allem Lebendigen rollen die Wellen über den Ertrinkenden hinweg – in einem unergründlichen Rhythmus, der fast so alt ist wie die Zeit. Die Leiche kam bäuchlings inmitten des Zimmers zu liegen, der Grundstein des Fundaments, auf dem ich nun den oben Leiche um Leiche abgetragenen Haufen neu errichten müsste, ein Unterfangen, das mich vermutlich mehrere Tage in Beschlag nähme.

 

Ich klemmte die Folie unter den Arm und verließ das Zimmer. Maden krümmten sich auf den hölzernen Treppenstufen. Schmeißfliegen setzten sich auf mein Gesicht. Schweiß rann aus meinen Brauen und brannte in den Augen. An Rücken, Hintern und Unterschenkeln klebte der Overall an der Haut. Als ich innehielt und den Kopf nach hinten drehte, um die nassen Flecken auf dem Stoff zu begutachten, drängte sich eine stark geschminkte Frau an mir vorbei. Sie erweckte den Eindruck, als wäre sie auf der Flucht. Ich starrte ihrem voluminösen, im ledernen Minirock schlingernden Hintern nach und beleckte dabei unwillkürlich die Lippen. Nach einem Spaziergang am Strand schmecken die Lippen salzig nach Ostsee, nach Auster, nach Tang. Meine Lippen dagegen schmeckten so, wie es im Raum mit den Leichen roch. Ich spuckte mehrmals aus, sah hoch zur Kamera. Der arme Mick klebte bestimmt, einen silbernen Sabberfaden im Mundwinkel, an den Bildschirmen und konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was ich als Nächstes aus dem obersten der drei Zimmer schleppen würde. Um ihn zu verblüffen, meine Kräfte zu schonen und nicht vorzeitig zu ermüden, griff ich ein etwa fünfjähriges Kind an jeweils einem Hand- und einem Fußgelenk und zog es aus dem schmatzend protestierenden Haufen. Ich verzichtete darauf, den kleinen Körper in die Folie zu wickeln, und trug ihn so nach unten, wie ich ihn aus dem Leichenberg gezerrt hatte.

Da das kaum Mühe bereitet hatte, entschied ich mich für ein weiteres totes Kind. Es war älter und schwerer, aber eben falls bequem an den Gelenken zu tragen. Nun lagen auf dem Boden des zweiten Zimmers drei unterschiedlich große Leichen nebeneinander wie Holzstämme für ein Floß. Beide Kinder trugen Unterhosen. Ich machte mir nicht die Mühe, nachzusehen, ob es sich um Jungen oder Mädchen handelte. Was hätte das für eine Rolle gespielt? Was spielte denn überhaupt eine Rolle? Ich nahm den Strumpf mit den Münzen aus der Hosentasche, der schon geraume Zeit schmerzhaft auf mein Hüftgelenk drückte, und versteckte ihn hinter der angelehnten Zimmertür. Auch die viel zu engen Gummihandschuhe nervten. Also zog ich sie unter Zuhilfenahme der Zähne aus und warf sie umgestülpt, wie sie waren, in den Flur. Von nun an würde ich ohne Handschuhe arbeiten.

Dennoch haderte ich auf dem Weg nach oben mit meinem Schicksal: Wieso musste ich alles alleine machen? Warum durfte Jérôme mir nicht helfen, obwohl er es wollte? War das Ganze eine Prüfung für mich? Waren vielleicht alle Aufträge der letzten Monate Bestandteil dieser Prüfung, deren Sinn mir unmittelbar und strahlend wie eine göttliche Offenbarung einleuchten würde, sobald man mir zum erfolgreichen Bestehen gratulierte? Aber welchen Sinn mochte es haben, eine üppige Frau, deren blasenwerfende Haut grünlich und lila schillerte, aus einem Berg verwester Leichen zu ziehen und sie sich über die Schulter zu werfen, wobei ihr das Faulgas in ohrenbetäubender Lautstärke abging? Ihre feucht glänzenden Brüste quollen aus dem BH und wogten bei jedem Schritt klebrig an meine Wangen. Ich kraxelte die enge Treppe hinab wie ein buckliger, krummbeiniger Zwerg auf Brautschau. Plötzlich rutschte die Frau unter meinem Arm nach vorn. Erschrocken grub ich die Finger fester in ihre weiche Arschbacke. Haut riss. Lauwarme Flüssigkeit ergoss sich über meinen Oberkörper und sickerte mir am Kragen in den Overall. Wieder ging ihr Faulgas ab. Schade, dass Mick den Film ohne Ton sah.

»Bleib bei uns!«, sang ich halblaut vor mich hin. »Wir haben den Tanzplan im Tal bedeckt mit Mondesglanze, Johanniswürmchen erleuchten den Saal, die Heimchen spielen zum Tanze.« Tränen füllten meine Augen, während ich mit erstickter Stimme die zweite Strophe anstimmte: »Die Freude, das schöne leichtgläubige Kind, es wiegt sich in Abendwinden: Wo Silber auf Zweigen und Büschen rinnt, da wirst du die Schönste finden!«

Wenig später scheiterte ich beim Versuch, einen außerordentlich fetten Mann zu schultern. Er hatte eine Glatze, einen grauen Vollbart voller Puparien und nichts am Leib als hautfarbene Thrombosestrümpfe. Das Geflecht hervortretender grüner Adern und Venen und zahllose wie mit feinem Pinsel aufgetragene bräunliche, rötliche und silbrige Kriechspuren schmückten seinen Körper wie polynesische Stammestätowierungen. Mir gelang es nicht, ihn in eine sitzende Position zu bringen oder überhaupt hochzuheben, und so wurde ich zornig und zerrte ihn an den Händen hinter mir her. Seine Fersen, die ich hinter dem aufgeblähten Wanst nur vermuten konnte, knallten rumsend von Stufe zu Stufe. Auch diese Leiche war unverletzt wie die übrigen, die ich bisher geschleppt hatte. Nachdem ich sie in Zimmer zwei verfrachtet und auf der Treppe und dem Fußboden des Hotelflurs eine glitzernde Schneckenspur hinterlassen hatte, suchte ich mein gekacheltes Refugium auf, befreite mich, bevor ich es betrat, so gut es ging, von den Maden, wusch die steinhart gewordene Zahnpasta ab, trank einen Schluck Leitungswasser und dachte bei einer Zigarette auf dem Klodeckel darüber nach, ob ich erst alle Leichen von Zimmer drei in Zimmer zwei und erst dann weiter in Zimmer eins transportieren oder ob ich nicht lieber einige Leichen in Zimmer zwei sammeln und sie dann sofort nach unten in Zimmer eins transportieren sollte? Letzteres erschien mir vernünftiger, als im zweiten Zimmer einen weiteren Leichenberg wachsen zu lassen, der danach – wie der erste – in Gänze von mir abgetragen werden müsste. Ich erinnerte mich an das Rauschen und Rascheln der sich aneinander reibenden Maden, das ich die ganze Zeit über zu verdrängen versucht hatte, und mir grauste. Mit dem Geruch konnte ich leben, nicht aber mit diesem grässlichen Geräusch!

Mick hatte den Kopf erhoben und sah mir mit leicht stierem Blick entgegen. Dabei strich er sich mechanisch über den schmalen Oberlippenbart.

»Ich hätte einen kleinen Auftrag für dich, mein Freund«, sagte ich.

»Ja?«, fragte er. Seine Stimme klang belegt. Er schwitzte.

»Handtücher. Zwei Stück. Ein Kleines, ein Großes. Und einen flauschigen Duschvorleger. Und Seife. Mehrere Stückchen. Und Shampoo. Ihr habt doch sicherlich so kleine Fläschchen?« Er bestätigte es und ich fuhr fort: »Gut. Also dann mehrere dieser Fläschchen. Das alles nehme ich sofort mit, aber das ist eine Ausnahme. Ich erwarte nämlich, dass du dich von nun an darum kümmerst. Du weißt ja, wo meine Basis ist. Ich möchte, und ich hoffe, wir verstehen uns, nicht noch einmal nach diesen Artikeln fragen müssen.« Ich wies auf die Tragetaschen neben seinem Drehstuhl. »Hat das dein Kumpel für mich gebracht?« Er nickte. »Na, worauf wartest du dann noch? Her damit! Ich habe, wie du dir sicher denken kannst«, ich zwinkerte ihm anzüglich zu und bleckte die Zähne, »eine Stärkung bitter nötig.«

Bevor ich mir diese gönnte, schmierte ich jedoch erneut Zahnpasta unter die Nase und beförderte die fünf in Zimmer zwei zwischengelagerten Leichen runter in Zimmer eins. Nun war die Pause eine wohlverdiente Belohnung. Die erste Tüte enthielt eine in Alufolie gewickelte eiskalte Flasche Cola, die zweite eine Handvoll Papierservietten, einen Satz Plastikbesteck, ein mittelgroßes Styroporbehältnis voller köstlich nach Tomaten, Basilikum, Oregano und frisch geraspeltem Parmesan duftender Pasta mit Fleischbällchen und, was ich dem überängstlichen Studienrat hoch anrechnete, eingeschlagen in eine Stoffserviette ein großzügig belegtes Roastbeef-Sandwich mit Remoulade.

In einer Stadt mit beschränkter Grundfläche, wo man Wohnhäuser und Bürogebäude nicht in die Breite, sondern in die Höhe baut, gibt es kaum etwas Kostbareres als freien Raum. Mit andächtiger Scheu spricht man von jemandem, der einen Garten sein Eigen nennt, bei dem es sich jedoch, wie selbst unkritische Besucher von auswärts nicht umhinkommen festzustellen, meist um ein lächerlich winziges Schattenquadrat handelt, auf dessen modernden Holzdielen Kübel mit lappigen, nach Kompost und Abflussrohr riechenden Gewächsen stehen, die im Sonnenlicht jämmerlich verkümmern würden. Kostbarer noch als Gärten sind Parkplätze. Daher errichtet man grotesk anmutende Metallkonstruktionen, um darin mechanisch auf und ab bewegte Fahrzeuge auf mehreren Etagen zu verstauen. Oder man scheißt auf die Errungenschaften moderner Technik und stellt einen Einparker ein, der sein Handwerk versteht. Ich wartete einmal fast zwei Stunden in einem Restaurant in Chinatown auf einen Kontaktmann, der nicht kam, und hatte dabei Gelegenheit, die Arbeit des Einparkers auf dem gegenüberliegenden Parkplatz zu beobachten. Dieser befand sich in einem schattigen, zur Straße hin offenen Hinterhof, und obwohl dieser kaum größer als das Kinderbecken eines Hallenbads war, standen darauf mindestens zwanzig Autos so dicht neben- und hintereinander, als hätte sie ein spielender Riese sorgfältig Reihe um Reihe zwischen den fensterlos emporragenden Hauswänden aufgebaut. Der Einparker, ein Chinese im blauen Overall mit einem Setzkasten voller Autoschlüssel vor der Brust, war durchgehend damit beschäftigt, die Autos umzuparken, wobei er den Gehweg und die Straße als Rangierfläche nutzte. Manchmal stellte er mehrere Autos nebeneinander in Zweierreihen vor den Park platz, um einen Wagen, der frühzeitig abgeholt wurde, aus der hintersten Reihe in die vorderste zu befördern. Oder er rangierte mit wenigen geschickten Spielzügen einen gerade abgegebenen Wagen, der offenbar erst am Folgetag benötigt wurde, in eine der hinteren Ecken. Meistens aber bewegte er die Fahrzeuge nach nicht nachvollziehbaren Gesichtspunkten hin und her, hinter denen ich das Walten eines scharfen Verstandes vermutete.

Nie standen die Autos still. Immer waren sie in Bewegung. Unentwegt änderten sie ihre Position. Ich berichte dies so ausführlich, weil ich mir während des mit Heißhunger im Badezimmer verzehrten Imbisses immer mehr vorkam wie dieser Einparker in Chinatown, nur dass ich nicht Fahrzeuge, sondern Leichen bewegte – eine unzulässige Gleichsetzung, die mich heute verärgert und beschämt, gibt es doch einen entscheidenden Unterschied zwischen dem, was ich in dem Hotel im East Village zu tun hatte, und der Arbeit eines Einparkers. Außerdem erkenne ich heute in der Etikettierung der Schublade, in die mein Verstand diese beiden Tätigkeiten gestopft hatte, weniger das Ergebnis einer verifizierbaren Beobachtung als den Niederschlag einer rein subjektiven Bewertung, genährt von, ich will es keineswegs beschönigen, Selbstmitleid und einer kriecherischen, verantwortungslosen Trägheit, die mir, je länger ich darüber nachdenke, in einem abartigen, fast perversen Sinne beinahe genießerisch zu sein scheint.

Damals jedoch stopfte ich im erhebenden Gefühl, heldenhaft den Fährnissen eines unbarmherzigen Schicksals zu trotzen, Kügelchen aus Klopapier in meine Gehörgänge, warf die leere Colaflasche in den Mülleimer, verrieb einen raupengroßen Strang Zahnpasta unter der Nase, schloss die Tür meines gekachelten Refugiums, worin ich mich so wohl fühlte, als hätte mich die Zeit vergessen, würdigte die fünf ausgestreckten Leichen auf dem Fußboden keines Blickes, ließ die Tür des untersten Zimmers einen Spalt offen, ging mit geradem Rücken die glitschige und madenübersäte Treppe hoch wie ein napoleonischer Offizier zum Duell, sperrte nach einem spöttischen Blick zur an der Decke hängenden Kamera die Tür des zweiten Zimmers auf, ließ sie ebenfalls einen Spaltbreit geöffnet, drückte auf der heillos besudelten Treppe hinauf ins Obergeschoss weiterhin tapfer den Rücken durch und versuchte dabei gelassen und entschlossen zugleich auszusehen, sperrte letztendlich die Tür des dritten Zimmers auf – und erstarrte.

In der Tat dämpften die Papierkügelchen, was ich kaum zu hoffen gewagt hatte, erfolgreich das Rauschen der Maden. Und die Zahnpasta unter der Nase linderte zumindest ein bisschen den Gestank. Aber meine Augen waren schutzlos dem vor Schmeißfliegen wie eine Fata Morgana flirrenden Bild des Schreckens ausgesetzt, das, ich kann es nicht anders ausdrücken, die Existenz eines gütigen Gottes Lügen strafte. So wie wir jetzt sind, wirst du bald sein, alter Freund. Alles Leben kommt aus einem Ei. Wir sind das ganz und gar durchseuchte Gräuel, das allen Sinn zerschmettert und jegliche Hoffnung zermalmt wie dünnstes Glas. Papier zerreißt, ihr nennt es Leben. Wir fressen die Schnipsel und nennen sie Nichts. Wir sind das Nichts, das über dich kommt. Wir sind das Sein, das sich umstülpt und nach Verwesung stinkt. Leben kann vergilben. Wir blättern darin und lachen. Leben kann verkohlen. Wir nehmen es aus der Glut und zermahlen es zwischen bloßen Fäusten zu Asche. Nichts ist der Hammer aus Schlaf, der wieder und wieder zuschlägt. Wir sind die glockenhelle Stimme, die im Raum zwischen den Gestirnen singt. Wir sind das Vakuum, das allen Klang verschlingt. Schwer baumelten meine Arme an den Seiten wie Würste von den Haken einer Fleischerei. Ich spürte, wie in peinigender Zeitlupe ein Fettwulst zwischen Kinn und Hals vorquoll: Denn unwillkürlich strebte mein Gesicht nach hinten zum Nacken hin, als wäre durch bloße Entfernung die Wirkung dessen zu mildern, was alles Denken überstieg. Einparker, dachte ich. Der Einparker in Chinatown, dachte ich. Ich bin der Einparker in Chinatown, dachte ich und machte mich an die Arbeit.

 

Dumpf und nass klatschte der Leib des Kastellans auf die Plastikplane, ein prall gefüllter Sack mit Gelee oder Sülze. Die Knochen ließen sich im mürben Fleisch bewegen wie Salzstangen in warmer Butter, und mir wurde klar, dass ich diese Leiche nicht hinter mir herziehen könnte. Zöge ich an den Hand- oder Fußgelenken, würde der Körper nämlich aufplatzen wie ein Geschwür und heraus käme ein breit grinsendes Skelett geschlittert, gesalbt von eklen Säften und garniert mit Girlanden aus nagendem Gewürm. Routiniert schlug ich den Toten in die Plane, der mich wegen seines immensen Leibesumfangs und des ehemals wohl weißen Backenbarts an den Kastellan meines Vaters erinnerte. Als Junge hatte ich mich unsäglich vor dem Kastellan gefürchtet, einem jähzornigen Tyrannen mit zottigen Brauen und polternder Bassstimme, der sichtlich Befriedigung daraus zog, Bittsteller, die von den umliegenden Höfen kamen, zu verspotten oder die Dienstboten zu maßregeln. Einmal war ich zufällig zugegen, wie er vor dem versammelten Küchenpersonal abgekanzelt wurde. Vater stand am Kamin, die Arme erhoben und dem vor ihm knienden Kastellan beide Handflächen zugekehrt. Die Finger hatte Vater gespreizt, und die Edelsteine seiner Ringe funkelten rot und grün vor dem Feuer. Alle Anwesenden wirkten wie gelähmt. Der Deckel eines großen auf dem Herd stehenden Gemüsetopfes klapperte in geistloser Beharrlichkeit im Dunst aufsteigenden Wasserdampfs. Die weiß bemützten Köche und Köchinnen standen mit offenem Mund da, Messer, Bratengabeln oder Holzlöffel in der Hand, und selbst die Küchenjungen unterließen ihre Späße. Dann und wann knackte ein Holzscheit im Kamin und ein lavaorange glimmender Komet verglühte vor meinen Füßen auf den Steinplatten. Der Kastellan nahm die Lederkappe ab und legte die Stirn auf den Boden. Vater schwieg.

Jemand hob den klappernden Deckel vom Topf und man hörte von nun an nur noch das Feuer im Kamin. Nach einem Zeitraum, der mir unendlich lange vorkam, streckte der Kastellan die Arme aus, aber da begannen mit einem statischen Knistern Vaters Augen zu glühen und er drehte langsam und unerbittlich beide Handflächen, die mit einem Mal vibrierten wie Parabolantennen unter Strom, in Richtung des vor ihm auf dem Küchenboden knienden Mannes.

Anlass der Strafaktion war, glaubte ich als Kind und glaube ich jetzt, mein zahmes Äffchen gewesen, das von einem auf den anderen Tag gehinkt hatte. In diesen traumdurchwirkten Momenten vor dem Einschlafen vermeine ich oft noch heute, anstelle des Kissens das warme, sich rasch hebende und senkende Fell meines Spielgefährten an der Wange zu spüren. Es mochte am liebsten Rosinen und Walnüsse. Es konnte Wasser aus einer kleinen Tasse trinken, die mir ein fahrender Händler geschenkt hatte. An meinem Nachttisch befand sich eine verzierte Kupferöse, in welche die Leine des Äffchens mit einem winzigen Karabinerhaken eingehängt werden konnte, und beim ersten durch die Luke fallenden Tageslicht pflegte mich häufig eine Pfote mit winzigen Fingernägeln zu wecken, indem sie mir in die Nase zwickte oder in den Mund fasste. Jahre später bestürmte ich meine Pflegeeltern, mir ein Äffchen zu schenken, aber sie wollten mir nicht einmal einen Hund kaufen oder ein Kätzchen. Ein Junge in der Nachbarschaft besaß eine Schildkröte. Eines Tages, lange bevor ich meine Heimat verlor und zu den Pflegeeltern kam, fand ich ein Rehkitz. Ich sah das Kitz an. Das Kitz sah mich an. Ich stand in einem Rapsfeld. Die Sonne brannte ein Loch in den Himmel. Beseelt kehrte ich heim zur Feste, wo alle außer mir Angst vor Vater hatten. Er schlug sich auf die Schenkel, als ich ihm von dem Kitz erzählte, und sagte lachend: »Du hättest es ruhig anfassen können. Das Volk versteht sich gut mit den Tieren. Und nachts, wenn du Dinge träumst, die du nicht verstehst, sind das natürlich die Träume deines kleinen diebischen Spielgefährten, mein Sohn.« Mit Daumen und Zeigefinger hatte ich den Kopf der Schildkröte aus dem Panzer gezogen und den runzligen Hals mit der Gartenschere durchtrennt. Das Blut roch, wie es im Amphibienhaus eines zoologischen Gartens riecht, aber mehr noch hatte mich die Farbe überrascht: Es war rot wie mein eigenes Blut und warm wie Badewasser. Ich wusch die Schere in der Wassertonne und legte sie zurück in den Pappkarton mit den Gartenwerkzeugen im Kellerregal. Der Kopf der Schildkröte, den ich ebenfalls in die Tonne getaucht und im Gras getrocknet hatte, fühlte sich in der Hosentasche an wie ein Stein. Als er nach einigen Tagen zu riechen begann, wickelte ich ihn in Klopapier und spülte ihn die Toilette runter.

Die triefnasse Plane nachziehend, ging ich wieder nach oben. Mick käme nicht umhin, das Treppenhaus feucht aufzuwischen. In einer Anwandlung sportlichen Ehrgeizes schleppte ich gleichzeitig zwei Kinderleichen nach unten. Eine hagere Frau erinnerte mich an meine Grundschullehrerin. Ich rutschte auf der Treppe aus und schlug mir das Knie auf. Ich rutschte auf der Treppe aus und prallte mit der Schulter schmerzhaft gegen die Wand. Ich rutschte auf der Treppe aus und zerrte mir den Rücken. Eine Nutte, vielleicht sogar dieselbe von vorhin, hastete an mir vorbei und erbleichte. Ein Mann im Trenchcoat sah mich flüchtig an und schlug den Kragen hoch. Zum Glück befand ich mich beide Male auf dem Weg nach oben und hatte keine Leiche dabei. Köpfe knallten auf Stufen. Fingernägel kratzten an Tapeten. Säfte rannen mir über den Rücken. Bisweilen drang das Jaulen einer Polizeisirene durch die Hotelmauern. Junge Männer ließen sich am besten schultern. Nackte Frauen stimmten mich unbehaglich. Es waren, wie ich fand, bemerkenswert viele Dicke unter den Leichen. Das Rehkitz hatte blau-grüne Augen gehabt wie Mutter. Je dicker jemand war, desto feuchter wurde die Angelegenheit. Hinter einer Tür übte jemand auf einem Banjo. Ich sagte Gedichte auf. Ich schwitzte den Overall durch. Ich aß frittierte Zwiebelringe und einen Burger mit Mozzarella. Mick hatte die Tüte mit den Speisen zwischen Eisenkette und Klo auf dem Boden meines Refugiums abgestellt. Vermutlich, damit ich ihm keinen weiteren Besuch an der Rezeption abstattete. Bei der Flucht hatte niemand an das Äffchen gedacht, und so war es an den Nachttisch angeleint zurück in der Feste geblieben. Ich stellte fest, dass ich die Augenfarbe des Äffchens vergessen hatte. Sein Fell war an Brust und Bauch besonders weich. Mein Knie tat weh. Meine Schulter tat weh. Mein Rücken tat weh. Die Haut zwischen Nase und Lippe juckte. Ich beschloss, die Waffen im Hotel deponiert zu lassen. Unter meinem Auge zuckte ein Nerv. Ich spreizte die Finger und betrachtete lange meine Hände. Ich zitterte. Es war höchste Zeit, die Arbeit für heute einzustellen.