Die Beobachtung als Methode in der Soziologie

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

2.2.4 Offene versus verdeckte Beobachtung

Unter offener versus verdeckter Beobachtung wird hier die Frage diskutiert, ob das Beobachtungspersonal (und im Prinzip auch die Beobachtungstechnik) getarnt sein sollte oder nicht. Die Tarnung kann sowohl dazu dienen, die Beobachteten nicht wissen zu lassen, dass sie beobachtet werden, als auch dazu, sie trotz ihres grundsätzlichen Wissens, dass sie beobachtet werden, während der Beobachtung möglichst wenig daran zu erinnern. Durch beides soll vermieden werden, dass die Beobachteten ihr Verhalten ändern, weil ihnen in der Situation bewusst ist, dass sie beobachtet werden. Im Band von Webb und anderen (1975: 147) wird deshalb vom sichtbaren Beobachter gesprochen. Dann ist die Beobachtung als reaktives Verfahren einzuschätzen, bei dem ein Teil der Ergebnisse eine Reaktion auf das Datenerhebungsverfahren darstellt. Behnke (2010: 260) sagt deshalb: „Die verdeckte Beobachtung ist unter dem Aspekt der Reaktivität im Prinzip vorzuziehen, wirft aber forschungsethische Probleme auf“. Die forschungsethischen Probleme resultieren daraus, dass die Beobachteten mit der Tarnung bewusst getäuscht werden. Darüber hinaus wird ihre Entscheidung eingeschränkt, ob sie beobachtet werden wollen oder nicht.

Die Frage nach der Tarnung des Beobachtungspersonals sowie der dazugehörigen Technik ist auch relevant, weil sie in der Regel mit Einschränkungen für die Durchführbarkeit verbunden ist. Eine insbesondere in der Psychologie sowie der Marktforschung lange Zeit übliche Tarnung besteht in der Beobachtung durch einen Einwegspiegel (Kuß, Wildner & Henning 2014: 311). Mit entsprechendem Vorgehen ist aber automatisch eine große räumliche Distanz zwischen Beobachtungspersonal und Beobachteten sowie meist ein eingeschränktes Sichtfeld verbunden, was die Möglichkeit zur Protokollierung verändert. Dabei mag negativ zu Buche schlagen, dass relevante Aspekte so nicht gesehen werden können, positiv hingegen, dass die Materialien und Hilfsmittel zur Beachtung frei und ungestört genutzt werden können. Vor der Konzeption der Beobachtung muss deswegen genau abgewogen werden, ob eine Tarnung der Beobachtung nötig ist, wie diese sinnvollerweise aussehen könnte und welche Auswirkungen sie auf die Durchführbarkeit der Protokollierung mit sich bringt. Dabei spielt oft auch eine Rolle, wie am Beobachtungsgeschehen teilgenommen wird, denn das könnte Teil der Tarnung sein.

In der Beobachtungsliteratur wird der Begriff offene Beobachtung (vor allem im Kontext der teilnehmenden Beobachtung) oft für qualitative Untersuchungsanlagen gebraucht, bei denen die Art der Protokollierung nicht festgelegt ist. Um Missverständnisse zu vermeiden, wird der Begriff offen für nicht-standardisierte Erhebungsverfahren vermieden und hier für die Frage nach der Tarnung reserviert.

Die Unterscheidung zwischen offener und verdeckter Beobachtung wird in praktisch allen Einführungskapiteln zur Beobachtung diskutiert, allerdings fast ausnahmslos mit einem anderen Fokus, nämlich der Transparenz. Bei der verdeckten Beobachtung dürfen die Beobachteten nicht wissen, dass sie beobachtet werden. Dabei wird die Frage der Tarnung, um auch den eingeweihten Beobachteten die Beobachtungssituation möglichst nicht bewusst werden zu lassen, eher am Rande behandelt. Und die Vorgehensweise bei Beobachtungen und dabei auftretender Probleme besser differenzieren zu können, wird die grundsätzliche Frage, ob die Beobachteten wissen, dass sie beobachtet werden, hier nicht als offen versus verdeckt, sondern als wissentlich versus unwissentlich erörtert.

2.2.5 Wissentliche versus unwissentliche Beobachtung

Die Terminologie wissentliche versus unwissentliche Beobachtung stammt von Huber (1993:132). Sie argumentiert von den Beobachteten aus und spezifiziert, ob diese wissen, dass sie beobachtet werden, oder nicht. Solange die Beobachteten gar nicht wissen, dass sie beobachtet werden, können sie ihr Verhalten nicht danach ausrichten, indem sie z.B. sozial unerwünschte Verhaltensweisen vermeiden oder Verhaltensweisen zeigen, um den Beobachtenden zu helfen oder zu gefallen. Wissen Sie es aber, ist eine Ausrichtung ihres Verhaltens gemäß üblicher Konventionen oder Erwartungen naheliegend.

Wissentliche Beobachtungen sind somit zu den reaktiven Verfahren zu zählen, weil die Untersuchten auf die Untersuchung reagieren. Unter methodischen Gesichtspunkten bringt das oft Schwierigkeiten mit sich, weil sich im Nachhinein nicht differenzieren lässt, welche beobachteten Verhaltensweisen natürlich und welche der Reaktivität geschuldet sind. Aus ethischen Gründen sollten Personen, bevor sie untersucht werden, vorab informiert und um Einverständnis gebeten werden (Huber 1993: 132). Wird dem entsprochen, handelt es sich quasi automatisch um eine wissentliche Beobachtung, da die Beobachteten durch das Vorgespräch zur Klärung des Einverständnisses grob informiert sind. Auch andere Merkmale von Beobachtungsstudien, wie z.B. deren Durchführung im Labor oder mittels an den Personen angebrachten Geräten, führen dazu, dass die Untersuchten zwangsläufig gewahr werden, dass sie untersucht werden. Verschiedene Studien belegen zwar den negativen Einfluss von Reaktivität, der allerdings mit fortschreitender Beobachtungszeit in der Regel deutlich abnimmt (Webb, Campbell, Schwartz & Sechest 1975: 147–148).

Wissen die Beobachteten aber nichts von der Beobachtung, so handelt es sich um ein nicht-reaktives Datenerhebungsverfahren. Wenn dabei das Verhalten bestimmter Personen eingehend beobachtet wird, ergeben sich ernsthafte ethische Probleme, weil den Untersuchten die Entscheidung zur Teilnahme verwehrt wird. Das kann aber nötig werden, wenn das Wissen der Untersuchten die Untersuchung selbst unmöglich macht. In entsprechenden Fällen sollten die Personen zumindest im Nachhinein informiert und um Einverständnis gebeten werden. Die individuellen Daten müssen vernichtet werden, falls das Einverständnis nicht gegeben wird.

Anders sind Beobachtungen zu beurteilen, die an öffentlichen oder halböffentlichen Plätzen durchgeführt werden und lediglich allgemeines Verhalten ohne Bezug zu der individuell ausführenden Person berücksichtigen. Ethisch sind zwar solche Untersuchungen auch nicht gänzlich unbedenklich; sie sind aber deutlich unproblematischer, weil den Untersuchten nicht geschadet wird und sie als Person anonym bleiben. Zunächst mag es kaum sinnvoll erscheinen, Beobachtungen quasi ohne Bezug zu individuellem Verhalten und ausführenden Individuen in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften durchzuführen. Webb und Kollegen (1975) haben aber schon vor gut 50 Jahren eine auch heute noch lesenswerte Sammlung nicht-reaktiver Messverfahren vorgelegt, von denen etliche als unwissentliche Beobachtungen einzuordnen sind wie z.B. das Erfassen von Kleidung, Ausdrucksverhalten, räumlichen oder persönlichen Konstellationen oder auch der Zeit, die bestimmte Verhaltensweisen in Anspruch nehmen. Durch die technische Entwicklung vor allem in den Bereichen Internet und mobiler Kommunikation ergeben sich hierzu immer neue Möglichkeiten. Bei deren Verwendung für wissenschaftliche Zwecke muss allerdings immer deren ethische Angemessenheit geprüft werden.

2.2.6 Feld versus Laborbeobachtung

Zur Entscheidung, ob im Feld oder im Labor beobachtet wird, finden sich Angaben in praktisch allen Publikation zur Beobachtung. Eine ausführliche Diskussion der Vor- und Nachteile ist demgegenüber selten. Wahrscheinlich liegt das daran, dass unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen klar eine der beiden Varianten bevorzugen. Feldbeobachtungen finden an den Orten statt, an denen sich das zu beobachtende Verhalten üblicherweise abspielt: an öffentlichen Plätzen, in Bars, Restaurants, Supermärkten, Klassenzimmern oder zuhause in Privaträumen. Laborbeobachtungen finden demgegenüber in künstlichen Situationen statt, bei denen meist in geschlossenen Räumen die interessierende Situation nachgestellt wird. In Laborbeobachtungen werden bestimmte Handlungen von einzelnen Personen sehr genau untersucht. Dem entsprechend werden psychologische Studien oder z.B. Produkttests der Marktforschung vornehmlich im Labor durchgeführt. Im Gegensatz dazu eignen sich Feldstudien zur Beobachtung von sozialem Alltagsverhalten. Daher sind Feldbeobachtungen der Standard in der Ethnologie, der Soziologie sowie den Medien- und Kulturwissenschaften.

Huber (1993:129) sieht insbesondere folgende Vorteile bei der Durchführung im Labor: Es können optimale Bedingungen zur Durchführung der Beobachtung geschaffen werden. Das betrifft sowohl die Sicht auf das zu Beobachtende als auch den Einsatz von Geräten. Darüber hinaus können im Labor Störfaktoren weitgehend ausgeschlossen bzw. kontrolliert werden. Ferner können Aspekte der Situation gezielt manipuliert werden, wenn z.B. bestimmte Stimuli gesetzt werden sollen. Die Situation bringt aber auch Nachteile mit sich. So ist es fraglich, wie gut sich das im Labor Beobachtete auf Alltagssituationen außerhalb des Labors übertragen lässt. Zudem macht es die Laborsituation nahezu unmöglich, Personen unwissentlich zu beobachten. Darüber hinaus wird die Untersuchungssituation für viele ungewohnt sein und ihnen immer wieder die Tatsache ins Bewusstsein rufen, dass sie gerade untersucht werden. Insofern eignen sich Laborstudien eher dazu, individuelle Mechanismen zu untersuchen und weniger zur Untersuchung sozialen Alltagsverhaltens.

Dieses lässt sich besser in seinem natürlichen Umfeld beobachten. Huber (1993: 130) betont, Alltagsverhalten werde in seinem natürlichen Umfeld durch die Untersuchung deutlich weniger beeinflusst und privates Verhalten wird praktisch nur dort zu beobachten sein, weil es sich im Labor quasi nicht künstlich erzeugen lässt. Darüber hinaus lassen sich Ergebnisse aus Feldbeobachtungen besser generalisieren und eröffnen die Möglichkeit, unwissentliche und damit nicht-reaktive Beobachtungen durchzuführen. Auf der anderen Seite ist die Beobachtungssituation im Feld kaum kontrollierbar. Störungen z.B. durch andere Personen oder unvorhergesehene Ereignisse lassen sich nicht ausschließen und die Bedingungen, um das Interessierende zu erkennen und zu protokollieren, sind meist nicht ideal. Zudem lässt sich privates und insbesondere intimes Verhalten auch in Feldbeobachtungen in der Regel nicht untersuchen.

 

In der Beobachtungspraxis sollte deshalb immer vorab genau überlegt werden, ob und wie bei Feldbeobachtungen durch leichte Eingriffe in die Situation größere Kontrolle und bessere Machbarkeit erreicht bzw. durch angemessene Gestaltung von Labor- und Untersuchungsräumen eine zumindest alltagsnahe Untersuchungssituation geschaffen werden kann.

Von besonderer Bedeutung sind Feldstudien bei der Ethnograhphie (Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff & Nieswand 2015) bzw. qualitativen Einzelfallstudien (Brüsemeister 2008). Bei diesen ist die Definition des Feldes quasi konstitutiv für die gesamte Studie. Breidenstein und Kollegen (2015: 46–60) unterscheiden dabei: (a) die Selbstkonstitution eines Feldes, wenn dieses quasi natürliche Grenzen hat wie eine Schulklasse, (b) räumlich, zeitlich und sozial, analytische Konstitution eines Feldes, wenn diese aufgrund des Forschungsinteresses definiert wird, und (c) Prozesskonstitution, bei der das Feld in Interaktion zwischen den Gegebenheiten und dem Forschungsinteresse im Zuge der Durchführung festgelegt werden. Darüber hinaus stellt bei der Feldforschung die Organisation des Feldzugangs eine besondere Herausforderung dar, deren Fundierung und Realisation ebenso aufwändig sein kann wie die dann folgende Erhebung der Daten, zumal der praktische Aufwand für den Feldzugang den der Datenerhebung weit übersteigen kann, wenn dafür Sprachen gelernt, in ferne Länder gereist, Gesetzen und Auflagen entsprochen und das Vertrauen der zu beobachtenden Personen gewonnen werden muss.

2.2.7 Beobachtung mit versus ohne Stimulus

Wenn ein ungestört, natürlich ablaufender Verhaltensprozess beobachtet wird, dann handelt es sich um eine Beobachtung ohne Stimulus. Wird aber vom Forscherteam in den Verhaltensprozess eingegriffen oder dieser künstlich initiiert, so findet die Beobachtung mit Stimulus statt.

Beobachtungen ohne Stimulus sind der Normalfall und sind zu bevorzugen, weil die Handlungen natürlich entstehen und ablaufen. So ist am besten sicherzustellen, dass valide und generalisierbare Daten erhoben werden. Beobachtungen ohne Stimulus sind angezeigt, wenn Verhalten beobachtet werden soll, das in der gewählten Untersuchungssituation typischerweise häufig anftritt. Es ist aber kaum möglich, in diesem Setting Handlungen zu untersuchen, die nur selten auftreten, da über extrem lange Zeiträume beobachtet werden müsste, um auch nur wenige dieser Handlungen beobachten zu können (Sedlmeier & Renkewitz 2013: 104).

Sollen spezielle Handlungen oder seltene Verhaltensweisen beobachtet werden, so ist es nötig, die entsprechenden Handlungen zu stimulieren. Das kann durch Instruktionen oder Interventionen geschehen. Interventionen sind gezielte Eingriffe in den Handlungsverlauf, um die zu untersuchenden Handlungen zu provozieren. Wenn z.B. die Reaktion auf bestimmte Handlungen untersucht werden soll, ist es naheliegend, das Initiieren der Handlung von einer getarnten Person aus dem Forschungsteam ausführen zu lassen, um dann die Reaktion der untersuchten Personen zu beobachten. So ließe sich z.B. durch systematische Intervention beobachten, unter welchen Bedingungen Personen anderen helfen (Sedlmeier & Renkewitz 2013: 105). Eine andere Art der Intervention liegt in der Bereitstellung bestimmter Gegenstände, wenn der Umgang mit diesen beobachtet werden soll. Z.B. könnten in einer Wartesituation bestimmte Zeitschriften ausgelegt werden, um zu beobachten, welche Personen sich wie lange welche Zeitschriften ansehen. Beobachtungen mit Interventionen ähneln klassischen Experimentalsettings. Etwas anders funktionieren Beobachtungen mit Instruktionen. Bei diesen werden den Beobachteten Aufgaben gestellt oder sie werden gebeten, bestimmte Dinge zu tun. Die Aufgaben oder Bitten sollen dann diejenigen Verhaltensweisen initiieren, die beobachtet werden sollen. Ein klassisches Beispiel solcher Beobachtungen stammt von Piaget, der kleinen Kindern Aufgaben stellte und ihre Lösungsstrategien beobachtete, um damit bestimmte Entwicklungsstufen der Kinder zu identifizieren (Sedlmeier & Renkewitz 2013: 105). Huber (1993: 130–132) betrachtet die Methode des gleichzeitigen Lauten Denkens als eine Variante der Beobachtung mit Instruktionen. Bei dieser erfüllen die Beobachteten bestimmte Aufgaben und sind aufgefordert, parallel dazu ihre Gedanken zu äußern und ihre Handlungen zu erklären.

Zwar wäre es theoretisch besser, ohne Stimulus zu beobachten. In der Praxis ist es bei vielen interessierenden Verhaltensweisen aber nicht praktikabel. Beim gezielten Setzen von Stimuli muss eine Veränderung gegenüber dem natürlichen Verhalten zwar unterstellt werden, wie groß aber die Differenz zwischen natürlichem und stimuliertem Verhalten ist, lässt sich nur empirisch prüfen (Huber 1993: 130).

2.2.8 Standardisierte versus nicht-standardisierte Beobachtungsprotokolle

Die Art der Standardisierung betrifft die Art, wie die beobachteten Informationen protokolliert werden. Aus dieser Perspektive ist die wissenschaftliche Beobachtung ein systematisches Vorgehen, um beobachtete Handlungen, Handlungspuren oder Körperreaktionen in ein Zeichensystem zu überführen, das es den Forschenden möglichst einfach macht, aus dem Beobachteten die gewünschten Erkenntnisse zu ziehen. Die Standardisierung betrifft sowohl die Art der Durchführung als auch den eigentlichen Vorgang des Protokollierens. Die Frage nach der Standardisierung wird in allen Methodenbüchern diskutiert, in der Regel unter dem Begriff systematische versus unsystematische Beobachtung. Hier wird die Unterscheidung in nicht-standardisiert versus standardisiert bevorzugt, weil auch nicht-standardisierte Beobachtungen nach bestimmten Systemen vorgehen und insofern nicht als unsystematisch anzusehen sind. Zudem legt die technische Entwicklung nahe, die standardisierten Beobachtungen in zwei unterschiedliche Teilbereiche zu unterteilen: die standardisierte Beobachtung und die apparative Beobachtung. Wird die Beobachtung als die systematische Überführung beobachteter Aspekte in ein Zeichensystem verstanden, so arbeiten die drei Beobachtungsvarianten mit unterschiedlichen Zeichensystemen, die mit unterschiedlichen Problemen verbunden sind. Bei der nicht-standardisierten Beobachtung werden interessierende Aspekte in Text überführt. Bei den typischen standardisierten Beobachtungen werden die interessierenden Aspekte mit Zahlen festgehalten. Apparative Beobachtungen protokollieren die interessierenden Aspekte demgegenüber als Datenreihen.

Nicht-standardisierte Beobachtungsprotokolle werden von Personen erstellt. Sie beobachten das Geschehen, machen sich Notizen und erstellen ein Beobachtungsprotokoll, das im Wesentlichen aus Text besteht. Solche Beobachtungen sind fester Bestandteil der qualitativen Sozialforschung. Sie stammen aus der Ethnologie, sind aber auch in der Soziologie sowie der Medien- und Kulturwissenschaft verbreitet. Darüber hinaus kommen nichtstandardisierte Beobachtungen oft zum Einsatz, um unbekannte Gesellschaftsbereiche und bislang wenig untersuchte Verhaltensweisen zu explorieren und gegebenenfalls Theorien und Hypothesen zu entwickeln. Weil solche Beobachtungen nicht von bestimmten Modellen oder Hypothesen ausgehen, sondern inhaltlich offen angelegt sind, werden sie zum Teil auch als offenqualitative Beobachtungen bezeichnet. Da in der vorliegenden Systematik der Begriff „offen“ für nicht getarnte Beobachtungen vorgesehen ist, wird hier „offen“ nicht im Sinne von nicht-standardisiert verwendet. Die Art, wie die Beobachtenden das Geschehen protokollieren, ist nicht festgelegt, sondern den Beobachtenden überlassen. Darüber hinaus ist auch dem Beobachtungspersonal überlassen, wann sie protokollieren und inwiefern sie ihre eigene Interpretation dabei einfließen lassen. Nicht zuletzt gibt es bei nichtstandardisierten Beobachtungen keine klare Trennung zwischen Datenerhebung und Datenauswertung. Zum einen umfassen die Protokolle schon Anteile der Auswertung und Interpretation. Zum anderen ist es in vielen qualitativen Methoden vorgesehen, nach jedem Erhebungsschritt eine Auswertung vorzusehen, um nötigenfalls die folgenden Erhebungsschritte entsprechend anzupassen. Das Vorgehen dabei ist durchaus systematisch, es folgt aber keinen festgelegten Standards, sondern orientiert sich jeweils am vorhandenen Material.

Die nicht-standardisierte Beobachtung gilt als valide, weil das beobachtete Geschehen umfassend protokolliert werden kann und je nach Verlauf Aspekte umfassen kann, die nicht erwartet wurden. Die Durchführung solcher Beobachtungen ist allerdings schwierig, da gleichzeitig das Geschehen beobachtet und das Relevante protokolliert werden muss. Thierbach und Petschick (2014: 862–864) differenzieren deswegen zwischen Feldnotizen und Beobachtungs- bzw. Feldprotokollen. Feldnotizen bestehen aus kurzen Sätzen sowie Kürzeln, die allein den Anforderungen der jeweiligen Beobachtenden entsprechen und während der Beobachtung schnell gemacht werden können. Aus diesen werden nach der eigentlichen Beobachtung die Beobachtungsprotokolle erstellt, die im Gegensatz zu den Feldnotizen nicht nur für die beobachtende Person verständlich sein müssen, sondern für das gesamte Forschungsteam. Die Art, wie solche Protokolle inhaltlich aussehen und gestaltet sind, ist sehr unterschiedlich. Lüders (2009: 396) vergleicht das Erstellen ethnographischer Protokolle mit dem Verfassen literarischer Texte und infolgedessen die Beobachter und Beobachterinnen mit Autoren und Autorinnen. Klammer (2005: 208–216) vergleicht demgegenüber das Vorgehen bei nicht-standardisierten Beobachtungsprotokollen mit dem Vorgehen von Journalisten bei der Recherche und Erstellung von Beiträgen. Bei nichtstandardisierten Beobachtungsprotokollen ist es wichtig sicherzustellen, dass alle relevanten Aspekte in das Protokoll aufgenommen werden. Hierzu zählen insbesondere Angaben zu den beteiligten Personen, zum Ort der Beobachtung, zur Situation sowie zu Art und Zweck der ablaufenden Handlungen (Selltiz, Jahoda, Deutsch & Cook 1972: 245–257). Das Hauptproblem dabei ist die Absorption des Beobachtungspersonals, die zum einen dazu führt, dass nicht alle relevanten Aspekte bemerkt werden, und zum anderen dazu, dass Aspekte, die dem Beobachtungspersonal vor Ort normal erscheinen, nicht in die Protokolle aufgenommen werden. Deshalb ist es wichtig, möglichst umfangreiche Feldnotizen anzufertigen und Techniken zu lernen, um sich relevante Dinge möglichst lange und genau merken zu können.

Zumeist wird bei einem nicht-standardisiertem Vorgehen zunächst der Protokolltext erstellt und anschließend analysiert, also relevante Aspekte selektiert, paraphrasiert und kategorisiert. Allerdings ist in vielen Varianten qualitativer Sozialforschung (Bürsemeister 2008) oder der Ethnographie (Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff & Nieswand 2015) keine Trennung zwischen Erstellen von Protokollen und Auswerten von Protokollen vorgesehen. Diese Trennung ist z.B. nicht möglich, wenn bei der Erstellung des Protokolls aus den Feldnotizen sowohl das eigentliche Geschehen festgehalten wird, als auch inhaltliche Interpretationen sowie methodische Reflexionen, die aus einer anderen Wissenschaftsperspektive nicht zu Erhebung, sondern zur Auswertung gerechnet würden. Nach dem Forschungsprinzip der Grounded Theory (z.B. Strauss & Corbin 1996) wird die Art der Datenerhebung ständig auf der Basis erster Auswertungen angepasst und z.B. das axiale und selektive Codieren der Angaben aus den Protokollen als integraler Bestandteil der Datenerhebung verstanden.

Bei der standardisierten Beobachtung ist demgegenüber vorab genau festgelegt, wie die Beobachtung durchzuführen ist: Was die zu beobachtenden Einheiten sind, wie die Beobachtung abläuft und wie die Protokolle erstellt werden. Die standardisierte Beobachtung hat Validitätsprobleme, wenn die Festlegungen und Standardisierung nicht gut zur tatsächlichen Beobachtungssituation und zum beobachteten Geschehen passen. Demgegenüber haben standardisierte Beobachtungen Vorteile bei der Reliabilität und Objektivität, weil sichergestellt und kontrolliert werden kann, ob die Art der Beobachtung stabil ist und von unterschiedlichen Personen in gleicher Art durchgeführt wird. Das Herzstück standardisierter Beobachtungen sind die Beobachtungsanweisungen plus die standardisierten Protokollbögen. In den Anweisungen ist festzulegen, wie vorzugehen ist und welche Kategorien mit welchen Ausprägungen erfasst werden. In den Protokollbögen werden dann die entsprechenden Zahlencodes eingetragen und gegebenenfalls durch kurze Texte ergänzt. Damit wird sichergestellt, dass das Beobachtungspersonal in kurzer Zeit sehr viele Informationen festhalten kann. Da in standardisierten Beobachtungen vornehmlich mit Zahlencodes gearbeitet wird, liegen die Informationen unterschiedlich skaliert vor und können später mit den üblichen statistischen Verfahren ausgewertet werden.

 

Die Gestaltung der Beobachtungsanweisungen und der standardisierten Protokollbögen hängt stark von der untersuchten Fragestellung sowie der Beobachtungssituation ab. In Anlehnung an Döring und Bortz (2016: 342) lassen sich hier nicht-komplexe Beobachtungen und Verhaltensbeobachtungen differenzieren. Nicht-komplexe Beobachtungen zielen auf einfach zu erfassende Merkmale ab, die gezählt werden können. Entsprechende Beobachtungen werden z.B. in der Marktforschung benutzt, um die Beachtung von Regalen und Produkten zu erfassen, oder in der Sozialforschung, um den Zustand und die Qualität von Wohngebieten oder einzelnen Häusern einzuschätzen (siehe z.B. Häder 2015: 320–323). Verhaltensbeobachtungen sind demgegenüber komplexer, weil sie vom Beobachtenden die Interpretation des beobachteten Geschehens erfordern. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Interaktionsprozessanalyse von Bales (1976), die den Umgang von Personen in Gesprächen erfasst (siehe z.B. Friedrichs 1980: 278–280). Andere typische Beispiele betreffen das Spielen von Kindern (siehe z.B. Schnell, Hill & Esser 2011: 384–385) oder das Verhalten in Schulklassen (siehe z.B. Döring & Bortz 2016: 350). Verhaltensbeobachtungen sind aber auch deshalb komplex, weil die beobachteten Verhaltensweisen auf verschiedenen Ebenen (z.B. Individual- und Gruppenverhalten) erfasst werden müssen. Ein gutes Beispiel dazu liefert Friedrichs (1980: 297–300) aus einer Gefängnisstudie.

Beide dargestellten Varianten von Beobachtungen werden von Personen durchgeführt. In einer dritten Variante erheben stattdessen Apparate die interessierenden Sachverhalte. Die entsprechenden Sachverhalte müssen nicht manuell festgehalten werden. Die Protokolle bestehen rein aus zeitbezogenen Zustandsangaben meist in Form von digitalen Datenreihen. Oft repräsentiert ein einzelner Dateneintrag ein kurzes Zeitintervall, wobei sich die Beobachtung oft über lange Zeiträume erstreckt. In dieser Konstellation werden also Handlungen direkt in Daten überführt. Weil diese Überführung automatisch funktioniert, treten dabei praktisch keine Probleme der Reliabilität und Objektivität auf, fraglich ist aber immer, wofür die Daten stehen und ob sie valide sind. Die Daten lassen sich in Messungen bzw. Parameter umwandeln und stehen danach für statistische Auswertungsverfahren zur Verfügung. Bei der standardisierten Erhebung besteht oft das Problem, dass ausreichend viele Angaben ausreichend schnell codiert werden müssen. Bei der hochstandardisierten apparativen Erhebung stellt sich demgegenüber eher das Problem von zu vielen, zu individuellen und oftmals zu unspezifischen Daten. Diese müssen dann geeicht, gefiltert und aggregiert oder auch in Bezug zu anderen Daten gesetzt werden, bevor sie sinnvoll ausgewertet und interpretiert werden können.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?