Die Beobachtung als Methode in der Soziologie

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2.2.1 Interne versus externe Beobachtung

Die Unterscheidung interne versus externe Beobachtung gibt an, wer die eigentliche Beobachtung durchführt, also das Beobachtete protokolliert. Bei der internen Beobachtung protokollieren die Forscher und Forscherinnen, die die Beobachtungsstudie konzipiert haben. In externen Beobachtungen erstellen demgegenüber Personen die Beobachtungsprotokolle, die nicht dem Forscherteam angehören, das die Studie konzeptioniert hat. Um eindeutig externe Beobachtungen handelt es sich, wenn externe Dienstleister mit der Durchführung der Feldarbeit beauftragt werden. Der zentrale Unterschied zwischen internem und externem Beobachtungspersonal liegt in dessen Vorwissen bzw. der Vertrautheit mit der Untersuchungsanlage. Internes Beobachtungspersonal kennt die Fragestellung der Untersuchung sowie die vorgesehene Art der Protokollierung genau. Sie sind sensibilisiert, um relevante Aspekte zu bemerken und durch die Beteiligung an der Vorbereitung trainiert, diese angemessen zu protokollieren. Extern beauftragtes Personal weiß zunächst einmal weder über die Fragestellung der Studie noch die vorgesehene Technik der Protokollierung; es kennt nur das, was es vom Forscherteam vermittelt bekommt. Aus dieser Perspektive sind z.B. Studierende, die an der Datenerhebung in einer Beobachtungsstudie mitarbeiten, als Interne zu betrachten, wenn sie an der Konzeption der Studie beteiligt waren. Wurden sie demgegenüber lediglich für die Datenerhebung angelernt und angestellt, handelt es sich auch bei ihnen um externe Beobachter.

Die Frage, ob es sich um interne oder externe Beobachtungen handelt, spielt in der aktuellen Methodenliteratur kaum noch eine Rolle. Das war Mitte des letzten Jahrhunderts anders, als die ersten großen Abhandlungen zur wissenschaftlichen Beobachtung verfasst wurden, wenngleich die Problematik nicht als interne versus externe Beobachtung bezeichnet wurde. Stattdessen ging es um Beobachtungsfehler, die aufgrund der Selektion und Interpretation der Beobachtenden entstehen, sowie allgemein um das Streben nach Objektivität bei der Beobachtung. Die ersten systematischen Ausführungen hierzu stammen von Katz (1953) und wurden von Friedrichs und Lüdtke (1977: 34) in die Forderung nach Trennung von Forscher(n) und Beobachter(n) konkretisiert.

Die interne Beobachtung stammt aus der ethnographischen Tradition, in der Forscher oder Forscherinnen über längere Zeiträume fremde Kulturen und Gesellschaften beobachtet haben (Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff & Nieswand 2015: 13–20). Sowohl die Authentizität als auch die Praktikabilität sprechen für ein solches Vorgehen, da die Forschenden selbst gut wissen, welche Aspekte für ihre Forschung protokollierungswürdig sind und wie diese angemessen interpretiert werden können. Externe hätten kaum brauchbare Protokolle anfertigen können, welche von den Forschenden angemessen interpretiert werden können, sofern diese nicht beobachtend selbst vor Ort gewesen sind. In seiner Theorie der Beobachtung macht König (1967; 1973) aber die Probleme dieser Konstellation deutlich. Diese resultieren aus der Unmöglichkeit unschuldiger Wahrnehmungen (König 1973: 10). Individuelle Wahrnehmungen sind die Grundlage wissenschaftlicher Beobachtungen, so dass in erster Linie Aspekte beobachtet werden, für die die Beobachtenden sensibilisiert sind bzw. die sie erwarten. Und haben die Beobachtenden erst einmal etwas Bestimmtes festgestellt, dann kann es im Folgenden zu selektiver Wahrnehmung kommen, die König (1973: 7) als die „Unbelehrbarkeit der einmal bezogenen Position“ bezeichnet. Das dürfte interne wie externe Beobachter gleichermaßen betreffen. Problematisch ist auch eine Fokussierung der internen Beobachter auf diejenigen Aspekte, die das Forscherteam erwartet bzw. unterstellt. Um entsprechende Fehler zu vermeiden, fordert König (1973: 29) die Wiederholung von Beobachtungen durch weitere Personen und damit die Ergänzung der intrapersonalen Evidenz durch interpersonale Gültigkeit (König 1973: 29). In Analogie dazu diskutieren Friedrichs und Lüdtke (1977: 30–33) die Probleme aus der Perspektive der Objektivität und damit der Forderung, dass das Resultat wissenschaftlicher Datenerhebung möglichst unabhängig von der Person sein soll, die die Daten erhebt, was bei der Beobachtung allerdings nie vollständig erreicht werden kann.

Deshalb fordern Friedrichs und Lüdtke (1977: 34) nicht nur: „Es sollten nicht länger Forscher (oder Forscherteam) und Beobachter dieselben Personen sein.“ Sondern auch: „Die Forscher sollten mehrere Beobachter (mindestens zwei) schulen und für sich ins Feld schicken.“ Das Forschungsteam muss die externen Beobachter dann nicht nur im Vorgehen schulen, sondern auch die Regeln des Vorgehens festlegen, Definitionen und Operationalisierung vornehmen und in angemessenem Umfang den wissenschaftlichen Hintergrund offen legen. König (1973: 35) betont an dieser Stelle die Notwendigkeit der Sensibilisierung und Formalisierung. Sensibilisierung betrifft die Motivation des Beobachtungspersonals, nach relevanten Informationen zu suchen und bereit zu sein, sich gemäß der Forschungsfrage auf die Beobachtung einzulassen. Formalisierung beschreibt die Notwendigkeit, die Ideen des Forschungsteams in Definitionen festzuhalten und dem Beobachtungsteam angemessen zu vermitteln. Friedrichs und Lüdtke (1977: 219–227) schlagen darüber hinaus vor, dem Beobachtungsteam Supervision anzubieten und zwar nicht nur in Bezug auf das Vorgehen beim Protokollieren, sondern auch in Bezug auf ihre Rolle in der Beobachtungssituation.

Aber selbst bei guter Formalisierung der Beobachtungsinstruktionen plus ausführlicher Schulung und angebotener Supervision sind bei externen Beobachtern Probleme zu erwarten. Diese resultieren daraus, dass angestelltes Beobachtungspersonal selten so motiviert und akkurat beobachten wird wie Mitglieder des Forschungsteams. Zumal die Beobachtung für viele eine Pflicht und Notwendigkeit zum Geldverdienen sein wird, was zu einem unmotivierten Abarbeiten des Notwendigen führen könnte, wenn nicht sogar Anreiz zum Fälschen von Daten bietet. Größere Beobachtungsstudien, die von vielen extern angeworbenen Personen durchgeführt werden, haben mit denselben Problemen zu kämpfen wie entsprechende Befragungen oder Inhaltsanalysen. Sie können nur durch angemessene Bezahlung, stetige Motivation und angemessene Kontrolle des Personals minimiert werden. Zudem sollte dem Beobachtungsteam nicht zugemutet werden, was das Forscherteam selbst nicht tun wollen würde. Dazu zählt einerseits der Umgang mit komplexen Anweisungen, die sich in der Beobachtungssituation nicht angemessen umsetzen lassen, andererseits betrifft das die Rolle und das Verhalten im Beobachtungsfeld, z.B. beim Einholen von Genehmigungen zur Beobachtung. Externes Beobachtungspersonal wird nur adäquat arbeiten, wenn die Beobachtung selbst praktikabel angelegt ist.

Ideal wäre eine Kombination aus interner und externer Beobachtung. Das Forschungsteam selbst würde auch im Feld beobachten und Erfahrung mit dem Beobachtungsinstrument sammeln. So könnte es selbst besser beurteilen, worin die Einschränkungen des methodischen Vorgehens bestehen. Zudem entstünde ein authentischer Eindruck vom Beobachtungsfeld, der später bei der Datenauswertung und Interpretation das Risiko von Fehlschlüssen minimiert, weil das Forschungsteam den Forschungsgegenstand aus eigener Anschauung kennt. Das Forschungsteam wäre aber gezwungen, ihr Vorgehen zu formalisieren und zu kommunizieren, so dass Externe es verstehen. Nicht zuletzt ergeben sich so Möglichkeiten der Entlastung durch Arbeitsteilung, was nach Friedrichs und Lüdtke (1977: 34) dem Forschungsteam und dem Forschungsprojekt zugutekommt.

2.2.2 Selbst- versus Fremdbeobachtung

Das Charakteristikum Selbst- versus Fremdbeobachtung gibt an, wen die Beobachtenden beobachten, sich selbst oder andere. Üblicherweise werden bei wissenschaftlichen Beobachtungen andere beobachtet. In bestimmten Konstellationen ist es allerdings nötig und sinnvoll, sich selbst zu beobachten. Dazu zählen zum einen private oder sogar intime Situationen, in denen es Personen weder zuzumuten ist, in diesen beobachtet zu werden, noch Beobachtern und Beobachterinnen zugemutet werden kann, andere in solchen Situationen beobachten zu müssen. Abgesehen davon kann auch das Forschungsinteresse Selbstbeobachtungen nahelegen und zwar immer dann, wenn psychische Prozesse von Interesse sind, die sich nicht anhand extern feststellbarer Merkmale beobachten lassen.

Die Selbstbeobachtung, auch Introspektion genannt, hat sich aus früheren Studien der Psychologie entwickelt. Wissenschaftler haben Theorien über psychologische Phänomene aufgestellt und diese an sich selbst getestet, indem sie ihre eigenen Reaktionen beobachtet und protokolliert haben. Da es sich bei den meisten um Hochschullehrer handelte, charakterisieren Sedlmeier und Renkewitz (2013: 109) die Selbstbeobachtung mit „Professoren beobachten sich selbst“. Entsprechende Studien haben zwar zu interessanten Ergebnissen geführt; sie waren allerdings wissenschaftlich umstritten, da die Ergebnisse notwendigerweise durch die Person geprägt waren und sich kaum replizieren lassen. Insbesondere die Verhaltenspsychologie orientierte sich stärker an den wissenschaftlichen Kriterien der Kontrolle, Nachvollziehbarkeit und Wiederholbarkeit und lehnte daher Selbstbeobachtungen als Datenerhebungsverfahren ab, so dass Mitte des letzten Jahrhunderts in der Psychologie nur noch selten Selbstbeobachtungen durchgeführt wurden. Auch in der Soziologie war infolgedessen Introspektion in Misskredit geraten (König 1956: 20), ebenso wie in vielen anderen Fächern.

Seitdem werden Beobachtungen fast ausnahmslos als Fremdbeobachtungen organisiert. Dabei werden dem Beobachtungspersonal Ziele und Regeln vorgegeben, mithilfe derer sie das Verhalten oder Reaktionen von anderen Personen beobachten. Allein diese Konstellation zwingt dazu, nach explizierbaren Regeln vorzugehen, die die Beobachtung zumindest ansatzweise kontrollierbar, nachvollziehbar und wiederholbar macht. Unter solchen Bedingungen lassen sich vom Forscherteam die Qualität und Brauchbarkeit der Beobachtungsprotokolle einschätzen. Bei der Selbstbeobachtung kann das demgegenüber nur die Person, die sich selbst beobachtet hat. Huber (1993: 128) weist über die fehlende externe Kontrolle hinaus darauf hin, dass sich mit Selbstbeobachtungen keine unbewussten Prozesse erfassen lassen und die Selbstbeobachtung die zu beobachtenden Prozesse stören könnte. Zumal das Beobachtete oft nur unzureichend erinnert wird. Er sieht den Sinn von Selbstbeobachtung deshalb allenfalls in der Exploration und Generierung von Hypothesen.

 

Es ist aber weder sinnvoll noch notwendig, die Selbstbeobachtung gänzlich aus dem Repertoire der Verfahren wissenschaftlicher Datenerhebung zu verbannen. In solchen Fällen werden statt Beobachtungen dann oft Befragungen zu den entsprechenden Verhaltensweisen durchgeführt. Die Antworten der Befragten basieren aber auch auf Selbstbeobachtungen. Da die Befragten jedoch vorher weder angewiesen noch geschult wurden, ist nicht plausibel, dass diese Angaben besser sein sollten als die von Personen, die zuvor angewiesen und geschult wurden, sich selbst bei bestimmten Verhaltensweisen genau zu beobachten. Döring und Bortz (2016: 329) verweisen auf Parallelen zwischen der Selbstbeobachtung und der Befragungstechnik des Lauten Denkens bzw. des Vorgehens in Tagebuchstudien sowie der Autoethnographie. Häder (2015: 311) weist auf die Parallelen von Selbstbeobachtung und soziologischen Zeitbudgetstudien hin.

Ein weiterer Grund, warum Selbstbeobachtungen das Repertoire wissenschaftlicher Methoden sinnvoll ergänzen können, liegt darin, dass sie in vielen Fällen die einzige Möglichkeit sind, an die nötigen Daten zu gelangen; Sedlmeier und Renkewitz (2013: 110) führen hier insbesondere die Forschung zu Bewusstseinszuständen an. Allerdings müssen solche Beobachtungen so weit wie möglich kontrolliert stattfinden. Die Personen, die sich selbst beobachten sollen, müssen genaue Anweisungen zum Vorgehen erhalten und eingehend geschult werden (Sedlmeier & Renkewitz 2013: 109). Wichtig ist dabei vor allem, die relevanten Aspekte an sich selbst zu erkennen und sie sich so lange merken zu können, bis die Möglichkeit gegeben ist, sie zu protokollieren. Hierzu finden sich in der Psychologie unterschiedliche Techniken zur Selbsterfahrung, die allerdings nicht dazu verleiten dürfen, die Grenzen zwischen wissenschaftlicher Selbstbeobachtung und dem eigenen Streben nach Selbsterfahrung zu überschreiten.

Eine ganz neue Qualität hat die Selbstbeobachtung durch die technische Entwicklung erhalten. Es gibt eine Reihe von Geräten, mit denen Personen ihr eigenes Verhalten sowie physiologische Körpermerkmale ohne großen Aufwand aufzeichnen können. Es handelt sich z.B. um Fitnessuhren, die sowohl Körpermerkmale wie den Herzschlag feststellen können als auch Position, Bewegung oder Geschwindigkeit. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Apps und Computerprogrammen, mit denen Personen auf einfache Weise Angaben über sich selbst festhalten können. Das entsprechende Verhalten wird als Self-Tracking (Neff & Nafus 2016) bezeichnet. Mit Quantified Self hat sich zudem eine Bewegung von Menschen gegründet, die regelmäßig Daten über sich selbst erheben und sich über Probleme und Erfahrungen austauschen (quantifiedself.com). Entsprechende Daten werden bereits im wissenschaftlichen Kontext genutzt und zwar insbesondere zu Fragen von Gesundheit und Fitness. Die Frage der Kontrolle, Nachvollziehbarkeit und Wiederholbarkeit der Datenerhebung ist beim Self-Tracking gegeben und individuelle Interpretationen spielen praktisch keine Rolle. Es handelt sich trotzdem um Selbstbeobachtungen, da die Beobachteten die Protokollierung der Daten an sich selbst vornehmen und selber steuern und entscheiden, wann das geschieht.

2.2.3 Teilnehmende versus nicht-teilnehmende Beobachtung

Das dritte Kriterium für Beobachtungsstudien spezifiziert die Art, wie sich das Beobachtungspersonal am beobachteten Geschehen beteiligt. Bei der teilnehmenden Beobachtung agieren die Beobachtenden im Beobachtungsfeld wie diejenigen, die beobachtet werden. Demgegenüber agieren bei nichtteilnehmenden Beobachtungen die Beobachtenden nicht, sondern konzentrieren sich unbeteiligt auf das Durchführen der Beobachtung. Laut König (1977: 49) und Häder (2015: 310) geht die Terminologie der teilnehmenden Beobachtung auf eine Publikation von Lindemann (1924) zurück.

Die teilnehmende Beobachtung gilt als der Prototyp zur Datenerhebung in der Kulturanthropologie, der Ethnologie (Atteslander 2010: 94) bzw. der Ethnographie (Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff & Nieswand 2015). In dieser Variante der Beobachtung nehmen die Forschenden über einen längeren Zeitraum am von ihnen untersuchten gesellschaftlichen und kulturellen Geschehen teil, beobachten dieses und versuchen, es angemessen zu protokollieren. Ein entsprechendes Vorgehen findet sich auch in den frühen soziologischen Studien insbesondere zu gesellschaftlichen Randgruppen. Ziel der Teilnahme am beobachteten Geschehen ist es, das Geschehen selbst durch angemessene Beteiligung möglichst wenig zu stören und einen möglichst authentischen Eindruck vom Geschehen zu erhalten, um das Beobachtete nachvollziehen und verstehen zu können. In den benannten Wissenschaften galt die teilnehmende Beobachtung als die einzige Möglichkeit, über entsprechende Gruppen und deren Verhaltensweisen angemessene und vor allem authentische Informationen zu erhalten. Um mit den beobachteten Personen und Verhaltensweisen vertraut zu werden, dauerten solche Beobachtungsstudien typischerweise sehr lange. Ein Vorteil langandauernder Beobachtungen liegt darin, dass sich die Beobachteten an die Beobachtung und vor allem an die beobachtenden Personen gewöhnen und infolgedessen weniger durch die beobachtende Person gestört werden (Friedrichs 1980: 283–284).

Allerdings bringt die Teilnahme am Geschehen auch grundlegende Probleme mit sich. Ein Problem beschreibt Häder (2015: 310) mit dem Begriff Distanzverlust und rekurriert damit auf die Anforderung an die Beobachtenden, eine kritische Distanz zum Forschungsobjekt zu wahren. Mayntz, Holm und Hübner (1972: 101) geben zu bedenken, dass wenn die Beobachterinnen und Beobachter versuchen, am Geschehen teilzunehmen und ihre Rolle möglichst gut spielen, es zu einer Identifikation mit der Rolle oder sogar zu einer Rollenübernahme kommen kann. Dadurch würde eine distanziert objektive Beobachtung nahezu unmöglich und beim Beobachter könnten ähnliche Probleme auftreten wie bei der Selbstbeobachtung. Diesem Problem kann mittels Regeln bei der Teilnahme begegnet werden. In der Literatur werden dazu meist zwei Idealtypen skizziert (z.B. Atteslander 2010: 93):

Der „Beobachter als Teilnehmer“ ist in erster Linie Beobachter und nimmt am Geschehen nur so weit teil wie nötig. Demgegenüber ist der „Teilnehmer als Beobachter“ hauptsächlich am Geschehen beteiligt und versucht dabei so gut wie möglich zu beobachten. Grundsätzlich kann aber jede Form der Teilnahme das beobachtete Geschehen verändern, so dass dieses nicht mehr dem natürlichen Verlauf entspricht. Das Geschehen ist dann als Reaktion auf die aktive Teilnahme der Beobachtenden zu verstehen, was in der Literatur unter dem Stichwort Reaktivität vor allem als Problem der teilnehmenden Beobachtung diskutiert wird. In der Ethnographie (Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff & Nieswand 2015: 66–70) wird das Problem allerdings auch als Vorteil gesehen, da die Forschenden Veränderungen, die durch ihre Teilnahme am Geschehen entstehen, wiederum zum Gegenstand der Forschung machen können und daraus Erkenntnisse ziehen. Hier ähnelt das Vorgehen der Beobachtung mit Stimulus. Die Ethnographie sieht die Teilnahme am Geschehen oft als notwendige Voraussetzung, um das Geschehen überhaupt adäquat verstehen zu können. In den meisten wissenschaftlichen Kontexten hingegen wird ein Eingriff des Beobachtungspersonals in den zu beobachtenden Handlungsverlauf als problematische Verzerrung betrachtet.

Auch deshalb werden in vielen Bereichen Beobachtungsstudien nichtteilnehmend durchgeführt. Bei solchen Beobachtungen konzentrieren sich die Beobachtenden nur auf die Beobachtung und die Protokollierung des Geschehens. In der Psychologie (Sedlmeier & Renkewitz 2013: 106) und in der Marktforschung (Fantapié Atobelli 2011: 94) sind nicht-teilnehmende Beobachtungen der Standard. Der Hauptgrund für den Verzicht auf die Teilnahme liegt darin, dem Beobachtungspersonal eine konzentrierte Protokollierung des Geschehens ohne zusätzliche Aufgabe zu ermöglichen. Atteslander (2010: 92) sagt, nur der passive Beobachter „ist in der Lage, sekundenschnell hochstrukturierte Aufzeichnungen zu machen“. Nach Huber (1993: 133) bindet die Teilnahme am Geschehen einen Teil der Aufmerksamkeit, was zwangsläufig das Beobachten erschwert. Darüber hinaus soll auch Reaktivität vermieden werden, also Reaktionen der Beobachteten auf die Aktionen der Beobachtenden. Friedrichs (1980: 282) weist aber zu Recht auf die wenig diskutierten reaktiven Effekte durch Nicht-Teilnahme hin. Wenn Personen bei einem Geschehen anwesend sind, ohne sich an diesem in irgendeiner Form zu beteiligen, so werden diese in der Regel von den anderen als Störung empfunden. Als einen entscheidenden Grund dafür führt Friedrichs (1980: 282) die fehlenden sozialen Rollen für anwesende Nicht-Mitglieder eines sozialen Systems an. Mitglieder haben Rollen, die mit entsprechenden Verhaltensweisen verbunden sind. Damit sind Personen, die keinerlei entsprechende Verhaltensweisen zeigen, automatisch Nichtmitglieder, die allein durch ihre Anwesenheit die Gruppe und ihre Dynamik stören. Aus dieser Überlegung leitet Friedrichs (1980: 283) Bedingungen ab, in denen die Störung durch Nicht-Teilnahme als eher gering einzuschätzen sind: Erstens, wenn die Konstellation keine oder nur unspezifische Interaktionserwartungen an die Beobachtenden mit sich bringt, z.B. weil mehrere unbeteiligte Personen anwesend sind. Zweitens, wenn das beobachtete Geschehen für die Beteiligten so absorbierend ist, dass Anwesende kaum wahrgenommen werden. Und drittens, wenn es für die Anwesenheit und Tätigkeit der Beobachtenden einen aus Sicht der Beobachteten plausiblen Grund gibt.

In der Praxis empfiehlt es sich, einen Mittelweg zwischen nichtteilnehmend und teilnehmend vorzusehen, wenn die Beobachtenden vor Ort inmitten des Geschehens beobachten. Dieser ließe sich als passivteilnehmend charakterisieren. Ein Minimum an Teilnahme am Geschehen ist nötig, um das Geschehen selbst nicht als Fremdkörper zu stören. In einem Gespräch könnten sie z.B. Aufmerksamkeit durch Ansehen der jeweiligen Sprecher zeigen und gelegentlich z.B. durch Nicken Zustimmung signalisieren. Ihre Teilnahme sollte aber passiv sein, d.h., sie sollten selbst keine eigenen Impulse in den Handlungsverlauf geben, bei dem skizzierten Gespräch also keine eigenen gesprächsrelevanten Inhalte beitragen. Wenn es die Situation erfordert, dass die Beobachtenden Informationen für die Protokollierung festhalten, dann sollte diese Tätigkeit als Teil ihrer Rolle am Geschehen vor Ort erklärt werden. Bei der Beobachtung eines Gespräches könnte eine solche Erklärung z.B. im Führen des Protokolls liegen, wenn es sich um Gespräche in Gremien handelt. Besonders wichtig ist eine natürliche aber passive Teilnahme der Beobachtenden, wenn die Beobachteten nicht nur nicht gestört werden sollen, sondern gar nicht bemerken dürfen, dass sie beobachtet werden.