Diakonie - eine Einführung

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|72| 3.2.5 Die Goldene Regel

Auf einen vierten neutestamentlichen Schlüsseltext für ein angemessenes Diakonieverständnis weist Anika Christina Albert in ihren Perspektiven einer Theologie des Helfens hin: die Goldene Regel (regula aurea).119 Sie lautet: «Wie immer ihr wollt, dass die Leute mit euch umgehen, so geht auch mit ihnen um!» (Mt 7,12; Lk 6,31).

Albert findet diese Goldene Regel «für ein theologisch verantwortbares und interdisziplinär anknüpfungsfähiges Verständnis von Helfen […] von besonderem Interesse, da sie einerseits eine zentrale Maxime christlichen Handelns darstellt, andererseits aber auch in anderen kulturellen Kontexten nachgewiesen werden kann und gleichzeitig als allgemein ethisches Prinzip fungiert».120

Dass diese Regel für Matthäus ein besonderes Gewicht besitzt, zeigt sich schon daran, dass sie genau wie das Doppelgebot der Liebe mit dem Hinweis versehen ist, darin bestehe das Gesetz und die Propheten. «Da die Formel ‹Gesetz und Propheten› die Gesamtheit der Forderungen Gottes benennt, lässt sich schliessen, dass bei Matthäus die Goldene Regel mit dem Doppelgebot der Liebe als Summe der göttlichen Forderungen gleichzusetzen ist. Damit kann sie als zusammenfassende Darstellung der Ethik Jesu in Form eines übergreifenden Handlungsprinzips angesehen werden.»121 Liebesgebot und Goldene Regel sollen sich offenbar gegenseitig interpretieren, wobei Letztere als Orientierungsprinzip fungiert, wie das Liebesgebot in konkretem helfendem Handeln situationsgerecht umgesetzt werden kann.

Die Goldene Regel setzt voraus, dass Menschen in konkreten Situationen durch Einfühlen in die Situation einer anderen Person und durch vernünftiges Überlegen herausfinden können, wie sie anderen so gerecht werden können, dass es dem Gebot der Liebe entspricht. Dabei ist allerdings immer mitzubedenken, dass die Goldene Regel nur ein formales Prinzip ist: Ich möchte von anderen so behandelt werden, wie es mir entspricht. Entsprechend soll ich andere so behandeln, wie es ihnen entspricht. Inhaltlich kann das deshalb durchaus bedeuten, dass ich anderen anders begegne als |73| so, wie ich von ihnen behandelt werden möchte, weil wir beide unterschiedliche Vorstellungen darüber haben, was für uns gut ist. Im Blick auf helfendes Handeln bedeutet dies, dass die Goldene Regel dafür steht, dass die Empfängerin von Hilfe darüber bestimmt, was sie wie und von wem als Hilfe erhalten möchte, nicht die noch so wohlmeinende helfende Person.

Auch die Goldene Regel ist – wie die vorgängig beschriebenen «Grosstexte der Diakonie» – Ausdruck eines universalen Ethos, denn sie traut «jedem Einzelnen in seiner Freiheit und Verantwortung zu, […] Ausprägungen der Goldenen Regel im alltäglichen Leben zu verwirklichen».122

3.2.6 Gegenseitigkeit als Strukturprinzip des Helfens

Das wechselseitige Annehmen und das gegenseitige Anteilgeben und Sich-Unterstützen, das in eine relativ enge Lebensgemeinschaft mündet, die mindestens ein Stück weit auch das Teilen ökonomischer Ressourcen einschliesst, sind von Beginn an zentrale soziale Gestaltungskräfte der christlichen Gemeinden.123 Daraus entwickelten sich relativ unhierarchische, solidarische Gemeinschaftsformen unter Menschen aus mehrheitlich niedrigen sozialen Schichten, die das Zusammenleben als ‹Leib Christi› in einem Geist der Gegenseitigkeit und Geschwisterlichkeit zum Ausdruck brachten.124 Dabei wurden bewusst Positionsbezeichnungen vermieden, die einzelne Mitglieder der Gemeinschaft über andere erhoben hätten.125 Männer taten sich bisweilen mit dieser antihierarchischen Struktur schwer (Mk 10,35–45). Verbunden mit dem Abbau der ungleichen Beziehungsstrukturen war der Aufbau solidarischer Gemeinschaftsformen von unten, die auf gegenseitige Unterstützung und Teilen in geistlichen wie materiellen Belangen Wert legten. Klassisch dafür sind etwa die zwei Summarien, in denen Lukas die Lebenssituation der Jerusalemer Urgemeinde beschreibt:

|74| Alle Glaubenden hielten zusammen und hatten alles gemeinsam; Güter und Besitz verkauften sie und gaben von dem Erlös jedem so viel, wie er nötig hatte. (Apg 2,44 f.)

Die ganze Gemeinde war ein Herz und eine Seele, und nicht einer nannte etwas von dem, was er besass, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam. […] Ja, es gab niemanden unter ihnen, der Not litt, denn die, welche Land oder Häuser besassen, verkauften, was sie hatten, und brachten den Erlös des Verkauften und legten ihn den Aposteln zu Füssen und es wurde einem jeden zuteil, was er nötigt hatte. (Apg 4,32–35)

Mit dieser sicher idealisierend überzeichneten, aber sich dennoch auf eine historische Realität stützenden126 Charakterisierung des Lebens der Urgemeinde wollte Lukas bei gebildeten griechischen Lesern seines Werks wohl bewusst Erinnerungen an eine verbreitete Vorstellung antiker Philosophie von der idealen, gerechten Gesellschaftsform hervorrufen und so die Attraktivität des christlichen Lebensentwurfs ins rechte Licht rücken. Immerhin weist Gerd Theissen darauf hin, dass das Urchristentum gerade wegen seiner karitativen Leistungen und solidarischen Gemeinschaftsstruktur grosse Anziehungskraft auf seine Umwelt ausübte und dass «in einer Welt mit schwach entwickelten sozialen Sicherungssystemen der soziale Bedarfsausgleich in den Gemeinden Schutz gegen die Grundrisiken des Lebens bot».127 Theissen hat aufgezeigt, dass im Unterschied zur griechischen Antike, in der Wohltätigkeit primär ein aristokratisches Phänomen war und im sozialen Gefälle von oben nach unten praktiziert wurde, urchristliche Hilfe «im wesentlichen horizontale Solidarität war – eine Intensivierung der Hilfe unter Gleichgestellten.»128 Indem einfache Menschen die aristokratische Spendermentalität übernahmen (vgl. das von Paulus zitierte Jesuswort: «Geben ist seliger als nehmen», Apg 20,35), vollzogen sie selbstbewusst so etwas wie eine «Demokratisierung aristokratischer Wohltätermentalität».129 Kleine Leute nehmen auf einmal die Möglichkeit wahr, zu Wohltätern füreinander zu werden.130

|75| Damit bekommt helfendes, solidarisches Handeln einen stärker egalitären, auf Gegenseitigkeit tendierenden Zug. Das deckt sich auch mit der exegetischen Beobachtung von Gerhard Lohfink, wonach in den Aufforderungen zu prosozialem Verhalten in der neutestamentlichen Briefliteratur das Reziprokpronomen «einander» (allēlōn) eine wichtige Rolle spielt: So werden die Christen aufgefordert, einander Ehre zu erweisen (Röm 12,10), einander anzunehmen (Röm 15,7), einander zurechtzuweisen (Röm 15,14), füreinander zu sorgen (1Kor 12,25), einander zu trösten (1Thess 5,11), einander Gutes zu tun (1Thess 5,15), einander Gastfreundschaft zu erweisen (1Petr 4,9) usw.131

Ein ähnliches Phänomen zeigt sich bei der sogenannten ökumenischen Kollekte, die Paulus im Einflussbereich der von ihm gegründeten heidenchristlichen Gemeinden sammelt, um mit ihrer Hilfe die materiell verarmte Jerusalemer Urgemeinde finanziell zu unterstützen. Sie zeigt deutlich, wie Paulus christliche Gemeinschaft auch zwischen entfernten Gemeinden als einen Ausgleich des Nehmens und Gebens versteht. Hilfe ergeht nicht unidirektional von den Starken/Reichen zu den Schwachen/Armen, sondern in Gegenseitigkeit: Die jetzt verarmte Jerusalemer Urgemeinde, von der das Evangelium ausging, gab den griechischen, heidenchristlichen Gemeinden Anteil an ihrem geistlichen Reichtum; entsprechend ist es nichts als recht, wenn die heidenchristlichen Gemeinden den Jerusalemern nun ihrerseits etwas von ihrem materiellen Reichtum geben (Röm 15,26 f.). Ziel der Spendensammlung für die Jerusalemer Gemeinde ist nach Paulus das Herstellen eines Ausgleichs: «Im jetzigen Zeitpunkt möge euer Überfluss ihren Mangel aufwiegen, damit auch ihr Überfluss euren Mangel aufwiege, so dass es zu einem Ausgleich kommt» (2Kor 8,14). Für das hier sich zeigende Verständnis von Hilfe ist beides zentral: der Gedanke des Ausgleichs und der Gesichtspunkt der Gegenseitigkeit, denn darin spiegelt sich nach Paulus der egalitäre Grundzug christlicher Geschwisterlichkeit.132

Dieser Ansatz der Gegenseitigkeit (Mutualität) wurde in den letzten Jahrzehnten von der feministischen Theologie aufgenommen. In der exegetischen Arbeit am Begriff diakonein entfaltete Elisabeth Schüssler |76| Fiorenza den Begriff der «Gleichheit von unten»,133 und in Bezug auf die Sozialarbeit entwirft Ina Praetorius die Grundsätze einer Ethik der Gegenseitigkeit, in der «Freiheit und Dienst gegenseitig gewährt und geleistet werden».134 Nur so ist gutes Überleben für alle möglich. Eine menschenfreundliche Kultur des Helfens im Sinne von helfen und Hilfe erhalten trägt in sich die gegenseitige Bezogenheit von Bedürfnis und Möglichkeit. Das diakonische Handeln gründet sich in diesem vor allem in der paulinischen Literatur für das Kirchenbild prägenden Ansatz der gegenseitigen Anteilnahme und Erbauung.

3.2.7 Diakonie als allgemeine christliche Berufung und als kirchliches Amt

Gegenseitiges Helfen und gegenseitige soziale Unterstützung, wie wir sie bisher beschrieben haben, waren in der Urchristenheit eine Grundstruktur des gemeinsamen Lebens und lagen insofern in der Verantwortung und in der Möglichkeit aller Gemeindeglieder, denen man dies auch zutraute. Alle sollen sich an dieser gemeinsamen solidarischen Verbundenheit beteiligen, jeder und jede «entsprechend dem, was jemand hat» (2Kor 8,12).

 

Dafür brauchte es anfänglich weder spezielle Strukturen, Institutionen noch spezialisierte Amtsträger. Solidarisches Helfen war ein Grundzug gemeinsamer Lebenspraxis, und zwar ein für das Sein christlicher Gemeinden wesentlicher Grundzug.135 Erst mit der Zeit entwickelte sich eine Gemeindestruktur, in der u. a. soziale Aufgaben an bestimmte, dafür speziell beauftragte Amtsträger übertragen wurden. «Diakon» als Amtsbezeicnung begegnet im Neuen Testament erstmals im Vorwort des Philipperbriefs,136 der wohl zwischen 56 und 58 n. Chr. verfasst worden sein dürfte. Ein eigentliches Diakonenamt begegnet aber erst in den Pastoralbriefen (1Tim 3).

Mit Ulrich Luz kann man festhalten: «Die spätere Zeit zeigt eine gewisse Tendenz zur Institutionalisierung: Lehre und praktische ‹Diakonie› |77| wurden im Amt des Bischofs bzw. der Diakoninnen und Diakone konzentriert, aber nicht einfach voneinander getrennt. Die Lehre gewann mehr und mehr einen gewissen Vorrang vor der Diakonie. Daneben aber bleibt die ganze Gemeinde zu Werken der Liebe, zur Gastfreundschaft, zur Fürsorge für die Armen aufgefordert. Deshalb ist die Diakonie bleibend eine ‹nota› der ganzen Kirche, in höherem Masse als die Lehre und die Theologie.»137

3.2.8 Zu Geschichte und Bedeutungsinhalten des Begriffs «diakonein»

Die Bedeutung, die unterschiedliche exegetische Positionen dem griechischen Begriff diakonia bzw. diakonein zuschreiben, hat Auswirkungen auf das Verständnis dessen, was Nachfolge, Nächstenliebe, Gemeindeordnung und kirchliche Ämter ausmacht.138

Nach Hermann Wolfgang Beyer bezeichnet diakonein das Dienen im Sinne von Tischdienst, bei Tisch aufwarten. Von diesem nach seiner Auffassung im profanen Griechisch verankerten Grundverständnis leitet Beyer alle anderen Bedeutungen ab. Er vertritt eine seines Erachtens spezifisch neutestamentliche Bedeutung von diakonein, indem er diesen Begriff von den jüdischen und griechischen Vorstellungen abgrenzt und als Ausdruck eines spezifisch christlichen Liebesdienstes versteht.139

Eduard Schweizer interpretiert im Anschluss an das Verständnis von Beyer Diakonie als Grundstruktur der christlichen Gemeinde und als Grundbegriff für kirchliche Amtsformen ganz generell. Er weist darauf hin, dass es für das, was wir «Amt» nennen, im Neuen Testament kein anderes Wort gibt als Diakonie. «Das heisst also, dass die Dienste in der Gemeinde sehr wohl unterschieden werden, auch als ‹Lehre, Fürsorge, Aufsicht usw.› bezeichnet werden können, dass aber kein Wort existiert, das die Gruppe der geordneten oder besonders wichtigen Dienste von den anderen abhebt.»140

Im Blick auf die feministische Diskussion sind in diesem Zusammenhang zwei Entwürfe zu nennen. Luise Schottroff untersucht den sozialgeschichtlichen Hintergrund der Wortverwendung von diakonein und stellt fest, dass damit im ausserbiblischen Bereich fast durchweg niedrige, unselbständige |78| Versorgungsarbeiten für Höhergestellte gemeint sind. Dass dieser Begriff, der eine niedrige Versorgungsarbeit bezeichnete, ausgewählt wurde, um in den christlichen Gemeinden als Schlüsselbegriff die leitenden Funktionen zu bezeichnen, zeigt ihrer Meinung nach eine grundlegende Patriarchatskritik: «Nicht Frauen mussten lernen, Füsse zu waschen, sondern die freien Männer. Und sie mussten lernen, Frauen die Teilhabe an Macht und Autorität zuzubilligen. Der neutestamentliche Begriff von Diakonie ist fundamental patriarchatskritisch.»141

Elisabeth Schüssler Fiorenza versteht mit Bezug auf Beyer unter diakonein materielle Dienste im Sinne des Tischdienstes oder andere niedrige Dienste. Trotz der Kritik an der kulturellen und religiösen Sozialisierung von Frauen «zu sich selbstaufopfernder Liebe und zu selbstlosem Dienst für andere» hält sie den Begriff Dienst (diakonia) für die Bezeichnung von kirchlichen Amtsfunktionen immer noch für ein «kraftvolles Symbol für christliche Feministinnen und Feministen».142 Sie will den Begriff «für eine kritische Infragestellung und Herausforderung der Strukturen der Herrschaft»143 wiedergewinnen. Diakonie als «kritische Kategorie» bestätigt patriarchalische Statusstrukturen oder Privilegien nicht, gerade nicht im Blick auf das kirchliche Amtsverständnis. «Amt darf nicht mehr als ‹Dienst› oder als ‹Jemandem-Aufwarten› gedeutet werden, sondern sollte als ‹Gleichheit von unten her› verstanden werden, eine Gleichheit mit all denen, die für Überleben, Selbstliebe und Gerechtigkeit kämpfen.»144

Der Praktologe Hans-Jürgen Benedict hat in den vergangenen Jahren den Ansatz des australischen Theologen John N. Collins (1990) in die deutschsprachige Diakoniediskussion eingebracht.145 Collins weist überzeugend nach, dass das Begriffsfeld ‹dienen› durch die diakonische Praxis der Diakonissen und Diakone von Kaiserswerth und Bethel seit Mitte des 19. Jahrhunderts zur Charakterisierung wahrer christlicher Existenz hochstilisiert wurde zum Dienst als Lebenshingabe. Wilhelm Brandts Studie «Dienst und Dienen im Neuen Testament» (1931) sowie der Artikel von Hermann W. Beyer zu diakonein im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament (1935) haben diese Interpretation als allgemein gängige Auffassung von Diakonie bis heute nachhaltig geprägt. Während üblicherweise der allgemeine Gebrauch von diakonein im Profangriechischen mit |79| dem Aufwarten bei Tisch interpretiert und diese Tätigkeit mit einem niedrigen sozialen Status verbunden wird, stellt Collins drei verschiedene Bedeutungen dieses Begriffs fest:

 Dienst im Sinne des Überbringens einer Botschaft durch einen Vermittler, Sprecher oder Kurier;

 Dienst im Sinne einer Tätigkeit als Agent oder Medium;

 Dienst im Sinne des Aufwartens bei Tisch.

Die gemeinsame Grundbedeutung ist die Vermittlung, das Go-Between. Dienende im Sinne von diakonein sind also Mittelsleute.

Es ist das Verdienst der Theologin Anni Hentschel, diesen Ansatz von Collins in neuster Zeit weiterentwickelt zu haben. Aus der Untersuchung der jüdisch-hellenistischen Schriften zwischen 400 v. Chr. und 100 n. Chr. ergeben sich nach Hentschel folgende Resultate:146 Anstelle von «Vermittlung» (John N. Collins) ist die «Beauftragung» als wichtigster Aspekt des Wortfeldes diakonein festzuhalten. Die Wortgruppe bezeichnet grundsätzlich nicht die niedrige Hausarbeit oder den Tischdienst, der von Frauen und Sklaven ausgeführt wurde. Aus der Verwendung des Begriffs geht nichts über Geschlecht, Stand oder Autorität der handelnden Subjekte hervor. Zunächst ist einfach eine Tätigkeit im Blick, die im Auftrag einer Person, einer Gottheit oder aus der Verpflichtung gegenüber einer Idee heraus erfolgt. Das Ansehen der beauftragten Person ist durch den Auftraggeber oder die Beauftragung gegeben. «Für die Exegese der neutestamentlichen Belegstellen ist zentral, dass eine Bezeichnung christlicher Missionare mit dem Titel diakonos nicht ausgehend von einer Grundbedeutung im Sinne eines Tischdienstes erklärt werden muss, […] sondern sie vielmehr unmittelbar als Gottes Beauftragte zur Verkündigung des Evangeliums ausweist.»147

Zusammenfassend können wir folgende Entwicklung im Verständnis des Begriffs diakonein beobachten:

 In der vor allem durch die Geschichte der Diakonissenhäuser und diakonischen Ausbildungsstätten geprägten traditionellen Auffassung wird Diakonie als (Liebes-)Dienst interpretiert, der in der Nachfolge Jesu bis zur Selbstaufopferung zugunsten der Bedürftigen führt. Das Neue im Begriff Dienst liegt nach Hermann W. Beyer darin, «dass Jesus nach Mk 10,45 und Mt 20,28 nicht bei dem Bilde des Tischdienstes bleibt, dass diakonein hier auch nicht nur zusammenfassender Ausdruck aller helfenden Liebestätigkeit am Nächsten ist, sondern als Vollzug eines |80| ganzen Opfers, als Hingabe des Lebens verstanden wird, die ihrerseits Inbegriff des Dienens, des Für-die-anderen-da-Seins im Leben und Sterben ist. Damit erreicht der Begriff des diakonein seine letzte theologische Tiefe.»148 Hier geht es um Diakonie als Liebesdienst.

 In der von John N. Collins 1990 publizierten Dissertation und ihrer Vermittlung im deutschsprachigen Raum durch Hans-Jürgen Benedict wurde die vermittelnde Tätigkeit beim Begriff diakonein besonders betont: «The Go-Between»,149 das Dazwischen-Stehen bekam grundlegende Bedeutung für die Tätigkeit des diakonos. Hier geht es um Diakonie als Vermittlung.

 Die neusten Untersuchungen von Anni Hentschel lassen erkennen, dass der Begriff diakonein «in der Regel eine Beauftragung bezeichnet, die den Beauftragten in ein Beziehungsverhältnis zwischen Auftraggeber und Adressaten einordnet, welches hierarchisch strukturiert ist und häufig eine Vermittlungsfunktion dahingehend nach sich zieht, dass der Beauftragte eine Sache oder Nachricht an die Adressaten überbringen muss».150 Hier geht es um Diakonie als Handeln kraft einer Beauftragung durch Gott, wobei dieses Handeln im Neuen Testament meist nichts mit sozialem Helfen zu tun hat, sondern eher mit Verkündigung und Gemeindeleitung, also in die Nähe des Apostolats zu stehen kommt. Mit den Worten von Hentschel: Die Wortanalyse in den späteren Schriften des Neuen Testaments «zeigt, dass diakonia und seine Derivate dort auffallend häufig die Übermittlung der christlichen Botschaft im Auftrag Gottes bzw. der Kirche an die Menschen bezeichnen. Sowohl Paulus selbst als auch ortsansässige Gemeindeleiter können in dieser Funktion als Diakonoi bezeichnet werden. Die Weiterführung dieses bereits bei Paulus belegten Sprachgebrauchs führte dazu, dass sich in den Gemeinden mit der Zeit diakonos zu einem Amtsbegriff entwickelt hat, mit dem eine Leitungsfunktion bezeichnet wird, die insbesondere die Verantwortung für die Verkündigung umfasst.»151

Wir teilen diese Sicht Hentschels. Daraus ergibt sich nun aber ein doppelter Schluss: Zum einen machen sowohl die Untersuchung von Collins als auch diejenige von Hentschel deutlich, dass die im Neuen Testament mit diakonein beschriebenen Tätigkeiten nicht als niedriger, demütig-ergebener |81| Dienst an den Armen beschrieben werden können, wie er in Wilhelm Löhes Diakonissen-Spruch seine prägnante Ausformulierung gefunden hat.152 Die mit diakonein beschriebenen Aktivitäten sind vielmehr als durch eine klare Beauftragung autorisierte, vollmächtige Leitungs- oder Vermittlungsfunktionen zu verstehen, die mit einem entsprechenden Selbstbewusstsein der Handelnden verbunden gewesen sein dürften.

Zum andern werden mit dem Begriff diakonein im Neuen Testament solch grundlegend andere Aspekte (der Verkündigung, der Mission, des Gemeindeaufbaus) ausgesagt, dass wir den Begriff als Bezeichnung für das uns in diesem Buch interessierende Phänomen der solidarischen Hilfe gegenüber Mitmenschen eigentlich gar nicht verwenden können. Christliche Sozialarbeit als Diakonie zu bezeichnen, ist ein begriffliches Missverständnis mit weitreichenden, verhängnisvollen Konsequenzen, ein Missverständnis, das sich allerdings ziemlich flächendeckend durchgesetzt hat. Eigentlich müsste man statt von Diakonie besser von karitativer, sozialer oder solidarischer Tätigkeit oder, wie wir es in diesem Buch vorzugsweise tun, von helfendem Handeln reden. Denn Diakonie ist ein reiner Formalbegriff, der eine Beauftragung umschreibt. Inhaltlich ist der Begriff für die Beschreibung helfenden Handelns letztlich unbrauchbar.

 

Wenn wir in diesem Buch auf den Diakoniebegriff doch nicht ganz verzichten, so einfach deshalb, weil er so weit verbreitet und geläufig ist und von so vielen christlichen Institutionen und sozial Tätigen als Selbstbezeichnung verwendet wird. Wir verwenden den Diakoniebegriff darum abwechselnd mit anderen Begriffen immer wieder, um anzudeuten, dass wir in diesem Buch von dem reden, was nun einmal landauf, landab, über Länder-, Sprach- und Konfessionsgrenzen hinweg als «Diakonie» bzw. als «diakonisch» bezeichnet wird. Aber es ist für uns dabei klar, dass es methodisch verfehlt ist, zur inhaltlichen Klärung dessen, was helfendes Handeln von Christen oder Kirchen heute sinnvollerweise ausmacht, auf die neutestamentlichen Belege des Wortfeldes diakonein/diakonia zurückzugreifen; |82| denn dieses meint, wie Hentschel überzeugend gezeigt hat, etwas ganz anderes als das deutsche Wort Diakonie.

Wir schliessen dieses Kapitel mit einem kurzen Überblick über die wichtigsten, klassischen neutestamentlichen Belegstellen, in denen diakonia/diakonein vorkommt, um zu verdeutlichen, dass es dort in der Regel nicht um soziales Handeln, sondern um eine Beauftragung zu anderen Diensten geht.

Paulus

Paulus bezeichnet mit diakonein die Ausführung von Aufgaben unterschiedlicher Art, die durch die Beauftragung durch Gott, Christus oder die Gemeinde (im polemischen Kontext auch durch Satan, vgl. 2Kor 11,14 f.) zustande kommen und häufig verschiedene Vermittlungs- und Botengänge beinhalten wie etwa das Überbringen der Kollekte nach Jerusalem im Auftrag der Gemeinden (2Kor 8,19 f.; 2Kor 9,1.12 f.; Röm 15,25). Diese Vermittlungsaufgabe als Ausdruck der umfassenden Gemeinschaft zwischen den christlichen Gemeinden hat nach Ulrich Luz wesentlich dazu beigetragen, das spätere Verständnis von «‹Diakonie› vorbereiten zu helfen, ebenso wie die Kollekte der paulinischen Gemeinden für Jerusalem zum Modell für spätere zwischenkirchliche Hilfen wurde».153

Paulus beschreibt mit dem Nomen diakonia (18-mal in den Paulusbriefen belegt) vor allem die Beauftragung zur Evangeliumsverkündigung im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern (2Kor 3,6: «Diener des neuen Bundes»; 3,8: Dienst am Geist; 3,9: Dienst der Gerechtigkeit; 4,1: Dienst [der Verkündigung], 5,18: Dienst der Versöhnung, in dem Paulus und seine Mitarbeiter als Gesandte Christi auftreten). Grundsätzlich werden alle Formen der Mitarbeit in der Gemeinde als offizielle Beauftragungen (diakoniai) durch Christus ausgewiesen (1Kor 12,5). Als Verbalsubstantiv (12-mal belegt) bezeichnet er die Mitarbeitenden als «beauftragte Verkündiger des gemeindegründenden bzw. -auferbauenden Evangeliums».154 Diese offiziellen Beauftragungen verleihen den Beauftragten durchaus eine besondere Autorität. Der Begriff diakonein ist deshalb für Paulus besonders geeignet, weil damit das Beziehungsnetz zwischen Auftraggeber, Beauftragten und Adressaten beschrieben wird. Zwar gibt es eine diakonia im engeren Sinne, zu der nicht alle Gemeindeglieder berufen sind (Röm 12,7). Weil jedoch jede Gestalt der Mitarbeit in der Gemeinde diakonia (Beauftragung) ist, können in diesem Sinne auch karitative |83| Tätigkeiten als diakoniai bezeichnet werden. «Ansonsten verwendet Paulus das Lexem nicht für im heutigen Wortsinn diakonische, d. h. karitative Aufgaben. […] Auch lässt sich die Verwendung von diakoneo und seiner Derivate bei Paulus weder auf einen niedrigen Status der aktiven Subjekte noch auf deren demütige Gesinnung schliessen.»155 Als Fazit hält Hentschel fest: «Diakonia bei Paulus ist also […] in erster Linie die Beauftragung und Autorisierung zu Wortverkündigung und Mitarbeit in Gemeindeleitung und -verwaltung, nicht das Schöpfen von Suppe für bedürftige Gemeindeglieder.»156

Lukas

Lukas verwendet den Begriff diakonein fast ausschliesslich im Sinne von Tischdienst und unterscheidet sich so von Paulus. Sind Frauen Subjekte, bezeichnet der Begriff entweder den gastfreundlichen Tischdienst (Lk 4,39; 10,40) oder die materielle Unterstützung (Lk 8,3).

Auch wenn der Begriff für Männer verwendet wird, bezeichnet er in der Regel die Aufwartung zu Tisch. Allerdings wird er metaphorisch zur Belehrung der Jünger im Hinblick auf ihre gesamthafte Verpflichtung interpretiert (Lk 12,35–38; 17,7 f.; 22,26 f.). Die Ermahnung zu einer der Lehre und dem Leben Jesu entsprechenden Ausübung ihrer Aufgaben verbindet sich mit der Warnung vor einem selbstherrlichen Streben nach Status und Erfolg. Die Vorliebe von Lukas für Mahlszenen bildet dabei den narrativen Hintergrund zur Beschreibung der Verantwortung in gemeindeleitenden Aufgaben.

In der Apostelgeschichte bezeichnet das Lexem diakonein verschiedene organisatorische und gemeindeleitende Aufgaben und Tätigkeiten, so den Verkündigungsauftrag der Apostel und von Paulus im Namen Gottes bzw. von Jesus Christus (Apg 1,17.25; 20,24; 21,19). Inhalt dieses Auftrages ist die Bezeugung des Evangeliums durch Wort und Tat, Wunder, Gemeindeleitung oder entsprechende Lebenspraxis sowie die Überbringung von Spenden (Apg 11,29; 12,25).

Die soziale Tätigkeit der Sieben in der Jerusalemer Gemeinde, beschrieben in Apg 6,1–6, wird durch den Begriff diakonia als wichtige Beauftragung

dargestellt und bezeichnet nicht ein niedriges oder gar dem Wortdienst untergeordnetes Amt. «Apg 6,1–6 kann entsprechend nicht als Erzählung über die Einführung eines im modernen Sinne des Wortes diakonischen Amtes gedeutet werden, sondern ist vermutlich auf dem historischen Hintergrund der Existenz verschiedener Leitungsgremien in Jerusalem zu verstehen, deren möglicherweise vorhandene oder von Lukas als solche empfundene Konkurrenz dieser durch die |84| entsprechende Darstellung einer Arbeitsteilung und Beauftragung der Sieben durch die Zwölf erzählerisch vermeiden will.»157

Paulus wie auch die Apostel sind mit der diakonia beauftragt, die als Bezeugen des Reiches Gottes und des Christusgeschehens umschrieben werden kann (Apg 1,21; 20,24 f.). Die gleichzeitige Verwendung der Begriffe Dienst und Apostolat für die Zwölf (Apg 1,25) zeigt die semantische Nähe der beiden Begriffe mit ihren Schwerpunkten von Beauftragung (diakonein) und Sendung (apostolein).

Die Gleichwertigkeit der zwölf Apostel und von Paulus im Hinblick auf ihre normative Verkündigungspraxis im Auftrag Gottes weist nicht auf ein Amt hin. Ihnen ist einfach die Verkündigung des Evangeliums anvertraut, die sie nach Lukas vorbildlich in der engen Verbindung von Zeugendienst und Lebenspraxis umzusetzen haben (Apg 20,19–27.33–35). Gerade die soziale Dimension des Umgangs mit Besitz und Geld lässt erkennen, dass im lukanischen Doppelwerk mit dem Begriff diakonia kein Amt, sondern eine offizielle Beauftragung beschrieben ist. So hat Lukas einen wichtigen Impuls gegeben, neben der Autorität eines Amtsträgers seine verpflichtende Verantwortung in der Amtsführung hervorzuheben.

Wirkungsgeschichtlich liess sich diese differenzierte Unterscheidung zwischen den diakonoi genannten Aposteln bzw. Paulus und den nachfolgenden Gemeindeleitern nicht halten. Die lukanischen Texte wurden später zur textlichen Begründung dafür, dass die Apostel, vor allem Petrus und Paulus, Diakone (Apg 6,1–7) und Bischöfe (Apg 20,17–38) in ihre jeweiligen Ämter einsetzten.

Späte Schriften

In den späten neutestamentlichen Schriften bezeichnet der Begriff diakonein häufig die Übermittlung der christlichen Botschaft im Auftrag Gottes bzw. der Kirche. Er entwickelte sich zum spezifisch geprägten Ausdruck der umfassenden, gemeindegründenden Verkündigung. Dadurch ermöglichte er den Weg hin zur Bezeichnung von Gemeindeämtern (diakonia) oder Amtsträgern (diakonoi), deren zentrale Verantwortung in der Wahrnehmung der Gemeindeleitung angesichts der Irrlehren und Bedrohungen von innen und aussen bestand. Eine Verschiebung des Sprachgebrauches deutet sich in 1Tim 3,8–13 an. Frauen und Männer werden nicht mehr ausschliesslich von Gott bzw. Christus beauftragt. Daneben tritt nun eine Einsetzung durch die Gemeinde und deren Leiter. Der diakonos-Titel bekommt offiziellen Charakter, indem die so Beauftragten nicht mehr nur Gott, sondern auch der Gemeinde gegenüber Rechenschaft ablegen |85| müssen. Eine Unterordnung der diakonoi unter die episkopoi (Bischöfe) ist in den späten Schriften des neuen Testaments exegetisch nicht auszumachen. Ein Nebeneinander der beiden Ämter mit verschiedenen Schwerpunkten ist eher wahrscheinlich.158 Am Ende des 1. Jahrhunderts stehen wir am Anfang der «Verkirchlichung» des diakonischen Auftrages der Gemeinden.

Zusammenfassend lässt sich am Ende dieser kurzen Übersicht über den neutestamentlichen Gebrauch des Begriffs diakonein und seiner Derivate mit Dierk Starnitzke festhalten, dass sich «konkrete Belege für die sozial-karitative Tätigkeit von diakonoi […] im Neuen Testament und in den Apostolischen Vätern nur an wenigen Stellen […] finden. Aufgrund dieser sehr geringen Hinweise darf man wohl davon ausgehen, dass die Bezeichnungen Diakon, Diakonin und Diakonisse im frühen Christentum kaum bestimmte Personen meinten, die soziale Hilfeleistungen erbracht haben. Dieses Verständnis hat sich vielmehr wohl erst in der modernen Diakonie seit dem 19. Jahrhundert in dieser Deutlichkeit entwickelt.»159

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