Diakonie - eine Einführung

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3.2 Neutestamentliche Aspekte

3.2.1 Jesu Heilungstätigkeit

Jesus half Menschen durch sein Wirken auf vielerlei Weise. Zum einen, indem er gesellschaftlich gesetzte Grenzen überwand. Er hatte keine Berührungsängste bei stigmatisierten Menschen und zeigte sich solidarisch mit ihnen, indem er zum Beispiel mit ihnen am selben Tisch ass, was ihm den Ruf eines «Fressers und Säufers, eines Freundes von Zöllnern und Sündern» eintrug (Mt 11,19; vgl. auch Lk 19,1–10). Durch seine Zuwendung zu ihnen drückte er Gottes Liebe aus, die allen Menschen gilt. Friedrich Wilhelm Horn sieht darin eine Leitlinie diakonischen Handelns bei Jesus.84

Zum andern half Jesus Menschen, indem er Kranke heilte.85 Horst Seibert beschreibt die Besonderheit von Jesu Heilungen im Kontext seiner Zeit. Jesus scheint so geholfen zu haben, dass er zuweilen auch von den auf Hilfe Angewiesenen erwartete, das Ihrige zur eigenen Heilung beizutragen (z. B. Mt 9,22). «Das Besondere am diakonischen Handeln Jesu war nicht, dass er Wunder tat. Mit dem Anspruch, Wunder tun zu können, traten auch andere auf. Aber Jesus besass die Gabe, ‹in anderen Menschen solche Fähigkeiten zu wecken› und die Bereitschaft, ihr ‹Recht, etwas zu tun›, anzuregen – anders als die Amtscharismatiker in Heilstätten, anders als die esoterischen Magier.»86 Ob nun Jesus bei anderen Menschen Energien, Kraftfelder oder Glauben freilegte, grundlegend ist: Jesus half, indem er heilte, und Menschen wurden gesund. Etwas von dieser unmittelbaren Hilfe kommt im folgenden Text zum Ausdruck:

|60| Und sie kommen nach Betsaida. Da bringen sie einen Blinden zu ihm und bitten ihn, er möge ihn berühren. Und er nahm den Blinden bei der Hand, führte ihn vor das Dorf hinaus, spuckte in seine Augen und legte ihm die Hände auf und fragte ihn: Siehst Du etwas? Der blickte auf und sprach: Ich sehe Menschen – wie Bäume sehe ich sie umhergehen. Da legte er ihm noch einmal die Hände auf die Augen. Und er sah klar und war wiederhergestellt und sah alles deutlich. (Mk 8,22–25)

Dass Jesus sich als Heiler betätigte, war offenbar ein auffallendes Kennzeichen seines Wirkens. Zwar wirkten auch andere Heiler zur Zeit Jesu. Dies ist jedoch kein Grund, Jesu heilendes Handeln zugunsten seiner Verkündigungspraxis herunterzuspielen und nur noch symbolisch zu deuten, wie dies häufig geschieht.87

Jesus hat Kranke geheilt. Es ging ihm wirklich darum, dass Kranke gesund wurden. Seit den Studien von Ulrich Bach ist allerdings deutlich geworden, wie problematisch es sein kann, wenn man unkritisch das heilende Handeln Jesu zur Norm diakonischen Handelns heute macht. Bach weist im Zusammenhang mit den Heilungsgeschichten Jesu auf die Gefahr einer – wie er es nennt – Apartheidstheologie hin, die chronisch Kranke und Behinderte ausgrenzt, weil sie davon ausgeht, dass Gott eigentlich den gesunden Menschen will, nicht den kranken, dass Letzterer also weniger dem Willen Gottes entspricht als Ersterer. Diesem Verständnis hält er entgegen: «Mindestens im ältesten Evangelium (Markus) wird sauber unterschieden zwischen Besessenen (man weiss nicht recht, was das ist; jedenfalls sollten wir hier keinesfalls psychopathische Phänomene denken) und Krankheiten; gegen die Besessenheit (Dämonie) hat Jesus in der Tat gekämpft, nicht aber gegen Krankheiten. Er hat Kranke geheilt, unbestritten; aber in den Texten geht es ‹locker› zu: Jesus hatte die entsprechende Begabung; es fehlt aber eindeutig das Kampfmotiv […]. Wie die Sicht des behinderten Menschen als eines Sonder-Menschen […] die Wurzel der Apartheidsideologie ist […], so ist die Behauptung eines gegen die Krankheiten kämpfenden Jesus die Wurzel der Apartheidstheologie. Denn bei dieser Behauptung steht der Behinderte (der chronisch Kranke, der Nicht-Geheilte) mindestens teilweise unter der Herrschaft dämonischer, gegengöttlicher |61| Kräfte. Das Heil Gottes kann daher einem Behinderten nur bruchstückhafter gehören als einem Nichtbehinderten. Alles in allem: Hier wird zwar nicht behauptet, der Weisse sei der eigentlich von Gott gemeinte Mensch (womit der Schwarze theologisch zum Aussenseiter wird), hier wird das Gleiche vom Gesunden behauptet; und damit werden Kranke und Behinderte anthropologisch zu ‹Niggern›.»88

Die in der Diakonie häufig gehörte Meinung, der zufolge Jesus einerseits gepredigt und andrerseits gedient (d. h. Dämonen ausgetrieben und Kranke geheilt) hat, wird von Bach auch in seinen neusten Untersuchungen scharf kritisiert: «Jesus hat, auftragsgemäss, gepredigt, und er tat es vollmächtig, dass […] die Geister ihren Geist aufgaben. Jesus ist gekommen, das nahe Gottesreich anzusagen. Das tat er, indem er predigte und Geister austrieb. – Und ausserdem heilte er. Das tut er. Aber dazu ist er nicht gekommen. Er heilte, aber er muss nicht heilen. Er heilt, aber nicht darin besiegt er Sünde, Tod und Teufel, nicht darin ist er ‹der von Gott Kommende›. Jesus heilt, weil er helfen will; Jesus predigt und treibt böse Geister aus, weil er kämpfen muss. Im Predigen und Geisteraustreiben geht es um unser Heil, nicht aber beim Heilen.»89 Mit anderen Worten: Wenn Jesus die Schwiegermutter von Petrus von ihrem Fieber heilt (Mk 1,29–31), geht es nicht um einen Herrschaftswechsel von dämonischen Kräften hin zu Gottes Reich.

Im Unterschied zu dämonischer Besessenheit, die nach Bach für Jesus einen Angriff auf das Reich Gottes darstellt, sind Krankheiten nichts anderes als Krankheiten, sie haben «christozentrisch gesehen keinerlei Belang, [mögen] sie uns Menschen auch noch so sehr quälen».90 Damit bekommen die Heilungsgeschichten eine neue Dimension für die Diakonie. Sie werden zum Zeichen schlichter, selbstverständlicher Hilfe, die Jesus mit seinem Charisma an einigen Kranken ausübte – ohne theologische Überhöhung.91

|62| Man wird die berechtigten Problemhinweise Bachs unbedingt ernst nehmen müssen. Gesunde Menschen sind Gott nicht näher als kranke; Menschen ohne Behinderung führen kein menschlicheres oder sinnvolleres Leben als Menschen mit einer Behinderung. «In Gottes Haushalt spielt Gesundheit und Krankheit, Stärke und Schwäche keine trennende Rolle […]. Gesundheit ist da, wo Gott herrscht, nicht besser, Behinderung ist nicht schlechter. Hier ist nicht Mann und Frau, hier ist nicht Behinderter und Nichtbehinderter, ihr seid allzumal einer in Christus, könnte man mit Paulus sagen (vgl. 1Kor 12,13; Gal 3,28).»92 Dennoch schiesst Bachs Ablehnung des Heilungsauftrags im Blick auf Jesus und seine Jünger (Mt 10,1; Lk 9,2.6) über das Ziel hinaus. Wir stimmen der Kritik von Herbert Haslinger an Bachs Position zu, «dass heilend-befreiende Zuwendung zum notleidenden Menschen, und zwar real erfahrbare Heilung und Befreiung aus Not, den Wesenskern der Praxis Jesu und seiner darin gegebenen Botschaft vom Reich Gottes bildet».93 Dass die Jesusbewegung so viele Menschen am Rande der Gesellschaft anzog, hat neben seiner Verkündigung des Reiches Gottes und seiner vorurteilslosen Zuwendung zu gesellschaftlich stigmatisierten Menschen schlicht darin seinen Grund, dass Jesus viele heilen konnte.94 Insofern bildet Heilen «ein unhintergehbares Postulat diakonischer Praxis».95

Allerdings gehen wir mit Hans-Jürgen Benedict einig, dass Jesu Heilungen neben dem Postulat körperlicher Gesundung noch weitere hilfreiche Impulse für helfendes Handeln aus christlicher Motivation geben und zudem auf zwei weiteren Ebenen relevant sind: «Einmal auf der Beziehungsebene. Die Mitwirkung des Hilfebedürftigen, sein Glaube ist vonnöten (vgl. Mk 6,5 f.). Der Glaube ist oft der eigentliche Wundertäter und Jesus weckt |63| diese Fähigkeit. Hier geschieht ein Stück Empowerment, das in der Sozialen Arbeit zunehmend eine Rolle spielt. Und weiter: Jesu Wunder sind als Integrationsgeschichten für die Diakonie wichtig. Jesu Wunder ermöglichen neue Gemeinschaft, bringen die Geheilten zurück ins normale Leben. Sie sind Geschichten, die sich gegen Ausgrenzungen wenden und als solche ein biblisches Korrektiv für eine Diakonie, die sich im 19. und 20. Jahrhundert in bester christlicher Absicht an Ausgrenzungen beteiligte (vor allem von Behinderten und sogenannt schwererziehbaren Jugendlichen).»96

Fragt man weiter nach Impulsen Jesu, die sich nachhaltig auf das Verständnis von Diakonie durch die Jahrhunderte ausgewirkt haben, so drängen sich vor allem vier Texte auf, die im Folgenden zu besprechen sind: Das Gebot der Nächstenliebe (Mt 22,34–40; Mk 12,28–34; Lk 10,25–28), das Gleichnis vom hilfsbereiten Samaritaner (Lk 10,30–37), die Rede vom Weltgericht (Mt 25,31–46) und die sogenannte Goldene Regel (Mt 7,12; Lk 6,31). Herbert Haslinger spricht im Blick auf die ersten drei von «neutestamentlichen Grosstexten der Diakonie».97

3.2.2 Das Gebot der Nächstenliebe

Dieses Gebot in seiner Gestalt als Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe kommt in allen drei synoptischen Evangelien vor (Mt 22,34–40; Mk 12,28–34; Lk 10,25–28).98 Seine zentrale Bedeutung zeigt sich schon daran, dass es im Matthäusevangelium als höchstes Gebot und zugleich als Quintessenz von Gesetz und Propheten, also des ganzen Alten Testaments bezeichnet wird (Mt 22,38 f.).99 In seiner lukanischen Variante lautet es: |64| «Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit all deiner Kraft und mit deinem ganzen Verstand, und deinen Nächsten wie dich selbst» (Lk 10,27). Es wird im Kontext extra darauf hingewiesen, dass dies keine neue, jesuanische oder christliche Sicht sei, sondern alte israelitische Tradition, die Jesus bestätigt: «Tu das, und du wirst leben» (10,28).

 

Die Bedeutung dieses Gebots lässt sich in Anlehnung an Herbert Haslinger100 in den folgenden fünf Punkten zusammenfassen:

 Die dem Nächsten gegenüber geforderte Liebe hat nicht viel mit unserem modernen, stark von der Romantik geprägten Verständnis von Liebe zu tun. Man muss den Nächsten nicht mögen, nicht sympathisch finden, um ihn zu lieben. Nicht um eine emotionale Verbundenheit geht es, sondern sehr viel nüchterner um die Bereitschaft zu konkretem, solidarischem Handeln angesichts einer bestimmten Notsituation, in der sich ein Mitmensch befindet.101

 Das Gebot ist ganz allgemein formuliert: Es fokussiert auf den Mitmenschen schlechthin, ob er jetzt Nahestehender oder Fremder ist, Freund oder Feind. Die Ausrichtung ist also universal, meint aber vor allem den notleidenden Mitmenschen.

 Diese universale Stossrichtung bringt es mit sich, dass Nächstenliebe im Extremfall auch die Feindesliebe mit einschliesst, von der Mt 5,43–48 in der Bergpredigt Jesu bzw. Lk 6,27 f.32–36 in Jesu Feldrede sprechen. Auch hier gilt: Nächstenliebe dem Feind gegenüber heisst nicht, ihn zum Freund zu gewinnen. Er bleibt ein Feind, ein Gegner, ein Konfliktpartner. Aber er soll auch als Feind fair, human behandelt werden: als Nächster oder Mitmensch eben.

 Die ganz irdisch-profane Nächstenliebe, also das solidarische, hilfsbereite Verhalten zum Mitmenschen in einer konkreten Notsituation, wird aufs Engste mit der religiösen Gottesliebe verbunden. Gott lässt sich nicht am helfenden Handeln gegenüber notleidenden Menschen vorbei lieben. Christliche Spiritualität kann es nicht geben ohne Solidarität |65| in sozialem Engagement.102 Herbert Haslinger pointiert: «Das Handeln dessen, der Nächstenliebe praktiziert, hat in sich und aus sich heraus – und nicht erst durch einen separaten ‹religiösen› Akt – die Qualität eines Handelns gemäss dem Willen Gottes.»103

 Nächstenliebe, wie sie in Jesu Gebot gefordert wird, setzt Selbstliebe voraus. Es geht nicht darum, den Nächsten anstatt oder auf Kosten meiner selbst zu lieben, sondern «wie mich selbst». Dahinter wird man die fundamentale menschliche Erfahrung und Erkenntnis vermuten dürfen, dass die Fähigkeit zur Liebe nur wächst, wenn jemand sowohl frei ist zu sich selbst als auch von sich selbst und dadurch für den Nächsten.

3.2.3 Das Gleichnis vom hilfsbereiten Samaritaner

Dem Gebot der Nächstenliebe schliesst sich im Lukasevangelium unmittelbar das Gleichnis vom hilfsbereiten Samaritaner an,104 das in der Diakonie- und Kirchengeschichte Menschen durch alle Jahrhunderte zum Helfen inspiriert hat. Es wird von Jesus als Antwort auf die Frage eines Schriftgelehrten, wer denn konkret sein Nächster sei, den er zu lieben habe, erzählt.

Ein Mensch ging von Jerusalem nach Jericho hinab und fiel unter die Räuber. Die zogen ihn aus, schlugen ihn nieder, machten sich davon und liessen ihn halb tot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab, sah ihn und ging vorüber. Auch ein Levit, der an den Ort kam, sah ihn und ging vorüber. Ein Samaritaner aber, der unterwegs war, kam vorbei, sah ihn und fühlte Mitleid. Und er ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm. Dann hob er ihn auf sein Reittier und brachte ihn in ein Wirtshaus und sorgte für ihn. Am andern Morgen zog er zwei Denare hervor und gab sie dem |66| Wirt und sagte: Sorge für ihn! Und was du darüber hinaus aufwendest, werde ich dir erstatten, wenn ich wieder vorbeikomme. Nach dieser Antwort fragte Jesus den Schriftgelehrten: Wer von diesen dreien meinst du, ist dem, der unter die Räuber fiel, der Nächste geworden? Der sagte: Derjenige, der ihm Barmherzigkeit erwiesen hat. Da sagte Jesus zu ihm: Geh auch du und handle ebenso. (Lk 10,30–36)

Das Gleichnis besteht aus einer alltäglichen Geschichte, deren Weltlichkeit in der Theologiegeschichte meist nicht ausgehalten und die deshalb oft allegorisch zu einer theologischen Geschichte uminterpretiert wurde.105 Die von Gott erwartete und von Jesus als vorbildlich dargestellte Nächstenliebe des hilfsbereiten Samaritaners wird rein profan beschrieben, ohne dass religiöse Züge dabei zu entdecken wären: Wir hören nichts von einer religiösen Motivation des Samaritaners, nichts von einem seelsorglichen, religiösen Zuspruch für den Verwundeten, es wird kein Gebet gesprochen, kein Segen erteilt, keine spirituelle Heilung vollzogen. Der Überfallene erhält einfach Zuwendung und praktische Massnahmen Erster Hilfe; dann wird er in ein Wirtshaus gebracht, wo er in Sicherheit ist und weitere Betreuung erfährt. Gerd Theissen konstatiert zutreffend: «So paradox es klingt: Die klassische Erzählung zur Begründung christlicher Hilfsmotivation, die Samaritergeschichte, gibt wenig zur Begründung einer spezifisch christlichen Hilfsmotivation her. Und sie gibt erst recht nichts her, um eine allgemein-menschliche Hilfsmotivation abzuwerten. Im Gegenteil! Die Geschichte kann als Aufforderung an uns verstanden werden, Hilfsmotivation bei allen Menschen zu entdecken und anzuerkennen. Hilfsmotivation ist souverän gegenüber kulturellen und religiösen Grenzen.»106

Es ist wohl kein Zufall, dass die grossen Vorbilder helfenden Handelns im Neuen Testament nicht als Jesus-Jünger dargestellt werden: Der Samaritaner ist kein Christ, nicht einmal ein als rechtgläubig geltender Jude.107 Die arme Witwe mit ihrer von Jesus als vorbildlich erklärten Spende ist Jüdin und keine Anhängerin Jesu (Mk 12,41–44). Der Hauptmann von Kafarnaum, der der einheimischen Bevölkerung hilft, indem er ihr eine Synagoge stiftet (Lk 7,1 ff.), ist Heide und politischer Feind. Der grossen Sünderin wird vergeben, weil es von ihr heisst, sie habe viel geliebt (Lk 7,47).

|67| Das Entscheidende christlichen Helfens im Gleichnis vom hilfsbereiten Samaritaner zeigt sich gerade in dem, was Eberhard Jüngel als «religiöse Anspruchslosigkeit» des Helfens bezeichnet hat; eine Anspruchslosigkeit, «die auch allem nichtchristlichen Handeln in Wahrheit eignet, die aber nur zu oft durch pseudoreligiöse Emphase verdeckt oder verdorben wird.» Denn «was der Christ für andere tut, das tut er eben. Er würde die Qualität seines Handelns nicht verbessern, sondern verderben, wenn er ihm einen religiösen Mehrwert an Bedeutung zuerkennt. Er würde damit die Würde des Selbstverständlichen zerstören, die alles gute Handeln auszeichnet.»108

Damit ist auch schon gesagt, dass es nach diesem Gleichnis Jesu im Glauben nicht um irgendein theologisches Fürwahrhalten, inneres Gestimmtsein oder liturgisch-rituelles Praktizieren geht, sondern um konkrete Praxis der Nächstenliebe. Das ist die Antwort des Gleichnisses auf die Frage des Schriftgelehrten, was er tun müsse, um ewiges Leben zu erben (Lk 10,25). «Das Samaritergleichnis definiert die theologische Orthodoxie als diakonische Orthopraxie.»109

Die Pointe des Gleichnisses liegt im Wechsel der Perspektiven hinsichtlich des Verständnisses dessen, wer als «Nächster» gilt. Der Schriftgelehrte fragt, wer denn sein Nächster sei (Nächster als Adressat von Hilfe), um den Kreis derer einzugrenzen, die als Nächste mit einem moralischen Anspruch auf Hilfe infrage kommen. Jesu Antwort kehrt die Perspektive um: Die Frage ist nicht, wer als Nächster einen Anspruch auf Hilfe an mich haben kann; die Frage ist vielmehr, von wessen Not ich mich so berühren lasse, dass sie mich zum Helfen herausfordert und ich so zum Nächsten des Notleidenden werde (Nächster als Subjekt des Helfens). Das aber heisst: Kein Mensch ist grundsätzlich von der Hilfe ausgeschlossen. Die Ausweitung des Gebots der Nächstenliebe bis hin zum Feind zeigt an: Es gibt keinen vorbestimmten Kreis von Nächsten mehr. Jeder Person, der ich konkret helfen kann, kann ich zum Nächsten werden. Und gleichzeitig gilt, dass sich die Frage, ob und inwiefern sich jemand tatsächlich als Nächster erweist, aus der Perspektive der hilfebedürftigen Person entscheidet, nicht aus der Sicht derjenigen, die helfen!110

|68| Schliesslich ist an diesem Gleichnis die Zweistufigkeit der Hilfe bedeutsam: Zuerst hilft der Samaritaner ganz persönlich aus spontanem Mitleid mit dem Opfer des Überfalls. Aber sein beherztes Helfen ist punktuell und begrenzt: Er liefert den Verletzten so rasch als möglich im nächstgelegenen Wirtshaus ab und organisiert dort gegen Bezahlung die «stationäre» Weiterbetreuung des Mannes.111 Anderntags zieht der Samaritaner wieder fort. Helfendes Handeln braucht oft die Verbindung beider Formen: des spontanen persönlichen Einsatzes und der institutionalisiert-beruflichen Dienstleistung, um wirksam sein zu können. «Diakonie braucht die richtige Balance zwischen der Nähe emotionaler Berührtheit und der Distanz sachlicher Nüchternheit, zu der auch die Kunst des rechtzeitigen Heraustretens aus Hilfebeziehungen gehört.»112

3.2.4 Die Rede vom Weltgericht

Die in Mt 25,31–46 dargestellte Rede Jesu vom Weltgericht, die zur Weltliteratur menschlicher Barmherzigkeit und Nächstenliebe gehört, entfaltet erneut das bereits in den beiden oben dargestellten «Grosstexten der Diakonie» deutlich gewordene, für das Verständnis von Diakonie so wichtige universalistische Ethos eines Helfens in «religiöser Anspruchslosigkeit». Geschildert wird die Szene des universalen Gerichts am Ende der Zeiten beim Kommen Jesu als Menschensohn.

Dann wird er als königliche Richtergestalt denen zu seiner Rechten sagen: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, empfangt als Erbe das Reich, das euch bereitet ist von Grundlegung der Welt an. Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen. Ich war nackt, und ihr habt mich bekleidet. Ich war krank, und ihr habt euch meiner angenommen. Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten |69| antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich bekleidet? Wann haben wir dich krank gesehen oder im Gefängnis und sind zu dir gekommen? Und der König wird ihnen zur Antwort geben: Amen, ich sage euch: Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. (Mt 25,34–40)

Die folgenden Verse 41–46 stellen spiegelbildlich das verwerfende Urteil über diejenigen dar, die die entsprechenden sechs «Werke der Barmherzigkeit» den geringsten Brüdern vorenthalten haben.

Dieser Text kann als «Magna charta» der Diakonie gelten. Mit Christoph Morgenthaler ist festzuhalten: «Konkrete Menschen tun in konkreten Situationen konkreten anderen Menschen konkret Gutes. Sie tun das so Allerselbstverständliche, Menschliche und doch so wenig Selbstverständliche.»113 Dass es hier um elementar menschliches Handeln geht, zeigt sich in vielen Parallelen zu diesem Katalog der «Werke der Barmherzigkeit» in anderen religiösen Schriften.114

|70| Es ist das Verdienst des Neutestamentlers Gerd Theissen, anhand von Texten wie der Rede Jesu vom Weltgericht und deren Wirkungsgeschichte das universale Hilfehandeln ins Zentrum diakoniewissenschaftlicher Aufmerksamkeit gerückt zu haben.115 Er unterscheidet zum einen eine universalistische Auslegungstradition der Weltgericht-Rede, bei der mit «alle Völker» alle Menschen gemeint sind, die unter dem Anspruch stehen, den notleidenden «geringsten Brüdern», also allen Notleidenden, beizustehen. Zum anderen eine partikularistische Auslegungslinie, derzufolge der Text Hilfeleistungen im Auge hat, die Nichtchristen, also Heiden, gegenüber Christen, insbesondere den urchristlichen Wandermissionaren, erbringen. Vermutlich hat der Text eine Geschichte durchgemacht. Ganz ursprünglich war wohl vom Gericht über Heiden (also Nichtjuden) aufgrund ihres Verhaltens gegenüber Juden die Rede. Diese Tradition könnte später mit dem Erfahrungshintergrund urchristlicher Wandermissionare verarbeitet worden sein, die von anderen Menschen unterstützt wurden. Diese Richtung wird in der exegetischen Forschung von Ulrich Luz bestätigt: Der Evangelist Matthäus hat in den notleidenden Brüdern nicht alle Menschen, sondern die notleidenden Jünger gesehen.116

 

Matthäus kennt jedoch eine Transparenz der Erfahrungen der Jünger für das, was alle Menschen angeht. So stellt Theissen fest: «Die mt Gerichtsschilderung in Kap 25 vertritt zumindest tendenziell ein universales Hilfsethos. Der Stoff trägt die Spuren eines partikularistischen Hilfsethos: Heiden werden daran gemessen, wie sie Israeliten helfen. Hier gibt es noch eine |71| Binnengruppe und eine Aussengruppe. Im Rahmen des Matthäus-Evangeliums geht die Bearbeitung aber in eine universalistische Richtung. Alle sind mögliche Adressaten der Hilfe – und alle sind mögliche Subjekte der Hilfeleistungen.»117

Drei Aspekte dieses Textes sind für ein am Neuen Testament orientiertes Verständnis von Diakonie besonders wichtig:

 Die vom Weltenrichter als «Gerechte» angesprochene Gruppe von Menschen hat die genannten Werke der Barmherzigkeit offensichtlich einfach aus spontanem menschlichem Mitgefühl heraus getan, ohne damit eine besondere religiöse Absicht zu verfolgen. Darum sind sie so erstaunt, dass ihnen dieses selbstverständlich anmutende, profane helfende Handeln als etwas angerechnet wird, das sie dem Weltenrichter selbst erwiesen haben. In dieser völligen «religiösen Anspruchslosigkeit» (E. Jüngel) deckt sich dieser Text mit dem Gleichnis vom hilfsbereiten Samaritaner.

 Die konkreten Taten mitfühlender Solidarität, an denen die Völker in dieser Gerichtsrede gemessen werden, sind keine ausserordentlichen, heroischen Leistungen. Es geht um ganz elementare zwischenmenschliche Hilfe zur Abdeckung der lebensnotwendigen Grundbedürfnisse. Mehr ist nicht verlangt. Es wird von niemandem verlangt, eine Mutter Theresa oder ein heiliger Franziskus zu werden. Der Rahmen des alltäglich-mitmenschlich Möglichen wird nicht gesprengt.

 In diesem Text geschieht – ähnlich wie im Samaritaner-Gleichnis – ein grundlegender Perspektivenwechsel: «Der Nächste ist nicht nur Gegenstand menschlicher Barmherzigkeit. Der Nächste ist Träger der Barmherzigkeit Gottes.»118 Dadurch gewinnt das hierarchische Gefälle der Hilfebeziehung zwischen starken Helfenden und schwachen Hilfe-Empfängern eine Umwertung: In der Begegnung mit den Notleidenden werden die Helfenden selbst zu Empfangenden: Sie begegnen Gott, der ihnen zugewandt ist, in dem ihr Heil gegründet ist. Denn die Hilfebedürftigen erscheinen nicht nur als defizitär, sondern als Ebenbilder Gottes, was ihnen Würde und Status verleiht.