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Sieben Helden
Christoph Glowatz
published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
Copyright: © 2013 Christoph Glowatz
ISBN 978-3-8442-5836-3
Inhaltsverzeichnis
1. Langeweile
2. Gregor
3. Das Dorf
4. Der Admiral
5. Der Pullover
6. Die Prophezeiung
7. Der neue Held
8. Ich will nach Hause!
9. Die Idee
10. Isatscho
11. Dally
12. Kaufleute im Dorf
13. Takeo
14. Eddy
15. Training
16. Pepe
17. Der Gemeinderat tagt
18. Die Abstimmung
19. Eine Überraschung für den Admiral
20. Ruhe nach dem Sturm
21. Das Verhör
22. Verstärkung
23. Eine Demonstration der Stärke
24. Die Tradition
25. Geschichten im Regen
26. Berthold und seine Söhne
27. Der Ausbruch
28. Der Agent
29. Können Tauben humpeln?
30. Überfall im Moor
31. Cagliostro
32. Der neue Chef
33. Auf der Flucht
34. Der Dorfrat tagt wieder
35. Unter Beschuss
36. Das Tauschgeschäft
37. Die Stille
38. Auge in Auge
39. Die Feier
40. Wieder zu Hause
Nachwort
1. Langeweile
Johannes hatte Langeweile. Er war jetzt acht Jahre alt und so weit er sich zurück erinnern konnte, war es die größte Langeweile, die er bisher in seinem Leben gehabt hatte. Das meinte er zumindest, während er auf dem Teppichboden in seinem Zimmer lag und eine seiner kleinen Spielfiguren mit dem Finger umstieß und wieder aufstellte, wieder umstieß und wieder aufstellte und wieder umstieß und wieder aufstellte. Die Figur war einer seiner beinahe unzähligen kleinen Ritter, die auf der Burg zu Hause waren, die drüben in der Ecke neben der Kommode stand. Es war einer der einfachen Ritter, die zu Fuß gehen mussten und ein einfaches Wams trugen, keiner der prachtvoll ausgestatteten Turnierritter mit Federbusch am Helm, langer Lanze und schönem Pferd, von denen auch eine ganze Reihe Johannes' Burg bevölkerte. Diese ritterlichen Stammesunterschiede kümmerten Johannes aber im Moment sehr wenig. Während der kleine Ritter abermals zu Boden ging, kam Johannes' Mutter mit einem Stapel Wäsche ins Zimmer und begann die Kommode damit voll zu räumen.
„Na, kleiner Mann, langweilst Du Dich? Wird wohl Zeit, daß die Schule wieder beginnt!“
Ja, besser Schule als diese öden Tage in den Ferien, dachte Johannes. In drei Wochen würde er in die dritte Klasse kommen. Vor einer Woche war Johannes mit Mama und Papa und seiner älteren Schwester Julia vom Urlaub auf Mallorca zurückgekommen, während sein bester Kumpel Theo erst an diesem Samstag nach Italien gefahren war. Da waren zwar noch ein paar andere Jungs aus seiner Klasse, die noch nicht in die Ferien verreist oder schon wieder zu Hause waren, aber mit denen konnte man auch nur den ganzen Tag Fußball spielen oder mit dem Rad in der Gegend herum fahren. Und auch das fand Johannes heute todlangweilig.
„Geh' doch in den Garten und gieß' das Gemüsebeet“, schlug Mama vor, ohne auch nur den Hauch von Begeisterung für diese Idee zu erwarten.
„Keine Lust“, murmelte Johannes mehr dem Ritter als seiner Mutter zu. Warum konnte nicht einmal etwas wirklich Spannendes passieren? Ein Meteorit könnte in das Nachbarhaus einschlagen oder ein paar Außerirdische auf dem Garagendach gegenüber landen. Zur Not wäre auch eine aus dem Zoo ausgebrochene Affenhorde nicht schlecht, die mitten auf der Kreuzung anfing, allen Autos die Außenspiegel zu verdrehen und die Antennen ab zu schrauben. Richtig cool wäre aber eine Raumkapsel, die an Fallschirmen im Garten landen würde. Johannes würde die Astronauten dann zum Abendbrot einladen und sie könnten das Neueste vom Mond oder Mars erzählen, je nachdem, wo sie denn gerade herkämen.
„Mama, wann bekomme ich endlich die Monster-Rakete?“, wechselte Johannes das Thema. Seit Wochen war er nun schon ganz scharf auf diese riesengroße und unglaublich echt aussehende Monster-Rakete mit Laserkanonen und Robotergreifarmen. Man konnte sie in mehrere Teile zerlegen, um eine Landung auf einem fremden Planeten möglichst genau nachspielen zu können. Die Landekapsel verfügte selbstverständlich über voll funktionstüchtige Fallschirme. Seine Eltern hatten ihn aber immer wieder auf Weihnachten (in fünf Monaten) oder seinen Geburtstag (in acht Monaten) vertröstet, beides natürlich völlig unmöglich, weil Johannes auf beides praktisch noch unendlich lange warten musste.
„Da musst du wohl noch bis Weihnachten warten, Jo, oder sparen, bis du dir die Rakete kaufen kannst“, meinte Mama dann auch wieder. Johannes ließ von seinem Ritter ab und dreht sich zu Mama um.
„Bis Weihnachten bin ich bestimmt vor lauter Langeweile gestorben, dann brauche ich die Rakete auch nicht mehr. Wollt Ihr nur noch zu dritt unter dem Weihnachtsbaum sitzen?“
Mittlerweile war Johannes' Vater nach Hause gekommen und hatte wohl schon mitbekommen, daß es wieder um die Rakete ging.
„Nun spinn' mal nicht so 'rum, Sohnemann, so schlimm wird es wohl auch nicht sein.“ Sein Blick schweifte einmal quer durch das Kinderzimmer.
„Hier gibt es ja wohl genug Spielkram, mit dem du dich bis Weihnachten über Wasser halten kannst. Vor lauter Rittern, Indianern und Piraten kann man ja kaum noch durch dein Zimmer gehen! Und von den ganzen Treckern, Baggern und Feuerwehrautos, die noch in den ganzen Kisten liegen, wollen wir gar nicht erst anfangen.“
Papa hatte leicht reden, wenn der einen neuen Fotoapparat oder irgendetwas für seinen Computer haben wollte, dann konnte er es sich ja einfach kaufen und musste nicht monatelang auf seinen Geburtstag warten. Wenn der die Rakete hätte haben wollen, dann wäre er einfach in den Spielzeugladen gegangen und hätte sofort abheben können.
„Mit denen kann ich aber nicht mehr spielen, die sind ja schon alle lange tot“, erwiderte Johannes, warf sich auf sein Bett und starrte an die Decke.
„Na, dann können wir das ja alles verkaufen oder gleich an die Nachbarskinder verschenken, vielleicht freuen die sich darüber. Eine Spielfigur für jedes Kind in der Stadt könnten wir fast schaffen“, meinte Papa ziemlich gleichgültig und ging hinaus. Johannes nahm diese Drohung nicht sonderlich ernst, sagte aber trotzdem lieber nichts. Mama hatte ihren Wäschekorb erfolgreich auf die Fächer verteilt, erinnerte zum Trost daran, daß es heute Bratkartoffeln zum Abendbrot geben würde und ging dann auch nach unten.
Beim Abendessen stocherte Johannes ziemlich lustlos in den Kartoffeln herum, die er sonst in Rekordzeit verschlingen konnte, während Julia ohne Punkt und Komma vom Training für die bevorstehenden Schwimm-Meisterschaften berichtete und welche neuen Rekordzeiten sie geschwommen sei. Johannes hörte kaum zu und dachte statt dessen lieber an Countdowns, Mondlandungen und Angriffe von Killer-Aliens. Und weil nichts müder machte als Langeweile, ging er am Abend früh ins Bett. Seine Mutter kam noch einmal zum Gute-Nacht-Sagen vorbei und zog die Vorhänge zu.
„Schlaf mal schön, mein Lieber, morgen sieht die Welt schon wieder anders aus. Es gibt nun mal Tage, da weiß man nichts mit sich anzufangen. Geht aber vorbei, glaub mir. Auch ohne die tollste Rakete der Welt.“
Sie gab Johannes einen Kuss, streichelte einmal über die Bettdecke und ging dann hinaus. Es war noch hell genug im Zimmer, so daß Johannes die Ritterburg in der Zimmerecke sehen konnte. Auf der Mauer stand ein Burgfräulein, das Johannes mit Schwert und Helm zu einer Ritterin gemacht hatte. Vor dem Burgtor stand ein Ritter mit Bärtchen, den Julia immer „Zorro“ und Johannes den „Spanier“ nannte, weil er in Rot und Blau gekleidet war und aussah wie ein spanischer Fußballspieler. Vor der Burg stand ein Bauernhaus, das Papa für Johannes aus Holz gebaut hatte, in dem eine Handwerker-Familie wohnte. Am anderen Ende des Zimmers hatten ein paar Indianer ihre Zelte aufgebaut. Die Indianer waren etwas größer und viel detailreicher als die Ritter, konnten aber Arme und Beine nicht bewegen. Am Lagerfeuer saßen ein prächtiger Häuptling mit Federschmuck und ein Bogenschütze mit grünem Hut, die sich gut zu verstehen schienen. Die Piraten wiederum lagen mit ihrem Schiff unter dem Schreibtisch vor Anker, sie hatten merkwürdigerweise Pferde mit an Bord und beherbergten eine Art Zauberer oder Alchimisten. Sie hatten offenbar einen der Ritter entführt, einen vornehmen Gesellen, mit wallendem Mantel und großem Hut. Der Piraten-Kapitän stand an der Reling und blickte aufs Meer hinaus. Zuletzt fiel Johannes Blick noch auf das Regal, in dem neben den vielen Büchern eine komische Figur saß, die eine Maske wie ein Eishockey-Torwart trug, ganz in Schwarz gekleidet war und gleich zwei Schwerter bei sich hatte, ein langes und ein kurzes. Tante Britta hatte die Figur aus Japan mitgebracht und auch erklärt, was es mit diesem merkwürdigen Gesellen, den sie Samurai nannte, auf sich hatte. Aber ihren Platz im Regal hatte die Figur eigentlich nie mehr verlassen. Langweilig, auch langweilig, dachte Johannes, alle langweilig, langweilig und alle schon lange tot, todlangweilig. Papa hat wohl recht, man sollte alles verkaufen und vom Geld dann die Monster-Rakete kaufen, ist doch alles Baby-Spielzeug und viel zu öde für einen Weltraumkämpfer wie Johannes, dem gerade die Augen zufielen. Und so schlief er dann auch ein.
Aber die Spielfiguren verfolgten Johannes noch bis in seine Träume. Darin schlängelte sich eine scheinbar unendlich lange Reihe von Figuren durch das ganze Haus und nachdem die erste von ihnen umgefallen war, fielen alle anderen ebenfalls um, eine nach der anderen, so wie man es von den Dominosteinen kennt. Die kleinen Figuren purzelten durch das ganze Haus und Johannes folgte ihrer Spur, bis er schließlich bei der letzten Figur angekommen war. Diese lag unmittelbar vor einer riesig großen Rakete, die durch das ganze Treppenhaus bis unter das Dach hinauf reichte und genau so aussah, wie die sehnlichst gewünschte Monster-Rakete, mit Roboterarmen und Laserkanonen, nur eben viel größer. Die Tür der Rakete öffnete sich und ein Mann stieg heraus. Allerdings war der Mann kein Astronaut im Raumanzug, sondern eher ein Gartenzwerg mit einem fast weißen Spitzbart, der einen himmelblauen Mantel an hatte, statt einer Zipfelmütze aber einen Zylinderhut trug. Darauf saß ein Eichhörnchen und knabberte an einer Nuss.
„Bist Du der Johannes, der sich so schrecklich langweilt, obwohl er so viele Sachen besitzt, mit denen er sich die Zeit vertreiben könnte?“, fragte der wunderliche alte Mann und lächelte dabei.
„Ja“, sagte Johannes und der Alte fuhr fort: „Und Du hast Freunde, mit denen du nichts unternehmen möchtest?“
Johannes bejahte auch diese Frage.
„Es ist schade, wenn ein Junge wie du mit seiner Zeit nichts anzufangen weiß. Doch ich will Dir helfen“, sprach der Mann da, griff in seine Manteltasche und zog eine kleine Spielzeug-Schaukel hervor.
„Achte auf zwei Dinge, Johannes. Zuerst auf die Schaukel. Wenn du nur kräftig genug schaukelst, dann wirkt sie Wunder.“
Er hielt die kleine Schaukel vor sich hin und schwang sie hin und her.
„Und dann“, sagte er, während er die letzte der vor ihm liegenden Spielfiguren aufhob und Johannes in die Hand drückte, „dann achte auf die kleinen Helden!“ Kaum hatte er das gesagt, da verschwand der alte Mann und mit ihm die Rakete, die Spielfiguren, das Haus und der ganze Traum.
2. Gregor
Als Johannes am nächsten Morgen aufwachte, konnte er sich an den Traum von den Domino-Männchen nicht mehr erinnern. Aber den wunderlichen alten Mann sah er noch deutlich vor sich. Und auch dessen merkwürdige Andeutungen über Schaukeln und kleine Helden gingen ihm nicht so recht aus dem Kopf. Johannes zog sich Jeans und seinen Lieblings-Weltraum-Pullover an und ging nach unten in die Küche. Dort deckte seine Mutter gerade den Frühstückstisch.
"Papa und Julia schlafen noch, hast Du nicht Lust, eben Brötchen holen zu gehen?“, fragte sie.
"Warum nicht, kannst du mir etwas Kleingeld geben, Mama?"
„Ja, und schreib auf, was du mitbringen sollst: Schokohörnchen für Dich und Julia, zwei Körnerbrötchen für Papa und eins für mich. Und noch ein halbes Roggenbrot.“
Johannes fand keinen Zettel und riss ein Stück von dem Anzeigenblättchen ab, das auf dem Tisch lag, und schrieb auf, was er mitbringen sollte. Johannes steckte den Zettel und einen Fünf-Euro-Schein ein, den ihm seine Mutter gegeben hatte, zog sich Schuhe an und ging hinaus. Die Bäckerei lag nur zwei Straßen weiter und auf dem Weg dorthin musste Johannes durch den kleinen Park gehen, der sonst immer von vielen kleinen Kindern und ihren Müttern bevölkert wurde. So früh am Morgen war dort aber noch nichts los, nur ein paar Tauben nutzten die Geräte auf dem kleinen Spielplatz für ihre Flatterübungen. Als Johannes an der Schaukel vorbei ging, musste er wieder an den komischen alten Mann aus seinem Traum denken. Hatte der nicht gesagt, eine Schaukel würde Wunder gegen seine Langeweile wirken? Oder so ähnlich? Ach was, dachte Johannes, das war doch nur ein Traum, so spannend ist Schaukeln nun auch wieder nicht und es wird wohl kaum die Monster-Rakete an ihren Fallschirmen vom Himmel vor seine Füße fallen, wenn er nun ein paar mal hin und her schaukeln würde. Alles Quatsch, alles Kindergeschichten. So ganz sicher war Johannes sich aber doch nicht: Wenn der Alte nun doch so eine Art Zauber-Onkel oder Feen-Opa gewesen war, der Kindern im Traum erscheint, um ihnen ihre größten Wünsche zu erfüllen? Während Johannes noch überlegte, griff er zur Kette, an der die Schaukel hing, und einen Moment später hatte er sich schon hingesetzt. Er begann langsam zu schaukeln, schließlich konnte das nicht schaden, selbst wenn die Sache mit Traum völlig bedeutungslos gewesen wäre. "Tja, da passiert ja doch nichts“, sagte Johannes zu sich, schaukelte dann aber etwas heftiger, so wie es der alte Mann aus dem Traum ihm aufgetragen hatte. Er schaukelte noch etwas höher und mit noch etwas mehr Schwung. Mit voller Kraft warf er Beine und Oberkörper im Rhythmus der Schaukel vor und zurück und schwang noch höher und noch schneller. Und als Johannes meinte, er würde kurz vor dem Überschlag stehen, da geschah es: Die Schaukel schien sich vom Gestell zu lösen, so als seien die Halteketten gerissen. Johannes glaubte, frei durch die Luft zu fliegen und rechnete schon mit einem harten Aufprall. Aber er flog immer weiter und weiter und noch weiter, ohne daß sein Flug ein Ende nahm. Um sich herum konnte Johannes nichts mehr erkennen, nicht den Spielplatz, nicht den Park und auch nicht die Stadt. Es wurde so hell um ihn herum, daß er die Augen schließen mußte. Aber nur einen Augenblick später war sein Flug wieder zu Ende. Johannes hatte das Gefühl, schon wieder aus einem Traum auf zu wachen und öffnete vorsichtig die Augen. Er hatte noch gar nicht richtig gemerkt, wo er denn nun eigentlich gelandet war, da hörte er ein lautes und aufgeregtes Rufen:
"He, bist du denn verrückt geworden, versteck' dich bloß schnell wieder, sie kommen gleich!"
Johannes hatte gar keine Zeit festzustellen, wer ihm da gerade begegnet war und jetzt hektisch auf ihn ein redete, da wurde er von dem Fremden schon um die Ecke hinter einen Bretterzaun gezogen.
"Was, wer kommt gleich?" fragte Johannes verdutzt, während sich um ihn herum eine mächtige Staubwolke legte. Er musste husten.
"Psst, sei still, sonst hören sie uns, da sind sie doch schon!", ermahnte ihn der Fremde wieder. Der lugte vorsichtig durch zwei Bretter und Johannes erkannte nun, daß der Fremde ein etwa gleichaltriger Junge war. Er hatte ziemlich struppige Haare, trug eine weites dunkles Hemd, eine zerschlissene Kniebundhose, wie Johannes sie aus dem Wanderurlaub kannte, und dazu ausgelatschte Lederschuhe ohne Schnürsenkel. Da Johannes wissen wollte, vor wem sie sich eigentlich nun hinter dem Zaun versteckten, kroch er ein Stück näher an die Bretter heran und schaute auch durch einen Spalt. "Sei bloß leise!", flüsterte der Junge ihm zu. Zuerst sah Johannes gar nichts, nur ein paar Sträucher und einen steinigen Weg, der zwischen einem Wald und dem Acker hindurchführte, auf dem die beiden gerade hinter dem Zaun lagen. Allerdings hörte er ein Pferd wiehern und auch Hufgetrappel. Und dann sah er sie: Drei Reiter auf schwarzen Pferden kamen den Weg entlang. Sie redeten nicht, sondern schienen aufmerksam die Gegend zu beobachten. Alle drei trugen lange schwarze Mäntel und schwarze Hüte, dazu schwere Stiefel und Handschuhe. Zwei der Reiter hielten Säbel oder Schwerter in den Händen, mit denen sie in den Gebüschen am Wegesrand herum stocherten. Der dritte ritt etwas hinter den beiden anderen, an seinem Hut schwang ein Federbusch und an seinem Ohr baumelte ein großer runder Ohrring. Johannes fand, daß alle drei aussehen wie Piraten, finstere Gesellen, denen man vermutlich besser aus dem Weg ging.
"Wer waren denn die drei Typen?“, fragte Johannes den fremden Jungen als die drei Reiter ein Stück weiter geritten waren. Der Junge vergewisserte sich noch einmal, daß die drei außer Hörweite waren und sah vorsichtig über den Zaun.
„Typen? Was meinst du mit 'Typen' ? Das war der widerliche Franco mit zweien seiner Männer. Sag bloß, die kennst Du nicht?“
„Nö, muss ich?"
„Wär' schon besser für dich, glaub mir. Ich verschwinde jedenfalls, ich muss im Dorf Bescheid sagen, daß sie wieder in der Nähe sind. Los, weg hier!“
Der Junge sprang auf und rannte los in Richtung Wald und Johannes lief ohne lange darüber nachzudenken hinterher. Der fremde Junge lief sehr schnell und Johannes hatte Mühe, ihm zu folgen. Der Wald war sehr dicht, einen richtigen Weg gab es nicht, und nach einiger Zeit war sich Johannes sicher, alleine gar nicht mehr herausfinden zu können. Also musste er dem Jungen immer weiter hinterher. Kurz bevor Johannes die Puste auszugehen drohte blieb der Junge glücklicherweise plötzlich stehen.
„Hier sind wir sicher“, sagte der Junge und atmete noch schwer. „Du siehst zwar nicht aus wie einer der Banditen, aber ich muss vorsichtig sein. Schieb' mal deine Ärmel hoch.“
Johannes war von dem Lauf durch den Wald ebenfalls völlig außer Atem und lehnte sich erst einmal an einen Baum, um wieder zu Luft zu kommen. Der Junge kam zu ihm herüber, packte seinen Arm und schob den Ärmel nach oben. Bevor Johannes fragen konnte, was er denn da suchte, war auch der andere Arm an der Reihe.
„Gut“, sagte der Junge, „ihr Zeichen trägst du nicht. Wie heißt du? Woher kommst du?“
„Was für ein Zeichen? Ich bin Johannes, eigentlich wollte ich Brötchen holen gehen, aber dann bin ich auf die Schaukel und dann war ich hier.“
„Du wolltest Brötchen kaufen gehen? Hier im Wald?“
Der Junge sah Johannes ungläubig an, ging aber schon wieder weiter.
„Also, Johannes, Brot gibt es bei uns im Dorf, da kannst bestimmt etwas bekommen, zumindest bevor die Banditen wieder kommen und alles mitnehmen. Außerdem bist du wohl genau so harmlos wie ahnungslos, also komm' mit!“
Und schon marschierte er weiter.
„Und wer bist du?“, rief Johannes dem Jungen nach, während er ihm schon wieder hinterher lief.
„Ich bin Gregor, Gregor der Sohn von Jakobus, dem Schmied.“
3. Das Dorf
Es dauerte nicht mehr lange bis Johannes und Gregor den Rand des Waldes erreichten. Gregor blieb neben einer großen Eiche stehen, streckte seinen Arm aus und zeigte in Richtung von ein paar Büschen, hinter denen Johannes einige Häuser erkennen konnte: „Das ist mein Dorf.“
Als sie sich dem Dorf weiter näherten, erkannte Johannes, daß es sich um ziemlich alte und einfache Häuser handelte. Sie waren aus Holz und groben Steinen gebaut und ihre Dächer waren mit Stroh und Reisig gedeckt. In dem Dorf gab es auch keine richtige Straße, keine Ampeln und keine Autos. Das Dorf sah auch nicht so aus wie die Dörfer, die Johannes von Ausflügen aufs Land kannte, denn dort gab es ja zumindest Traktoren, Feldwege und Verkehrszeichen. Aber wo war er hier gelandet? Dieses Dorf hier erinnerte ihn mehr an das Freilichtmuseum, das er mit seiner Schulklasse im letzten Herbst besichtigt hatte und in dem verkleidete Frauen und Männer alte Handwerks-Berufe vorführten, die es heutzutage gar nicht mehr gab. Die verkleideten Frauen und Männer gab es auch in Gregors Dorf, allerdings wirkten sie alle gar nicht verkleidet, sondern ziemlich echt. Ein barfüßiger Mann führte einen Pferdekarren quer durch das Dorf, ein paar Frauen saßen vor einem Haus und flochten Körbe und ein Mädchen versuchte, ein paar Ziegen in einen kleinen Stall zu sperren. Aus einem Haus kam ein lautes Geräusch, als wenn jemand mit einem Hammer auf ein Metallstück einschlug. Das war das Haus, zu dem Gregor ging. Johannes hüpften ein paar Hühner vor die Füße, flatterten aber aufgeregt gleich weiter. „He, ihr zwei, erschreckt mir die Hühner nicht, sonst legen sie wieder keine Eier“, rief den beiden Jungen eine Frau zu, die gerade aus der Tür herausgekommen war und Bettwäsche auf die Wäscheleine neben dem Haus hing.
„Macht nichts, Mutter“, beruhigte Gregor sie, „bei Vollmond legen die doch eh kaum Eier.“
Gregors Mutter sah zum Himmel wo der bleiche Mond schon gut zu erkennen war. „Hast Du die Schafe zur Weide gebracht?“, fragte sie.
„Mutter, wir haben Franco mit zwei anderen Banditen bei den Feldern gesehen.“
„Ob Du die Schafe zur Weide gebracht hast, habe ich gefragt!“
„Ja ja, habe ich, und dabei habe ich die drei Banditen am Wald entlang reiten sehen, du weißt doch, was es heißt, wenn sie so nah am Dorf sind!“
„Ich weiß zumindest, was es heißt, wenn du dich wieder irgendwo in der Gegend herumtreibst und die Schafe nicht auf der Weide ankommen. Und wie dreckig du wieder aussiehst, du sollst die Schafe hüten, und dich nicht mit ihnen auf dem Boden herum wälzen. Und wer ist eigentlich dein Freund da, kenne ich den?“
„Das ist Johannes, der hat die Banditen auch gesehen, er kommt von weit her und möchte Brot kaufen.“
Johannes wusste nicht so recht, was er sagen oder machen sollte, verbeugte sich aber ein wenig. Gregors Mutter machte einen energischen, aber auch freundlichen Eindruck. Sie trug ein einfaches schwarzes Kleid mit einer grauen Schürze darüber, die Ärmel hatte sie bis über die Ellbogen hochgekrempelt und das braune Haar war hinter dem Kopf zusammengesteckt. Jetzt schaute sie genau so ungläubig wie ihr Sohn.
„Brot kaufen? Bei uns? Und dafür von weit her kommen? Wir backen zwar nicht schlecht, aber dafür würde ich wirklich nicht von weit her kommen. Und jetzt zieht eure schmutzigen Schuhe aus und kommt erst mal herein, auch wenn ihr Buben den ganzen Tag nur Unsinn gemacht habt, Hunger habt ihr bestimmt, da kann dein Johannes gleich etwas von unserem Brot kosten! Vater wird auch schon hungrig sein. Kommt herein.“
Gregor und Johannes zogen die vom Marsch durch den Wald wirklich sehr dreckig gewordenen Schuhe aus, stellten sie neben die Tür und folgten Gregors Mutter ins Haus. Auch drinnen fühlte sich Johannes an das Museumsdorf erinnert. Die Möbel waren aus groben Holz gebaut, es gab einen großen Ofen, der offenbar auch zum Kochen genutzt wurde, aber weder Fernseher noch Radio oder andere elektrische Geräte. Eine steile Stiege führte nach oben unter das Dach. Gregors Mutter stellte sich auf die erste Stufe der Stiege und rief nach oben:
„Marie, kannst du saubere Hemden und Hosen nach unten bringen, hier sind zwei junge Herren, die sich erst zu uns an den Tisch setzen dürfen, wenn sie ihre verdreckten Sachen ausgezogen haben!“.
Während sich Johannes noch im Haus umschaute, zog Gregor schon seine schmutzige Kleidung aus und legte sie über einen Stuhl in der Ecke.
„So, so, hat der Herr Schafhirte sich wieder mit den süßen Lämmchen auf der Weide gewälzt?“ hörte Johannes jemanden von der Stiege herunter fragen.
"Gib mir lieber die Hose und halte keine klugen Reden, Waschfrau!" antwortete Gregor dem Mädchen, das nun die Stiege herab kam.
"Das ist meine geschwätzige Schwester, sie heisst Marie, Mariechen Plappermaul."
"Habe ich mir schon gedacht, ich meine, daß sie deine Schwester ist. Ich habe auch eine."
Johannes hob zum Gruß etwas schüchtern seine Hand, bekam aber im selben Moment schon Hose und Hemd zugeworfen. Marie trug ein altmodisches Kleid und einen auffallend langen blonden Zopf. Sie war ein paar Jahre älter als Gregor und deutlich größer.
"Und das ist Johannes, der bei uns Brot kaufen will, ich habe ihn hinter dem Wald vor den Banditen gerettet", erklärte Gregor, während er in die neue Hose schlüpfte.
"Du hast ihn gerettet?", fragte Marie und schien ihren Bruder nicht recht ernst zu nehmen.
"Hast du die Banditen mit deinem Hirtenstock in die Flucht geschlagen oder hast du ihnen die Schafe auf den Hals gehetzt?“. Sie wandte sich Johannes zu.
„Du musst nämlich wissen, die schwarzen Banditen fürchten nichts mehr als meinen wilden kleinen Bruder mit seinen noch wilderen Schafe", meinte Marie zu Johannes gewandt, der noch immer mit den Kleidungsstücken in der Hand da stand.
Gregor streckte ihr die Zunge heraus.
"Schluss, ihr beiden“, unterbrach Gregors Mutter, "Marie, du gehst jetzt zur Schmiede und sagst Vater Bescheid, dann kann sich unser Gast auch ungeniert umziehen. Und danach kommt endlich das Essen auf den Tisch! Beim Essen kann uns Gregor dann von seinen Heldentaten berichten."
Marie ging zur Tür hinaus und Johannes begann, Jeans und Pullover auszuziehen. Gregor's Mutter nahm ihm beides gleich aus den Händen.
"Gib' mal gleich her, Johannes, die kommen mit den anderen Sachen in die Wäsche, wirst sehen, morgen sind die wieder wie neu." Dabei befühlte sie den Stoff und zog anerkennend die Augenbrauen nach oben.
"Da habt ihr aber einen guten Tuchmacher in Eurem Dorf, der einen so dicken und festen Stoff weben kann. Und färben kann er auch gut, ein feines Blau hat er da geschafft, alle Achtung, auch wenn man es unter dem Staub kaum noch erkennen kann."
Sie nahm die Sachen und legt sie zu Gregor's schmutzigen Kleidern auf den Stuhl in der Ecke. Dann begann sie mit Gregors Hilfe, Geschirr aus dem Schrank zu holen, gab Johannes ein paar Teller und gemeinsam deckten sie damit den Tisch in der Mitte des Hauses. Dazu legten sie Brot, Wurst und einen großen Schinken, eine Schale mit dicken Bohnen, Zwiebeln und Kräutern. In die Mitte stellte sie einen großen Krug mit Wasser und einen etwas kleineren mit Wein, dazu ein paar Becher aus Metall. Im selben Moment flog die Tür wieder auf und ein kräftiger Mann kam zusammen mit Marie herein. Er trug eine lederne Schürze und feste Schuhe. Seinem verschwitzten Gesicht sah man an, daß er wohl den ganzen Tag hart gearbeitet hatte. Offenbar war das Jakobus, der Schmied, der Vater von Gregor und Marie. Während er sich an einer Wasserschüssel, die auf einer kleinen Anrichte unter dem Fenster stand, Gesicht und Hände wusch, stellte Marie noch eine kleine Schüssel mit Schmalz auf den Tisch und setzte sich.
„Marie hat mir schon von unserem Gast berichtet.“ sagte Jakobus, während er sich ebenfalls an den Tisch setzte. „Fürwahr, wir haben selten Besuch von außerhalb. Wenn wir aber welchen haben, dann wollen wir ihn so recht wie möglich bewirten, nicht wahr, Grethe?“
„Natürlich, Jakobus, so ist es guter Brauch.“ antwortete Gregors Mutter und begann, ein kurzes Tischgebet zu sprechen.
„Wir haben nicht viel, aber was wir haben, ist gut“, sagte Jakobus danach und nahm sich vom Brot und Schmalz. „Also, willkommen in meinem Haus, Johannes, greif ordentlich zu und erzähle uns, was dich hierher in unser Dorf verschlagen hat!“
Aber bevor Johannes antworten konnte, kam ihm Gregor zuvor:
„Also, ich habe hinter dem Wald die drei Banditen bemerkt und wollte herausfinden, was sie vorhaben, da war er plötzlich da und wäre ihnen ahnungslos in die Arme gelaufen, wenn ich ihn nicht zurückgehalten hätte!“
„Pah, wahrscheinlich war es genau andersherum, Du hast wieder bei den Schafen vor dich hin geträumt und Johannes hat dich vor den Banditen gerettet“, fiel ihm Marie ins Wort.
„Ruhe, ihr beiden!“ meinte Jakobus da energisch, während er sich ein Stück Wurst abschnitt, „ich will Johannes hören, nicht euer Gezänk. Also sprich, mein Junge.“
Johannes hatte sich bis jetzt noch gar nichts vom Essen genommen, griff aber jetzt zu Brot und Wurst.
„Also, ich komme aus der Stadt, wollte Brötchen holen gehen, war im Park und dann bin ich auf die Schaukel und plötzlich lag ich neben Gregor im Staub und die drei komischen schwarzen Piraten ritten an uns vorbei. Danach sind wir hierher gerannt“, sprudelte es da aus ihm heraus. Gregor, Marie und Mutter Grethe sagten nichts. Jakobus schaute zu Johannes hinüber, kaute seinen Bissen zu Ende und begann dann herzhaft zu lachen.
„Hahaha, aus der Stadt kommst du – die Stadt liegt fünf Tagesritte entfernt, die Strecke bist du doch kaum zu Fuß gelaufen, um bei uns Brot zu kaufen, ein Pferd hast du ja keines dabei. Und einen Park hat dort nur der Herr Fürst auf seinem Anwesen – und nach einem der fürstlichen Kinder siehst du nicht aus, fürwahr!“
Auch Gregor, Marie und Mutter Grethe mussten lachen.
„Also, sprich ruhig die Wahrheit, wir sind rechtschaffene Leute hier im Dorf, uns kannst Du vertrauen“, fuhr Vater Jakobus fort, „Ich wette, du bist von daheim ausgerissen und der Hunger hat dich in unser Dorf getrieben!“
Johannes überlegte kurz, ob er auf seiner Geschichte bestehen sollte. Aber da ja selber noch nicht verstanden hatte, wie er eigentlich vom Spielplatz zu Hause hierher in das Dorf gekommen war, entschied er sich dagegen und stimmte lieber zu.
„Ja, so war das wohl. Ein Glück, daß ich Gregor begegnet bin, hätte sonst mit den Piraten, ich meine Banditen, ganz schön schief gehen können.“
„Sag ich doch!“, rief Gregor da. „Der fiese Franco ist mit zwei anderen umher geritten, um zu sehen, ob die Luft rein ist. Da wird die ganze Bande bald wieder ins Dorf kommen und sich holen, was nicht niet- und nagelfest ist.“