Stille Tage in Paris

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Aus der Reihe: Die kleine Amerikanerin #3
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Christine Trapp, Monica Armstrong, Peter Citti

Stille Tage in Paris

Ein Roman zum 40. Jahrestages des Filmklassikers „Der letzte Tango in Paris“ von Bernardo Bertolucci

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Paris – LA, ein Anruf

2. Dimanche à Paris

3. Lundi, der Anruf

4. Die Amerikaner kommen

5. Erics Drehbuch

6. Für eine neue Nouvelle Vague

7. Der Italiener hat klare Vorstellungen

8. Blow Up Now

9. Erste Reaktionen

10. Paris brennt!

11. Ein Bild geht um die Welt

12. Revolte ohne Manifest?

13. Besuch aus London

14. Die Italiener kommen

15. Fleischbeschau für einen französisch- italienischen Sexfilm

16. Ein Anruf

17. Ein Star macht Zicken, das ist bekannt

18. Ein kleines rotes Buch, von dem ich noch nie gehört habe

19. Dad sorgt für klare Verhältnisse

20. Im Gegensatz zu mir sind meine französischen Freunde immer gegen den Imperialismus gewesen. (Jean-Luc Godard)

21. Es geht los!

22. Italiener kennen keinen Schlaf

23. Dienstag, der erste Drehtag, weitere werden folgen

24. Terry Malloy, ein US-Star in Paris

25. Drehtage mit Terry

26. Mao-Mao!

27. A Star is born

28. Wieder in LA

Anmerkungen:

Impressum neobooks

1. Paris – LA, ein Anruf

Stille Tage in Paris

Roman

Monica B. Armstrong, Christine „Tini“ Trapp & Peter Citti


Dies ist ein Roman über das Filmemachen in Frankreich, jede Ähnlichkeit mit lebenden und toten Personen ist nicht zufällig.

Über die Autor:innen

Monica B. Armstrong, geb. 1990 in Rom, aufgewachsen in Klagenfurt, Autorin und Sales Agent für Filme; lebt in Los Angeles.

Christine „Tini“ Trapp, geb. 1992 in Viktring, aufgewachsen in Klagenfurt, Autorin, PR-Agentin für Filme, Journalistin, lebt in Los Angeles.

Peter Citti, geb. 1970 in Villach, Autor, Drehbuchautor und Filmregisseur, lebt in Mailand und Sevilla.

Der einzig wahre Realist ist der Visionär.

Federico Fellini

Für meine beste Freundin Christine, die mich nächtelang von Paris aus in LA zugequatscht hat.

Los Angeles im April 2021

Monica B. Armstrong

Bonjour, comment allez-vous? (Hallo, wie geht’s Ihnen?) Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich heiße Janet West, ich bin 23 Jahre alt, und mein Vater hat mich vor zwei Tagen zu nachtschlafender Zeit in Europa angerufen, so als hätte er noch nie etwas von Zeitzonen gehört.

Dad sagt: „Mädel, West-Film befindet sich in einer Notsituation, und du bist die Einzige, die uns vorübergehend aus der Patsche helfen kann.“

Wenn ein Dad so anfängt, bedeutet das, dass kein Widerspruch geduldet wird.

„Okay, Dad, was steht an?“, darf ich höflichkeitshalber fragen.

„Duane hat einen lukrativen Job drüben in London bei einem 200-Millionen-Dollarfilm bekommen, und die Gelegenheit können wir nicht auslassen. Es ist ein großer Actionfilm, der erste, in den wir seit vielen Jahren einsteigen werden, und Duane ist im richtigen Alter, um dort einen der Executive Producer zu machen, ich hoffe, das ist dir klar, Babe“, sagt mein Dad unmissverständlich in Englisch, obwohl ich 10.000 Kilometer weit weg in Klagenfurt, Kärnten, bin, wo ich an der Alpen-Adria-Universität gerade meinen Abschluss in den Fächern Film- und Theaterwissenschaften, Englisch, Französisch und Italienisch gemacht habe.

„Well, Dad, ich bin dabei. Was ist zu tun?“, frage ich, es ist klar, dass ich in Klagenfurt keine Wurzeln schlagen werde, auch wenn unser Abschlussfilm noch nicht fertig ist, sollen ihn andere fertigstellen, es gibt genug Wichtigtuer an der AAU, die sich berufen fühlen, so einen Film ins Finale zu bringen. Ich muss damit rechnen, nicht zur Premiere eingeladen zu werden.

„Schwamm drüber, vergiss Klagenfurt, schau einfach nach vorn, Babe, die Vergangenheit interessiert dich nicht mehr“, sagt mein Mentor, der Verrückte, der in Kärnten zurückbleiben wird.

„Das ist ja unmöglich, dass Monica und Johnny unsere Janet von heute auf morgen wegnehmen“, polterten die Katzenomi und der Altbulle, also Grandma und Grandpa, in Kärnten, aber natürlich wissen auch sie, dass der Tag gekommen ist, von dem jeder hoffte, dass er niemals kommen würde, und der doch kommen musste.

So gab es zu meinem Abschied nur ein kleines Fest mit ganz engen Verwandten und Freunden. Der Verrückte zeigte mir zu Ehren „Leoparden küßt man nicht“, den Film, den er auch damals gezeigt hat, als meine Mutter die Stadt für immer verlassen hat, um in Los Angeles ihr Glück zu versuchen, und dort bestens verheiratet wurde.

Was für ein schöner Film! Der ideale Film, um Abschied zu nehmen; ein letztes Mal gibt es gutes Kino-Cola und die feine Kinomarmelade, und dann sitze ich auch schon am nächsten Morgen im Bus nach Venedig – von dort startet das Flugzeug, das mich nach Paris bringen wird.

Rue Jenner, 13, im 13. Arrondissement, 75013 Paris. Es ist eine Megastadt in einem ganz anderen Land. Man wacht auf, und man spricht Französisch.

Ich bin allein in einem kleinen Apartment über den Filmateliers, die für alle möglichen Zwecke vermietet werden. Hier wird alles gedreht, was vor die Kamera gehört: Kurzfilme, Werbung, Szenen für Langfilme, ganze Spielfilme. Es gibt auch eine Requisite und ein Archiv, durch das ich mich am Wochenende wühlen werde.

Duane ist am Wochenende noch da, um mir die wichtigsten Dinge zu zeigen, die ich einfach wissen muss. Es gibt Gästezimmer für die ganz kleinen Crews, die in den Ateliers und in Paris drehen wollen. Alle anderen werden im Hotel Jenner untergebracht, das ganz in der Nähe ist; dort frühstücken sie auch und kommen dann in die Ateliers herüber, wo der allgemeine Treffpunkt ist, es kann aber nicht schaden, wenn ich ab und zu ins Hotel Jenner hinübergehe und den Faulpelzen beim Frühstücksbuffet ordentlich Dampf unter den Hintern mache.

„Lass dich nur ja nicht von den Amis als Köchin einspannen. Die Amis sind die schlimmsten Schnorrer, die du dir vorstellen kannst“, hat Duane mich gewarnt, der schon mit den Gedanken drüben in London ist.

„Wenn du was brauchst, geh einfach zum Bio-Carrefour, das sind gerade mal 200 Meter, das schaffst du locker in der Früh“, sagt Duane.

„Und wo ist hier das nächste Kino?“, frage ich.

„Das Kino. Immer das Kino! Ich wusste doch, dass die Frage kommt“, sagt Duane.

„Na klar, was sonst?“, antworte ich.

„Du bist ganz wie deine Mom und der Verrückte“, sagt Duane.

„Richtig, was sonst?“, antworte ich frech.

„Am besten, du gehst in die MK2 Bibliothèque, das ist nicht weit weg, 1,7 Kilometer, mit denen machen wir auch manchmal was, wenn wir Szenen in einem Kinosaal drehen wollen, die sind total auf Draht, aber die Pressevorführungen unserer eigenen Filme machen wir hier. Unsere beiden Studios sind mit Beamern und 35- und 16-mm-Projektoren ausgestattet, da kannst du wirklich viel sparen, größere Filme machst du am besten auch im MK2, aber so etwas hatten wir bisher noch nicht. Außerdem bist du vom Fach und brauchst keinen Vorführer für unsere kleinen Filme wie Werbung, Kurzfilme und Indies anheuern“, sagt Duane.

 

„Kann ich mir auch etwas aus dem Fundus nehmen?“, frage ich.

„Klar, nimm, was du willst, ist überhaupt kein Problem. Es gibt keine Inventarlisten“, antwortet Duane.

„Was trägt so eine junge Pariserin in meinem Alter?“, frage ich.

„Auf jeden Fall kurz. Hohe Stiefel. Overknees. Einen langen Mantel und einen Hut“, sagt Duane.

„Wie im Letzten Tango?“

„Wie im Letzten Tango. Mit Hut. Das kommt hier immer perfekt an. Außerdem ist es November“, sagt Duane.

Ich ziehe mich um. Er prüft mein Outfit. Ich schwinge die Hüften wie ein Model. Er ist zufrieden. Er nimmt mich in die Arme und küsst mich. Ich schlinge die Arme um seinen Hals und küsse ihn. Er hebt mich hoch. Ich schlinge die Beine um seine Hüften. Wir treiben es im Stehen. Ich reite genussvoll auf seinem Schwanz. Er legt mich flach. Wir treiben es in einem Atelier auf einer Matratze, die eine Filmcrew hier hat liegen lassen. Wir haben Sex.

Es ist unsere erste und einzige Sexnummer hier in Paris. Am Nachmittag wird er nach London abreisen. Aber diese Sexnummer gehört uns beiden.

Zu Mittag lädt Duane mich noch in die Pizzeria in der Rue Jenner ein, er meint, dass hier die Nudeln besser sind als die Pizza, aber ich bleibe bei der Pizza, weil ich zwei Tage nur Junkfood gegessen habe, und er isst seine Spaghetti, wir genehmigen uns einen Salat zu zweit, die Preise in dieser putain Paris sind atemberaubend.

Während wir essen, suchen seine Füße ihren Weg zwischen meine Beine. Erotik pur. Der Geschmack der Pizza steigt ins unermesslich Feine. Ich verstehe, warum die Pariser Mädchen im Winter kurze Röcke tragen.

Duane bezahlt. Wir verlassen die Pizzeria und küssen uns ein letztes Mal leidenschaftlich auf der Rue Jenner.

Dann kommt der Bus, Duane nimmt seinen Koffer und seine Sporttasche, er winkt mir ein letztes Mal zu, gewürzt mit einer obszönen Geste, und dann ist er weg.

Ich bin allein auf einer Straße in Paris, im 13. Arrondissement, ich bin kaum einen Tag hier in der französischen Hauptstadt, und ich fühle mich wie eine Profinutte, die hier die Gehsteige nach Kunden abklappert.

Ich schlage den Weg zur Pont de Bercy ein, um mein neues Revier etwas kennenzulernen, es ist ein kühler Samstagnachmittag im November, es sind viele Leute auf der Straße, wieso sollte ich nicht ins Kino gehen?

Mir ist es egal, wie ich heute den Tag totschlage, es ist kühl, es ist regnerisch, ich spüre die Kälte zwischen den Beinen, ich hätte Jeans statt des Minirocks anziehen sollen, ich beschließe, mir im Nachmittagsprogramm den erstbesten französischen Film anzusehen und dann ins Atelier zurückzukehren, um in Ruhe das Studio, die Requisite und das Archiv zu durchstöbern.

Die erste US-Crew kommt erst am Mittwoch, bis Mittwoch muss ich gewappnet sein.

Duanes Tipp mit der MK2 Bibliothèque ist perfekt. Ich sehe mir eine Repertoirevorstellung von La vie d’Adèle“ und im Anschluss Les Misérables von Ladj Ly an, die im vergünstigten Doppelprogramm angeboten werden. Ich genehmige mir nach dem fünfstündigen Kinomarathon eine Pause in der Cafeteria und einen Café au lait und ein Törtchen und beschließe, den Samstag mit Poupoupidou abzuschließen, der perfekt zu einem feuchten, kalten Novemberabend passt.

Gegen Mitternacht verlasse ich das Kino, für die Supernachtvorstellung bin ich nach drei Vorstellungen noch nicht bereit, ich bin ja eben erst in Paris angekommen.

Ich nehme eine Seitenstraße zur Seine und komme an den Vorführkabinen vorbei, eine junge Fille, die nicht viel älter ist als ich, genehmigt sich zwischen den Vorführungen einen Joint mit einem Kollegen.

„Salut, wie waren die Filme? War das Bild scharf, oder hast du sonst was an der Vorführung auszusetzen?“, fragt mich die Fille.

„Nein, war alles okay“, antworte ich, „Wieso?“

„Une cinéphile, die sich drei Filme hintereinander gibt, fällt auf, auch in Paris“, antwortet die Fille.

„Bien, das Bild war scharf, der Ton war gut, es war ein echtes Filmerlebnis“, antworte ich.

„Merci, du bist keine Französin, obwohl du gut Französisch sprichst“, sagt ihr Kollege.

„Oui, ich bin eine Amerikanerin aus Österreich“, sage ich.

„Das klingt kompliziert. Da bist du in Paris ganz richtig. Hier ist alles kompliziert“, antwortet ihr Kollege.

„Willst du die Kabinen sehen? Jetzt ist die beste Gelegenheit dazu“, werde ich eingeladen.

Natürlich nehme ich die Einladung an, ich bin ja selbst vom Fach und bin perfekt auf Analog- und Digitalgeräte eingeschult worden.

Die beiden Kinoangestellten rauchen den Joint zu Ende und bieten mir auch einen Höflichkeitszug an; natürlich nehme ich an.

Über die Außenstiegen erreichen wir das Herz des Kinos, die Vorführsäle. 9 digitale Projektoren und 4 Projektoren für die 35-mm-Filme stehen in dem Multiplexkino der französischen Kinokette MK2 zur Verfügung. Natürlich wird mir alles gezeigt. La Fille et le Garçon sind erfreut über meine technischen Kenntnisse, was die Kinovorführung betrifft.

„Vorführer sind in Paris Mangelware“, sagt la Fille.

„Wenn du einen Job in einem Kino suchst, bist du bei uns richtig“, sagt le Garçon.

„Am besten bleibst du gleich bei MK2, dann sind wir oft gemeinsam im Dienst“, sagt la Fille, die hier das Kommando übernommen hat, obwohl sie jünger als le Garçon zu sein scheint. Doch ich lehne ab, ich bin nicht nach Paris gekommen, um Filme zu zeigen, sondern um Filme zu machen, auch wenn es (noch) nicht meine sein werden.

Ich verabschiede mich weit nach Mitternacht von dem französischen Filmvorführerduo, das mir noch einen Gutschein für einen Club im Viertel gibt.

Ich erreiche die Seine, der Fluss ist ruhig, ich denke an den Film mit Agnès Varda, die in ihrem Boot auf der Seine segelt. Eines Tages werde auch ich auf der Seine segeln, aber heute ist mein erster Tag in Paris, an dem schon sehr viel passiert ist. Ich hatte sehr guten Sex mit Duane, und ich war im Kino.

Paris, ich bin hier! Paris, die verbotene Stadt, gehört mir.

2. Dimanche à Paris

7 Uhr früh. Sonntag, 7 Uhr früh. Das téléphone portable gibt in der putain Paris keine Ruhe. Mein Dad aus LA ist dran und gibt mir neue Instruktionen, was seiner Meinung nach für meine erste Woche in Paris entscheidend sein könnte.

Fichu! Mein Vater hat um 10 p.m. West-Coast-Zeit nichts Besseres zu tun, als sich über mein Tun und Lassen in der verbotenen Stadt Paris am Laufenden zu halten; natürlich stehen die geschäftlichen Belange im Vordergrund der väterlichen Ermahnung.

„Also, die ersten beiden US-Crews sind kein Problem, alles Second Units, die die üblichen Sehenswürdigkeiten in Paris filmen wollen. Wir haben dafür ein Abo, Duane wird dich informieren. Wichtig ist, dass du die Meute vom Flughafen abholst und ins Hotel bringst. Du buchst die Taxis, denn Amis stellen sich total doof im Ausland an und suchen überall Schlechtpunkte, um den Preis später runterreißen zu können. Zieh dich einfach sexy an, mehr Figur, Overknees, auf den Trick fallen die Amis immer rein, alles klar, Babe?“

„Dad, ist dir klar, was du da sagst?“

„Very well. Wieso nicht? Wage es nicht zu behaupten, dass du keine Overknees hast, Babe?“

„Kommt dir das nicht zu nuttig vor?“

„Zu nuttig?“

„Total nuttig, Dad.“

„Ach was, wer wird denn so zimperlich sein, Sweety, du kochst die Amis richtig ein, das hat in diesem spießigen Österreich auch geklappt, wieso sollte es bei den Amis nicht klappen? Viel Spaß mit den Jungs aus New York City oder was weiß ich, woher die Crews kommen. Hauptsache, sie zahlen“, sagt Dad.

„Oh my God.“

„Was?“, fragt Dad.

Aber ich sage nichts mehr. Dad geht es nur ums Geld, und da sind Gegenargumente sinnlos.

„Ein ganz heißes Eisen sind die Dreharbeiten, die Alberto aus Rom mir aufgeschwatzt hat. Ich mache es nur, weil er ein alter Freund von meinem Dad, also deinem Grandpa, also des Verrückten ist, und da konnte ich einfach nicht nein sagen, obwohl das ganz gegen die Firmenphilosophie der Neuen West-Film ist. West-Film macht nur noch Serien. Okay, Dad glaubt, den richtigen Riecher zu haben, und sagt, dass das Projekt auch finanziell interessant werden könnte und das Budget, mit dem wir, also West-Film USA, mitgehen, moderat ist. Achtung: Der Regisseur dieses Films, mit dem an sich guten Arbeitstitel Stille Tage in Paris, ist ein junger italienischer Irrer, der bisher nur durch unverkäufliche Ware negativ aufgefallen ist, Fernsehware und Totalflops an der Kinokasse, aber die Idioten in Italien starten ja alles in ihren Kinos. Gut, der letzte Film des Regisseurs – wie heißt der Mann gleich, ich glaube Salvatore – hat doch ein bisschen was eingespielt, es soll sich um einen Spionagethriller mit guter Besetzung aus Frankreich handeln, sieh dir den Film an, sobald du Gelegenheit dazu hast, der Film heißt Der Irrtum, außerdem ist dieser Salvatore ein Ultralinker, wie alle aus Italien. Kannst du mir folgen, Babe?“, unterbricht Dad künstlich seinen Redeschwall, der natürlich schon wieder seine Kröten stiften gehen sieht.

Ich bejahe artig, dass ich auf seiner Linie bin.

„Sehr gut, du bist ein schlaues Mädchen. Also, dieser Salvatore und Alberto sind beide wählerisch. Soweit ich weiß, gibt es Casting-Probleme, die beiden Italiener sind hinter einem US-Star her, Gerüchten zufolge handelt es sich um Terry Malloy, wenn der ins Spiel kommt, rufst du mich sofort zu jeder Tages- und Nachtzeit in LA an, denn der Hund ist unberechenbar, außerdem ist der Kerl auch wählerisch, wer mit ihm spielt, obwohl er, was seine Karriere betrifft, völlig abgemeldet ist. Die weibliche Hauptrolle soll eine Französin übernehmen, aber die bevorzugte Dame ist schwanger. Well, das kommt vor, sonst wäre die Menschheit längst ausgestorben. Okay, es muss noch eine Lady in Paris gecastet werden, da aber alle wichtigen Entscheidungsträger an diesem Projekt wählerisch sind, sind Probleme vorprogrammiert, das kommt erschwerend hinzu, das darfst du auf keinen Fall unterschätzen, Babe, nur lass dich um Himmels willen nicht von den Italienern einkochen, denn sie sind alle Hurenböcke, denen geht es nur um Sex, um Sex mit dir, meine Schöne, und das wollen wir nun wirklich nicht. Bisher alles klar, Sweety?“

„Ja, Dad“, sage ich genervt. Es ist 7 Uhr morgens, und Dad spricht nur von Sex.

„Also, der linke italienische Hurenbock soll drehen, mit wem er will, und vögeln, mit wem er will, aber du bleibst standhaft hinter der Kamera und unterstützt nur die Herstellungsleitung. Bei Problemen, vor allem wenn die Italiener streiken oder Geld verschwenden, rufst du mich sofort an!“ Dad nervt weiter, Zeitzonen interessieren ihn nicht. Ich soll unbedingt pünktlich zu Mittwochmittag am Flughafen Charles de Gaulle sein und die Amis abholen, am besten wäre es, wenn ich einen Kleinbus mit Fahrer miete, damit ja nichts aus dem Ruder läuft.

„Gib ihnen ein paar Stunden, damit sie den Jetlag ausschlafen können, und dann macht ihr sofort die Location Tour, je schneller die abgedreht haben, desto besser auch für dich, die Jungs aus NYC sind hinter jedem Rock her, das ist bekannt, und du bist ein echtes It-Girl, auf so eine wie dich sind die Kerle aus der Stadt des Lasters ganz besonders scharf“, sagt Dad.

„Dad!“, unterbreche ich meinen Vater unwirsch.

„Was ist, Babe? Brauchst du was?“, fragt Dad, so als wäre es das Normalste der Welt, seine Tochter als Nutte zu betrachten.

Mom loggt sich in das WhatsApp-Gespräch ein. „Ist schon gut, Babe, Dad hat nur viel um die Ohren und meint es nur gut mit dir und dem Geschäft“, sagt Mom.

„Mom, Dad behandelt mich wie eine Nutte!“, protestiere ich.

„Babe, du bist soeben erst aus dem gemütlichen Kärnten in eine echte Großstadt gekommen. Paris ist eine Stadt für Verliebte, und du bist ein 23-jähriges Mädchen, das allein in Paris ist“, versucht Mom mich zu beruhigen. Wenn sie wüsste, dass ich gestern mit Duane zum Einstand Sex gehabt habe!

Ich wette einen Dime, dass Mom in Schreikrämpfe ausbrechen würde. Steigerungsformen von „Du steigst sofort ins nächste Flugzeug und ab nach Hause“ bis „Bleib, wo du bist, die CIA holt dich aus diesem Sündenpfuhl heraus“ sind ohne Weiteres möglich, aber ich halte lieber den Mund, und Mom fragt erst gar nicht, woran sie natürlich denkt.

 

Ein junges Mädchen in Paris kann unmöglich eine Unberührte bleiben, die ich ja längst nicht mehr bin, so viel habe ich in Kärnten gevögelt, und als Teenager habe ich in LA emsig süße Jungs verführt.

Ich bringe also eine gewisse Praxis in die Stadt des Lasters mit, was mir unter den Filmleuten sicher weiterhelfen kann.

Mom schickt Dad ins Bett, weil sie glaubt, dass es höchste Zeit für ihn ist und dass er wenigstens am Sonntag nur ihr gehört.

Dad mault herum, dass eine ordentliche Kopfwäsche ihr, also mir, in Paris unmöglich schaden kann. „Was glaubst du, so ein 23-jähriges Mädchen allein in Paris, da können Eltern nicht vorsichtig genug sein“, bemerkt Dad unüberhörbar.

„In ihrem Alter schläft man viel mit Männern“, beruhigt Mom Dad, der dieses Argument für wenig beruhigend hält, aber Mom hat jetzt die Diskussion fest im Griff und sagt mir definitiv, was ich in Paris zu tun und vor allem zu LASSEN habe.

Endlich geht Mom und Dad die Luft aus. Gutenachtbussis werden über den großen Teich an mich übermittelt, dann höre ich endlich das Freizeichen. Es ist 9 Uhr morgens in Paris, das wäre Mitternacht in LA, eine gute Zeit, um gemütlich zu masturbieren, ein geeigneter Mann für Frühstückssex ist bekanntlich keiner da. Ich masturbiere genüsslich und wasche mich. Ich werfe einen Blick auf die menschenleere Rue Jenner, es regnet. Typisches Pariser Wetter im November. Ich denke an den Film Ein Mann und eine Frau, in dem es sehr viel regnet, besonders dann, wenn sich Anouk Aimée und Jean-Louis Trintignant in Paris treffen.

Mittelmäßig selbstbefriedigt verkleide ich mich in ein US-Girl, also in eine, die weiße Turnschuhe, Jeans und Sweater trägt.

Ich eile hinaus auf die Gasse und suche eine Bäckerei, vorerst um mich mit frischem Gebäck einzudecken. Spontan frühstücke ich lieber in einem Bistro, ich trinke Milchkaffee und lese die Libération – wieso sollte ein US-Girl nicht eine linke Zeitung lesen, die immerhin Jean-Paul Sartre mitbegründet hat?

Allerdings bleibe ich sehr schnell im Kulturteil hängen, und zum Schluss greife ich zu den Cahiers du Cinéma, die ein filmverrücktes Mädchen in Paris einfach lesen muss, da zählt keine Ausrede!

Zwischendurch beobachte ich die Männer an der Theke, es sind ausschließlich Männer – Männer, die eine lange Nacht hinter sich haben und hier frühstücken, die meisten trinken nur einen Kaffee, manche gönnen sich zusätzlich einen Toast.

Wer sind diese Leute? Ich kenne niemanden.

Die meisten sehen aus wie aus einem alten französischen Film. Vielleicht wie aus einem Film der Nouvelle Vague?

Einer kommt herein, den ich sofort erkenne. Es ist der Mitvierziger, den ich schon gestern an der Seine gesehen habe. Was der wohl macht?

Ist er Schauspieler? Ist er Schriftsteller? Treibt er sich nur zufällig in der Nähe der Filmstudios in der Rue Jenner herum, die mein Vater vor einiger Zeit gekauft hat? Oder wohnt er hier in der Nähe?

Ich trinke meinen Kaffee aus und verlasse das Bistro, um im Regen zurück zum Studio zu gehen.

Ich wage mich umzusehen. Er folgt mir. Folgt er mir wirklich? Er scheint ziellos die Straße entlangzugehen, eine Straße, die ihm, im Gegensatz zu mir, vertraut ist. Wie alt er wohl ist? Er ist sicher doppelt so alt wie ich. Er könnte mein Vater sein.

Ich erreiche die Filmstudios und eile ins Haus. Ich schließe sofort ab und eile in den ersten Stock hinauf.

Von oben beobachte ich den Mann auf der Straße. Halblanger Mantel, typisch französischer Hut. Ist es wirklich ein französischer Hut oder ist es einer, der dem amerikanischen Stetson nachgeahmt ist – wie heißen die französischen Hüte?

Ist es ein Borsalino? Oder ist es ein Doulos?

Fragt mich nicht, was der Unterschied zwischen den beiden Hüten ist. Ich chatte meinen Großvater väterlicherseits in Kärnten an, der dort als „der Verrückte“ bekannt ist, ich habe niemanden bisher kennengelernt, der ihm in Sachen Kino das Wasser reichen kann. Wenn einer eine Antwort auf die Frage weiß, wie die französischen Hüte heißen, dann ist es der Verrückte.

Ich behalte den Mann im Regen auf der Rue Jenner weiter im Visier, der vor den Studios auf und ab geht, als hätte er den Auftrag, dieses Gebäude im Auge zu behalten, in dem Le samouraï gedreht worden ist.

Die Antwort des Verrückten kommt postwendend. „Beides sind europäische Hüte. Der ältere wird „Le Doulos“ genannt und wird bevorzugt von der französischen Kriminalpolizei, den Flics, aber auch von den Gangstern getragen – Achtung: In der französischen Gaunersprache wird der Spitzel auch „Doulos“ genannt, nach einem Film von Jean-Pierre Melville, der 1962 in den Jenner Filmstudios gedreht worden ist, die jetzt deinem Vater gehören.

Der Borsalino ist eigentlich das Markenzeichen einer italienischen Hutfirma; ihre Hüte waren in Europa und in den USA weitverbreitet, die bekanntesten Träger waren Al Capone, Alain Delon, Robert Redford und Marlon Brando. Der Hut wird in amerikanischen und europäischen Gangsterfilmen getragen.

Ich schicke ein digitales Küsschen aus Paris nach Kärnten und beobachte weiter den Mann auf der Straße; meiner Meinung nach ist er ein Doulos, ein Spitzel.

Fragt sich nur, wer ihn geschickt hat. Außer mir ist niemand in den Studios. Ob der Kerl auf der Straße weiß, dass Duane nach London abgereist ist? Es wäre ein Zufall.

Ob ich den Doulos ansprechen soll? Was soll ich ihm sagen? „Hi, Spitzel, wer schickt dich?“

Und was ist, wenn er antwortet: „Der Boss schickt mich, ich soll dich fesseln und knebeln und zu ihm schleifen. Vorwärts! Marsch!“

Was mache ich dann? Habe ich in so einer Situation noch Zeit, meine Eltern in LA oder den Verrückten in Kärnten anzurufen? Eher nicht, würde ich sagen.

Vielleicht bleibe ich heute einfach im Haus und sehe mich in den Studios um, damit ich gewappnet bin, wenn hier gedreht werden soll.

Noch habe ich keinen Plan. Ich weiß nur, wann das Team aus New York City hier ankommen wird, ich hoffe, sie teilen mir rechtzeitig mit, was sie drehen möchten. Duane hat mir eine Excel-Datei mit Leuten und Kontaktdaten aus der Filmbranche hier in Paris hinterlassen, die ich anrufen kann, wenn ich Hilfe brauche, und die immer wieder für West-Film arbeiten.

„Die meisten Filmleute hier tun für Geld alles, die würden sogar einen Auftragsmord erledigen“, hat Duane mich gewarnt.

Würden sie auch einen Spitzel umlegen?

Ich wage noch einen Blick auf die Straße, der Spitzel ist weg. Ich sehe nach rechts und links. Der Mann mit dem Mantel und Hut ist verschwunden.

Ich gehe in den zweiten Stock hinauf ins Archiv, dorthin, wo die Drehbücher, die Standfotos und Null-Kopien legendärer Filme gelagert sind.

Einen Moment spiele ich mit der Versuchung, meinen Großvater väterlicherseits in Kärnten mit Fangfragen nach den Hintergründen des geheimnisvollen Filmstudios in der Rue Jenner zu löchern, das einen guten Ruf in Paris hat.

Ich öffne eine Kiste mit der Jahreszahl 1967 und entnehme ihr ein vergilbtes Drehbuch mit dem Titel Le samouraï, ich schlage es auf und sehe die ruhige Totale vor mir: Ein Kanarienvogel in einem Käfig und ein Mann auf einem Bett, der raucht. Es ist die erste Einstellung eines weltbekannten Films, eines Gangsterfilms von Jean-Pierre Melville mit Alain Delon, der den eiskalten Engel verkörpert, der in dem Film natürlich einen Doulos und einen grauen Mantel trägt.

Ich riskiere wieder einen Blick auf die Rue Jenner, der Unbekannte ist weg. Ich sehe die Straße hinauf und hinunter, aber er ist nicht mehr zu sehen. Ich ziehe mich in das Archiv zurück und finde einige alte amerikanische Revolver.

War Melville nicht als „der Amerikaner in Paris“ bekannt? Wenn es wirklich so war, wäre es auch logisch, dass er in seinen Filmen bevorzugt 38er-Revolver eingesetzt hat.

Ich überlege mir, eine Waffe zu nehmen, und probiere mehrere Schießeisen aus, entscheide mich aber für eine 22er-Stupsnase, samt unauffälligem Holster, beides kann ich leicht unter dem weiten Pullover und der weiten Jeans verstecken.

Ob es hier in Paris viele Kontrollen gibt?

Sicher. Die Medien berichten ständig über Anschläge islamistischer Gruppen in Frankreich. Es wird wohl besser sein, unbewaffnet durch die Stadt zu gehen, um nicht in eine scharfe Kontrolle zu geraten. Ansonsten folgt eine unerwünschte Festnahme und natürlich die unvermeidliche Abschiebung als eine in Frankreich unerwünschte Person.

Jean-Pierre Melville und sein wichtigster Konkurrent Henri Verneuil hätten nie mit solchen Problemen für die Gangster ihrer Filme gerechnet, sie haben einfach auf der Straße gedreht.

Ich lege die Waffe wieder zurück und gehe in die Küche hinunter.

Was besitze ich?

Ich habe noch etwas Instantkaffee, ein Weißbrot und einen Schokoladebrotaufstrich einer französischen Billigkette, die vorne gleich um die Ecke liegt.

Ich streiche mir zwei Schokoladebrote und darf gar nicht an die selbstgemachte Kinoschokolade denken, die der Verrückte in seinem Kino angeboten hat.

Wieso ist der Verrückte in Kärnten hängen geblieben? Wieso ist er nie mehr nach Frankreich gekommen, um einen neuen französischen Gangsterfilm im Stil von Jean-Pierre Melville oder José Giovanni oder Henri Verneuil zu drehen?

Wieso ist der Verrückte hier in Europa geblieben und nicht mehr in die USA zurückgekehrt?

Diese Fragen werden nie so einfach zu beantworten sein, aber vielleicht kann mir der Mann auf der Straße weiterhelfen, der mich seit zwei Tagen verfolgt.

Was macht man an einem verregneten Novembersonntag in Paris?

Man geht ins Kino!

Ich gehe online und finde ganz in meiner Nähe das UGC Gobelins, ein Multiplexkino mit 11 Sälen, das 20 Filme anbietet. Ich gönne mir Belle Epoque, bevor ich in eine Pizzeria essen gehe, dem einzigen Lokal weit und breit, das so halbwegs erschwinglich ist.

Oh my God – der Kerl, der mir auf den Fersen ist, ist auch hier und isst einen Teller Spaghetti und trinkt dazu den üblichen französischen Rotwein.

Ich entscheide mich für eine Pizza Margherita und trinke ein Cola, wieso sollte ich meine amerikanische Herkunft verleugnen?