Lesekompetenz fördern

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Lesekompetenz fördern
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Christine Garbe

Lesekompetenz fördern

Reclam

2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961683-4

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019693-9

www.reclam.de

Inhalt

  Einleitung: Die Bedeutung des Lesens und die Aufgaben der Schule

  1 Was ist Lesekompetenz? Grundlagen einer systematischen Leseförderung in der Schule 1.1 Das kognitionspsychologische Lesekompetenzmodell der PISA-Studien 1.2 Das Sozialisationsmodell der Lesekompetenz 1.3 Das didaktische Mehrebenenmodell der Lesekompetenz 1.4 Die drei Säulen der Leseförderung

 2 Förderung der kognitiven Komponenten von Lesekompetenz – Leseflüssigkeit und Textverstehen2.1 LeseflüssigkeitLeseflüssigkeit: die Brücke zwischen Dekodieren und TextverstehenWie lässt sich Leseflüssigkeit diagnostizieren?Leseflüssigkeit fördern durch LautleseverfahrenWelche Texte eignen sich für Lautleseverfahren?2.2 Textverstehen und LesestrategienLesestrategien: ein Schlüssel zum TextverstehenWie lässt sich Textverstehen diagnostizieren?Wie lässt sich Textverstehen fördern? Die Vermittlung von LesestrategienErfolgreiche Vermittlung: Wie sollten Lesestrategien im Unterricht eingeführt werden?Textstrukturen und Textschwierigkeit von Fachtexten erkennen und vermitteln

 3 Förderung der affektiven Komponenten von Lesekompetenz – Lesefreude, Lesemotivation und ein positives Leser-Selbstkonzept3.1 Was sind und wie entwickeln sich Lesemotivation, Lesefreude und ein positives Selbstkonzept als Leser*in?3.2 Wie kann man Lesefreude und Lesemotivation diagnostizieren?Fragebögen und SelbsteinschätzungsbögenLeitfäden für teilstrukturierte InterviewsSchreiben einer LeseautobiographieInformelle Gespräche und Beobachtungen3.3 Förderverfahren: Leseanimation und VielleseverfahrenLeseanimation oder »Zum Lesen verführen«Vielleseverfahren zur Förderung der Lesemotivation und eines lesebezogenen Selbstkonzepts3.4 Gendersensible Leseförderung: Unterschiedliche Lesepräferenzen von Mädchen und Jungen berücksichtigen

 4 Förderung der personalen und sozialen Komponenten von Lesekompetenz – Literarisches Lesen, Lesekommunikation und einladende Leseumgebungen4.1 Grundlagen: Lesesozialisation – Literarische Sozialisation (Der biographische Erwerb von Lesekompetenz)4.2 Verstehensanforderungen literarischer Texte4.3 Die Struktur gelingender Literaturgespräche4.4 Die Gestaltung anregender LeseumgebungenAnregende Leseumgebungen in der Schule gestaltenBibliotheken als Orte der Leseförderung

  5 Lesekompetenzen fördern als Teil von Schulentwicklung 5.1 Schritte einer erfolgreichen Schulentwicklungsarbeit 5.2 Hinweise zum Aufbau eines erwerbsorientierten schulischen Lesecurriculums in allen Jahrgangsstufen

  6 Literaturhinweise

  Zur Autorin

[7]Einleitung: Die Bedeutung des Lesens und die Aufgaben der Schule

Zu Beginn des Jahrtausends rückte mit der ersten PISA-Studie 2000 die grundlegende Bedeutung des Lesens als Basiskompetenz ins öffentliche Bewusstsein: Die internationale Leistungsvergleichsstudie PISA (Programme for International Student Assessment) wollte – und will seitdem – diejenigen grundlegenden Kompetenzen testen, die 15-jährige Jugendliche am Ende ihrer Pflichtschulzeit erworben haben sollten, um für Beruf und Ausbildung, gesellschaftliche Teilhabe und lebenslanges Weiterlernen in rasch sich wandelnden Wissensgesellschaften gerüstet zu sein. Es ging hier nicht darum zu testen, ob Schüler*innen die in (nationalen) Lehrplänen definierten Lernziele erreicht hatten, sondern ob die Schule ihnen die grundlegenden Kompetenzen vermittelt hatte, auf denen alles weitere Lernen aufbauen konnte. Unter den drei großen Bereichen, die den PISA-Expert*innen zufolge eine zeitgemäße pragmatisch verstandene Grundbildung im Sinne der angelsächsischen »literacy« ausmachte (vgl. PISA 2000, S. 20), wurde das Lesen nicht zufällig als erster Testschwerpunkt gewählt, denn auch für die anderen beiden Bereiche, für mathematisches und naturwissenschaftliches Lernen, ist Lesekompetenz die Voraussetzung. Dabei hat PISA von Anfang an eine anspruchsvolle, kognitionspsychologisch fundierte Konzeption von Lesekompetenz verfolgt, die in den Folgezyklen des Testes weiter ausdifferenziert wurde. Im Kern geht es dabei um das Verstehen, Nutzen und kritische Reflektieren von Texten aller Art: »Lesekompetenz (Reading Literacy) heißt, geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.« (Ebd., S. 80)

[8]Der PISA-Schock, der durch die Veröffentlichung der Ergebnisse der ersten PISA-Studie im Dezember 2001 in Deutschland ausgelöst wurde, bestand vor allem in der bestürzenden Erkenntnis, dass beinahe ein Viertel der Fünfzehnjährigen (23,3 %) nach der PISA-Definition mit mangelhaften Lesekompetenzen ins Leben startet. Dieser Schock löste in den letzten zwei Jahrzehnten große Reformanstrengungen im öffentlichen Bildungswesen aus, deren Inhalte – u. a. nationale Bildungsstandards, Kerncurricula und Kompetenzorientierung – maßgeblich durch den Geist der PISA-Studien inspiriert waren. Zwar machte Deutschland in den folgenden PISA-Studien tatsächlich einige Fortschritte – in der zweiten PISA-Studie zum Schwerpunkt Lesekompetenz (PISA 2009) gehörten ›nur‹ noch 18,5 % der Getesteten zur sog. Risikogruppe –, doch der Aufwärtstrend der letzten Test-Zyklen kam in der jüngsten Studie (PISA 2018) an sein Ende: Mittlerweile erreichen wieder 21 Prozent der Jugendlichen nicht den Minimalstandard an Lesekompetenz, den PISA (mit der Kompetenzstufe II) festgelegt hat, mit anderen Worten: Jede*r fünfte Jugendliche liest in Deutschland auch noch mit 15 Jahren auf dem Niveau eines Grundschülers (PISA 2018, S. 60). Dieser Befund beunruhigt auch unter dem Aspekt, dass mit PISA 2018 erstmals am Bildschirm und im Schwerpunkt digitale Lesekompetenzen getestet wurden, das heißt, die Fähigkeit, sich in digitalen Medien relevante Informationen zu beschaffen, diese zu verstehen und im Hinblick auf ihren Wahrheitsgehalt und ihre Nützlichkeit für bestimmte Zwecke kritisch zu bewerten. In Zeiten von »fake news« und »hate speech« im Internet sind solche Fähigkeiten essenziell für den Fortbestand demokratischer Gesellschaften.

Auch jenseits der PISA-Studien hat das Thema Lesen in den letzten Jahrzehnten viel Aufmerksamkeit erfahren, nicht zuletzt durch die großen Fortschritte in der wissenschaftlichen [9]Erforschung dieser komplexen Tätigkeit. Das vor wenigen Jahren erschienene interdisziplinäre Handbuch »Lesen« (Rautenberg & Schneider 2015) legt auf beinahe 900 Seiten eindrucksvoll den aktuellen Erkenntnisstand in den unterschiedlichen Disziplinen dar, die sich der Erforschung des Lesens widmen. Führend waren dabei in den letzten Jahrzehnten die Kognitionspsychologie und die Neurowissenschaften, die zu ergründen suchen, welche kognitiven Vorgänge sich in unserem Gehirn abspielen, wenn wir lesen. Aber auch Kultur- und Sozialwissenschaften, Kommunikations- und Medienwissenschaften, Erziehungswissenschaften und Psychologie, Literatur- und Buchwissenschaften, Geschichte und Anthropologie interessieren sich für das Lesen, und dies dürfte auch damit zusammenhängen, dass wir uns mit der rasant voranschreitenden Digitalisierung aller Lebensbereiche in einem epochalen Wandel der Lesekultur befinden, die möglicherweise ähnlich tiefgreifende Auswirkungen auf unsere Gesellschaft und Kultur hat wie einst Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks.

Die Entwicklung von Schriftsystemen – darin sind sich Forscher unterschiedlicher Disziplinen heute einig – ist eine der wichtigsten Erfindungen der Menschheit, die Kultur und Überlieferung überhaupt erst möglich machte. Sie fand erst vor etwa 5000 Jahren statt; gemessen an der mehrere Millionen Jahre zählenden Stammesgeschichte der Menschheit ein extrem kurzer Zeitraum. Darum ist das menschliche Gehirn nicht auf den Erwerb von Schriftsprache eingestellt, wie der deutsche Hirnforscher Ernst Pöppel in einem Interview einmal eindrucksvoll formuliert hat: »Das Lesen von Buchstaben ist von der Evolution nicht vorgesehen. Es war eine der ungeheuerlichsten geistigen Entwicklungen des Menschen, Sprache in Schrift zu formulieren. Das Gehirn verwendet für die Tätigkeiten des Lesens und Schreibens einen Teil, der [10]eigentlich andere Aufgaben hat1, und es muss in einem mühsamen Prozess die gigantischen Abstraktionsleistungen erlernen, die dafür erforderlich sind, alles überhaupt nur Sagbare in ein System von 25 bis 30 Buchstaben zu transformieren.« (Pöppel 2002, S. 747)

 

Eine plastische Schilderung dessen, was im »lesenden Gehirn« abläuft, wenn wir nur ein einziges Wort lesen, findet sich in einem aktuellen Buch der amerikanischen Kognitionswissenschaftlerin Maryanne Wolf (2019), das sich mit den Folgen der Digitalisierung für die Lesekultur auseinandersetzt: Sie beschreibt dort in einer auch für Laien gut verständlichen Briefform, welche ungeheuer komplexen Aktivitäten mindestens fünf verschiedene Hirnregionen innerhalb von Millisekunden ausführen müssen, damit wir zunächst ein einzelnes Wort in einer Alphabetschrift lesen können (vgl. ihren »Zweiten Brief«: »Eine große weite Welt – ein etwas anderer Blick auf das lesende Gehirn«, S. 27–50). Die Autorin wählt dafür das Bild einer riesigen Zirkuskuppel, in der Tausende von Artisten in verschiedenen sich überlappenden Manegen in einer atemberaubenden Geschwindigkeit ihre Kunststücke vorführen. Diese Manegen sind die Areale des Sehens, der Sprache, der Kognition, der Motorik und der Affektion (der Emotionen). In einem weiteren Schritt muss – zum Verständnis der Wortbedeutung im Satzkontext und schließlich im Kontext des gesamten Textes – das große Reservoir an Sprach- und Weltwissen hinzugezogen werden (vgl. Wolfs »Dritten Brief«, S. 51–92), welches das »lesende Gehirn« eben durch die Tätigkeit des Lesens erwirbt.

Geübte Leser*innen sind sich dieser komplexen Vorgänge beim Lesen in der Regel nicht bewusst, da sie viele [11]Anforderungen automatisiert haben; umso wichtiger ist es, sich dies wieder bewusst zu machen, wenn man das Lesen bei Kindern und Jugendlichen gezielt und erfolgreich fördern möchte. Denn die Erkenntnisse aus Kognitionspsychologie und Neurowissenschaften haben auch klargemacht, dass der Erwerb der Schriftsprache, also das Lesen- und Schreibenlernen, einen tiefgreifenden Umbau des Gehirns erfordert, und diese Herausforderung an Kinder der ersten und zweiten Klassenstufen, in denen diese »Alphabetisierung« bei uns normalerweise stattfindet, kann man sich gar nicht groß genug vorstellen. Wir wissen darum heute, dass Lesen und Schreiben Kompetenzen sind, die keineswegs mit dem Schriftspracherwerb in der Grundschule abgeschlossen sind, sondern durch die gesamte Schulzeit hindurch in allen Fächern weiter gefördert werden müssen. Auch nach der Schule, in Ausbildung und Beruf, im gesellschaftlichen und kulturellen Leben, müssen Lesen und Schreiben weiter praktiziert werden, andernfalls besteht die Gefahr, diese Kompetenzen wieder zu verlieren und zu ›sekundären Analphabeten‹ oder ›gering literalisierten Erwachsenen‹ zu werden, von denen es in Deutschland der aktuellen »Level-One-Studie 2018« zufolge rund 6,2 Millionen (deutschsprechende) Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren gibt (Grotlüschen et al. 2019, S. 6).

Mit der rasanten Ausbreitung des Internets seit den 1990er Jahren wird immer deutlicher, dass Schriftsprache in alle Lebensbereiche eindringt und dass mittlerweile auch die einfachsten Lebensvollzüge – Geld abheben, eine Fahrkarte lösen, einkaufen, eine Reise planen usw. – hochentwickelte Lese- (und Schreib)kompetenzen verlangen.

Will die Schule ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden, so muss sie den systematischen und nachhaltigen Erwerb von Lesekompetenz und stabilen Lesegewohnheiten als eine ihrer grundlegenden Aufgaben anerkennen, und [12]diese Aufgabe kann, wie dieser Band zeigen will, nicht allein dem Deutschunterricht überantwortet werden. Vielmehr muss die Vermittlung fachspezifischer Lese- (und Schreib-)kompetenzen2 in allen Unterrichtsfächern und Klassenstufen verankert werden, und die Förderung von Lesefreude, Lesemotivation und stabilen Lesegewohnheiten sollte darüber hinaus ein fester Bestandteil der Schulkultur und der Kooperation von Schule und kulturellen sowie kommunalen Einrichtungen werden. Wie dies gelingen kann, möchte der vorliegende Band darlegen. Leitend für dessen Konzeption ist dabei die Idee, die Grundlagen für die Entwicklung eines systematischen Lesecurriculums im Rahmen von Schulentwicklung zu vermitteln: In den Kapiteln 1 bis 4 werden die wichtigsten Ansätze und Methoden für die Förderung aller Aspekte von Lesekompetenz vorgestellt, und in Kapitel 5 werden diese zusammengeführt zu Empfehlungen für die Erarbeitung eines systematischen und entwicklungsorientierten Leseförderkonzepts als Teil von Schulentwicklung.

[13]1 Was ist Lesekompetenz? Grundlagen einer systematischen Leseförderung in der Schule

In diesem Kapitel soll zunächst untersucht werden, was Lesen eigentlich ist und welche Teilkompetenzen involviert sind, damit ein Leseakt zu einem erfolgreichen Verstehen des Gelesenen führt. Anhand von drei Modellen von Lesekompetenz soll zugleich verdeutlicht werden, dass bei diesem Prozess keineswegs nur das Gehirn beteiligt ist, sondern das gesamte Subjekt, und dass der Erwerb von Lesekompetenz fundamental auf stützende soziale Kontexte angewiesen ist3. Erst wenn wir ein umfassendes Verständnis der involvierten Prozesse und Ebenen gewonnen haben, können wir uns der Frage widmen, in welcher Weise diese Prozesse in formellen (und informellen) Lernsituationen optimal und systematisch gefördert werden können.

1.1 Das kognitionspsychologische Lesekompetenzmodell der PISA-Studien

Der Lesebegriff, der den internationalen Leistungsvergleichsstudien PISA und PIRLS/IGLU4 zugrunde liegt, ist kognitionspsychologisch fundiert: »Lesekompetenz wird in PISA in Einklang mit der Forschung zum Textverstehen […] als aktive Auseinandersetzung mit Texten aufgefasst. In der psychologischen Literatur zum Textverstehen besteht Einigkeit darüber, [14]dass der Prozess des Textverstehens als Konstruktionsleistung des Individuums zu verstehen ist. Lesen ist keine passive Rezeption dessen, was im jeweiligen Text an Information enthalten ist, sondern aktive (Re-)Konstruktion der Textbedeutung. Die im Text enthaltenen Aussagen werden aktiv mit dem Vor-, Welt- und Sprachwissen des Lesers verbunden. Die Auseinandersetzung mit dem Text lässt sich als ein Akt der Bedeutungsgenerierung verstehen, bei dem das Vorwissen der Leser und die objektive Textvorgabe interagieren« (PISA 2000, S. 70 f., Hervorh. CG).

Dieser abstrakt formulierte Sachverhalt lässt sich an einem alltäglichen Beispiel gut veranschaulichen: Am Eingang kleinerer Ortschaften findet man häufig Schilder am Straßenrand, die an die motorisierten Verkehrsteilnehmer gerichtet sind. In [15]dem hier gewählten Beispiel finden sich auf dem Schild zwei Sätze. Satz 1: »Fahrt langsam«, Satz 2: »Wir lieben unsere Kinder«. Dazwischen ist ein Bild von einem spielenden Kind mit einem Ball zu sehen.


Abb. 1: Schild mit spielendem Kind. Foto: Christine Garbe

Zwischen diesen beiden Sätzen besteht bei genauerer Betrachtung kein logischer Zusammenhang und es gibt noch nicht einmal sprachliche Konnektoren (etwa: »Fahr langsam, denn wir lieben unsere Kinder«), und dennoch werden wir vermutlich keine Schwierigkeiten haben, den Zusammenhang zu verstehen. Denn aufgrund unseres Weltwissens stellen wir ihn automatisch her, das heißt, wir konstruieren den Sinn, indem wir das Nicht-Gesagte ergänzen: Wenn ein Auto mit hoher Geschwindigkeit fährt, ist die Gefahr, dass es zu einem Unfall mit einem spielenden Kind kommt, größer als bei langsamem Fahren, denn der Bremsweg ist bei hoher Geschwindigkeit länger. Kinder achten häufig nicht auf den Straßenverkehr, wenn sie spielen, und die »liebenden Eltern« möchten verhindern, dass ihre Kinder beim Spielen auf der Straße zu Schaden kommen, zum Beispiel wenn sie einen Ball zurückholen wollen, der vom Spielfeld abgekommen ist. Man sieht: Selbst bei diesem schlichten Beispiel muss die Leserin oder der Leser eine Fülle komplexer geistiger Operationen vornehmen, damit das Geschriebene »Sinn macht«. Dies ist gemeint, wenn es in der PISA-Definition heißt: »Die im Text enthaltenen Aussagen werden aktiv mit dem Vor-, Welt- und Sprachwissen des Lesers verbunden.«

Lesen wird im Rahmen der PISA-Studien vor allem pragmatisch oder funktionalistisch als »Informationslesen« bzw. als »Mittel zum Aufbau von Wissensstrukturen« verstanden und eben deshalb als unverzichtbare Basiskompetenz in schriftbasierten Informations- und Wissensgesellschaften. In der jüngsten PISA-Studie 2018 mit dem Schwerpunkt Lesekompetenz in der digitalen Welt wurde die in der Einleitung zitierte [16]Definition von »Lesekompetenz« noch einmal erweitert: Darunter wird nun die Fähigkeit verstanden, »Texte zu verstehen, zu nutzen, zu bewerten und über sie zu reflektieren sowie bereit zu sein, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, um eigene Ziele zu erreichen, eigenes Wissen und Potenzial zu entwickeln und an der Gesellschaft teilzuhaben« (PISA 2018, S. 48).

Was in der deutschen Übersetzung heißt: »sich mit Texten auseinanderzusetzen«, wurde bereits in die PISA-Definition 2009 aufgenommen und heißt im Englischen prägnanter »engaging with texts«; es referiert somit auf das Konzept des »reading engagement« (vgl. Kap. 3 in diesem Band). Neu ist in PISA 2018 hingegen einerseits die Erweiterung des Textbegriffs, der nun nicht mehr auf geschriebene Texte eingeschränkt ist, und das Element des Bewertens von Textaussagen sowie der kritischen Einschätzung der Glaubwürdigkeit der genutzten Quellen – eine Fähigkeit, die vor allem in der Nutzung des Internets elementar ist.


Abb. 2: Modell der Leseprozesse in PISA 2018, Abbildung adaptiert nach OECD 2019, S. 33.

[17]Dieses – noch in einigen anderen Aspekten – erweiterte Verständnis von Lesekompetenz wird im Modell der Leseprozesse verdeutlicht, welches für PISA 2018 neu strukturiert wurde. Dieses neue Modell der Leseprozesse zeigt die Einbettung des Lesens in eine übergeordnete Aufgabe, indem es zwei wesentliche Komponenten unterscheidet, nämlich das Aufgabenmanagement und den eigentlichen Leseprozess (siehe Abb. 2). Das Aufgabenmanagement bildet – auch grafisch – den Hintergrund des Leseprozesses und umfasst andere Aktivitäten als der eigentliche Leseprozess. Es macht zugleich deutlich, dass der Leseprozess regelmäßig Teil eines größeren Handlungszusammenhangs ist. Das Aufgabenmanagement verlangt also Prozesse der Zielsetzung, der Selbstregulation und des Monitorings. Der Leseprozess selbst ist eine aktive zielorientierte Handlung und kann in mehrere Teilprozesse unterteilt werden. Aus dieser Rahmenkonzeption von PISA 2018 sowie dem angepassten Test ergeben sich drei Messbereiche der Lesekompetenz, für die Ergebnisse berichtet werden; sie weichen etwas von denen der bisherigen PISA-Studien ab, versuchen jedoch so weit wie möglich eine Kontinuität zu wahren: (1) »Lokalisieren von Informationen«, (2) »Textverstehen« und (3) »Bewerten und Reflektieren« (vgl. PISA 2018, S. 51).

Auch dieses neue Modell basiert auf der kognitionspsychologischen Leseforschung und trägt deren grundlegender Erkenntnis Rechnung, dass jedes Textverstehen auf dem Zusammenspiel von »textexternem Vorwissen« (des Lesers) und »textinternen Informationen« beruht. Als drittes entscheidendes Element für gelingende Leseprozesse werden jedoch nun auch der soziale und kulturelle Kontext des Leseaktes und die sich hieraus ergebende spezifische »Leseaufgabe« im Test selbst modelliert. Denn der Hauptzweck dieses Modells besteht darin, bei der PISA-Zielgruppe der Fünfzehnjährigen – das heißt Schüler*innen am Ende der Pflichtschulzeit – Lesekompetenz zu testen.