Sichelland

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Sichelland
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Sichelland

III

Die Nacht

von

Christine Boy

Impressum

Sichelland – I – Der Weg

Christine Boy

sichelland@gmx.de

Copyright: © 2012 Christine Boy

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-4255-3

Alle Rechte vorbehalten.

Vorwort

„Die Nacht“ ist der dritte Teil der „Sichelland-“Reihe und wie auch „Der Weg“ ein Laienwerk, das nicht professionell korrigiert oder lektoriert wurde.Was einst als eine „kleine Fantasygeschichte“ geplant war, wurde im Laufe der Jahre zu einer Trilogie, mit deren Umfang ich selbst niemals gerechnet habe.Aus diesem Grunde findet sich – diesmal am Ende des Buches – eine Danksagung an all diejenigen, die mich bewusst oder unbewusst unterstützt und inspiriert haben.

Christine Boy

III

Die Nacht

Kapitel 1

Um die Cassydischen Gräben rankten sich viele Geschichten und Rätsel. Allgemein waren sie als eine Region bekannt, in der die Cas und zuweilen auch der jeweilige Shaj der Nacht Kampftaktiken erprobten, oft auch zu Pferde, weshalb sich dieses zerfurchte Gelände besonders eignete. Ein Manöver, das hier gelang, konnte auch in jeder anderen Gegend Sacuas durchgeführt werden.

Viele Sichelländer glaubten aber nicht so recht daran. Zumindest waren sie überzeugt, dass in den Gräben noch mehr vor sich ging. Manchmal blieben die Cas tagelang dort, ohne gesehen zu werden. Natürlich gab es immer wieder Neugierige, die sich in der Nähe versteckten, doch der Respekt vor den Zehn war viel zu groß, als dass sie genauere Nachforschungen angestellt hätten. Und so blieb es ein großes Geheimnis, was es mit den Gräben nun auf sich hatte. Gab es dort schwarzmagische Rituale oder waren dort große Reichtümer versteckt, von denen sonst niemand wusste?

Schon oft hatte der eine oder andere Abenteurer sich vorgenommen, die Gegend zu durchsuchen, wenn er sicher sein konnte, dass er nicht plötzlich von einem der Zehn überrascht wurde. Vielleicht gab es auch einzelne, die diesen Versuch in die Tat umgesetzt hatten, gefunden hatte jedoch keiner etwas. Jetzt, da der Zutritt zu den Gräben für mehrere Tage streng verboten war, bot dies wieder einmal Anlass zu den wildesten Spekulationen.

Für Lennys und die Cas war das nichts Neues. Als sie nach mehreren Stunden schnellen Galopps die letzten Hügel, die vor den Gräben lagen, erreichten, verlangsamten sie ihr Tempo und beobachteten ihre Umgebung besonders aufmerksam. Die Wachen, an denen sie kürzlich vorbeigekommen waren, schienen gute Arbeit zu leisten. Niemand war zu sehen. Trotzdem durften sie nicht leichtsinnig werden.

„Wir werden am Brunnen eine Pause einlegen.“ Die Shaj sah zum Himmel. Die Sonne stand schon recht tief. „Und wir werden dort bleiben, bis die Nacht hereinbricht. Es ist von jetzt an besser, wenn uns niemand mehr sieht.“

Der Brunnen war nicht von Menschenhand angelegt, sondern von der Natur erschaffen worden. Ein steinernes Becken, kaum größer als die Waschzuber in Afnans Wirtschaftsräumen, das aber durch ein Rinnsal, das ein Stück weiter oben aus dem Fels entsprang, beständig mit Wasser gefüllt war, welches sich, wenn es den Rand erreicht hatte, seinen weiteren Weg in eine tiefe Senke bahnte. Dass die Stelle außerdem noch durch hohe Felswände und Erdwälle geschützt wurde, hatte dazu geführt, dass hier ein nicht ganz unbekannter Lagerplatz entstanden war, den man jedoch nicht aus der Ferne beobachten konnte. Von hier aus war es ein Leichtes, sich im Schutz der Dunkelheit – allen neugierigen Blicken entzogen – davonzustehlen.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sich die kleine Gruppe über die zahlreichen natürlichen Hindernisse zum 'Brunnen' vorgearbeitet hatte. Auch die Cas besaßen starke, robuste Mondpferde, aber sie waren nicht so dumm, ein Risiko einzugehen und ritten daher langsam durch die Gräben. Als sie den Lagerplatz erreichten, dämmerte es bereits.

„Wir machen kein Feuer.“ sagte Lennys knapp. „Karuu und Horem, ihr achtet darauf, dass niemand in unsere Nähe kommt.“

Die beiden Angesprochenen nickten und begaben sich sogleich auf die ihnen bereits wohlbekannten Posten, von denen aus sie das Gelände gut überblicken konnten, ohne selbst gesehen zu werden. Sham-Yu führte die Pferde zum Brunnen, um sie zu tränken.

Alle Cas waren angespannt. Für einige von ihnen – wie Sham-Yu oder Balman – war es das erste Mal, dass sie das Sichelland verließen. Andere, unter ihnen Rahor, Haz-Gor und Faragyl, wussten sehr wohl, worauf sie sich einließen. Doch gerade Rahor war es, der sich am meisten zurückzog und den Gesprächen der anderen auswich. Er war mit seinen Gedanken nicht so recht bei der Sache. An diesem Morgen hatte er die Shaj darum gebeten, noch einmal sein Haus aufsuchen zu dürfen, um „etwas zu regeln“ - doch sie hatte es ihm nicht erlaubt. Und so hatte er in einen gefährlichen Krieg ziehen müssen, ohne sich noch einmal von seiner Schwester verabschieden zu können – und ohne diese letzte Chance wahrnehmen zu können, herauszufinden, wohin Sara gegangen war.

Er war nicht verärgert über Lennys' Entscheidung. Im Grunde hatte er schon fast damit gerechnet, aber das machte es nicht leichter, die Situation zu ertragen. Es war ihm nichts anderes übrig geblieben, als Racyl über einen zuverlässigen Boten eine Nachricht zu schicken – wohlwissend, dass er keine Antwort mehr darauf erhalten würde, bevor er aus dem Süden zurückkehrte. Am meisten aber beunruhigte ihn die Tatsache, dass ihn dieser Umstand zunehmend kalt ließ. Wirkte Ash-Zaharrs Macht schon auf ihn? Die sagenumwobene Kraft, die den Kriegern zuteil wurde, wenn sie in den Kampf zogen, so dass sie all ihre Stärke und Aufmerksamkeit nur noch auf dieses eine Ziel konzentrierten, ohne von starken Gefühlen abgelenkt zu werden - sie schien schon jetzt auf ihn überzugehen.

Ein Stück entfernt sah er, wie Lennys die Cas zusammenwinkte. Wie von selbst trugen seine Beine ihn zu ihr.

Die Zehn bildeten einen Kreis, in dessen Mitte sie ihre Sicheln legen, bis deren Positionen ein bizarres Muster ergaben. Dort, wo sich die Waffen der neun Cas kreuzten, bettete Lennys die ihre zuletzt obenauf. Bald würde der Mond aufgehen und sich darin spiegeln.

Sie sagten kein Wort, sondern starrten nur auf jenes Symbol ihrer eigenen Macht. Diese Zusammenkunft war wichtiger als sämtliche Ratssitzungen, aussagekräftiger als jede Rede, intensiver als der Auszug aus der Stadt und feierlicher als das Gelage bei Balman. Jeder Blutstropfen, der durch ihre Adern floss, schien zu glühen und ihre Gedanken wurden eins, bis sie in eine tiefe Trance verfielen.

Sie legten den Weg schweigend zurück. Nie war über ihn ein Wort verloren worden, weder ein geschriebenes noch ein gesprochenes. Und nie war er von Worten beschwert worden. Ein Cas erfuhr erst von ihm, wenn er ihn das erste Mal betrat und das einzige, was man ihm zuvor sagte war: „Schweig, solange du gehst.“

Es war eines der Wunder Cycalas', von denen niemand sonst etwas ahnte, selbst die Shajs des Himmels und der Erde waren nicht in dieses Geheimnis eingeweiht. Wie oft sagte man den Gebietern der Nacht unheimliche Kräfte nach und meist tat man es nur deshalb, weil man die wahre Natur der Sache nicht erkannte.

Fraglos hatten sie die Fähigkeit, nahezu lautlos und unsichtbar durch die Feindesreihen zu schreiten, doch sie waren keine Magier. War es Zufall, dass nie jemand erfahren hatte, wie es den großen Zehn über viele Generationen hinweg gelungen war, unbeobachtet bis zu den Grenzen ihres eigenen Reiches zu reisen, wenn es notwendig war?

Auf diese Fragen gab es viele Antworten. Eine davon war gleichzeitig auch eines der Geheimnisse der Cassydischen Gräben.

Die Schlucht war eng und zog sich mitten durch steiles Felsgestein. Ging man das hohe Risiko eines tödlichen Sturzes ein und erklomm diese steinernen Gipfel, wurde die Mühe nicht belohnt. Die Wände der Schlucht standen so eng beisammen, dass man von oben her nur Schwärze erkennen konnte – der Grund des Spalts blieb verborgen. Was sollte es dort auch zu sehen geben? Bereits auf halber Höhe des Abgrunds stießen die beiden Seiten hier und da zusammen. Wer dort hinunterstürtzte, würde vermutlich nicht einmal auf dem Boden aufschlagen, sondern vorher steckenbleiben und so einen vielleicht noch qualvolleren Tod sterben.

Es machte sich niemand die Mühe, den Spalt von unten her zu untersuchen. Außerdem endete er auf einer Seite in der massiven Felswand eines Berges, der die Cassydischen Gräben im Osten begrenzte, auf der anderen Seite war er wegen mehrerer Steinschläge in der fernen Vergangenheit ebenfalls nicht zugänglich.

Und den Stollen kannte niemand.

Nicht weit vom 'Brunnen' entfernt, doch von niemandem beachtet, klaffte eine tiefe Furche im Boden, eine von vielen in dieser Gegend. Sie verlief in bizarren Zickzacklinien, verzweigte sich mehrmals und endete nach und nach irgendwo im Nirgendwo. Keiner hätte sich in dieses Labyrinth gewagt, das tiefer und weitläufiger war, als man zunächst glaubte. Und so wusste auch keiner, dass einer dieser Ausläufer nicht einfach verebbte, sondern in einen kurzen, unterirdischen Tunnel mündete. Und dieser wiederum stieß im spitzen Winkel genau auf jene Spalte, die vielen als „Tor zur Unterwelt“ bekannt war – eben weil nie jemand ihren Grund gesehen hatte.

Niemand, außer den Cas und den Shajs der Nacht aller Zeiten.

 

Den jene Schlucht war durchaus begehbar, aber nur, wenn man diesen einzigen Zugang wählte. Wer sie durchschritt, durfte keine Dunkelheit fürchten, denn die Sonne drang nur an wenigen Tagen des Jahres bis hierher durch, und selbst dann war sie zu schwach, um mehr als einen Schritt im Umkreis zu erleuchten. Die Felswände, die immer wieder über diesem Durchlass zusammenstießen, verhinderten, dass man das Geheimnis der Schlucht von oben her ergründen konnte und diejenigen, die den Versuch mit dem Leben bezahlt hatten, waren der Lösung erst mit ihrer Verwesung näher gekommen – als sich nämlich das Fleisch von ihren Knochen gelöst hatte und die bleichen Gerippe dem eisernen Griff der Berge entkommen und durch die schmalen Spalten hinabgefallen waren.

Man konnte bequem hintereinander gehen und dabei sogar eine aufrechte Haltung bewahren und besonders furchtlose Pferde hindurchführen, doch an eine Rast oder gar ein Nachtlager war hier nicht zu denken. Ein rauer, mit kleinen Felssplittern übersäter Boden bot eine Stolperfalle nach der nächsten auf, der Wind heulte laut und es war feucht.

Sie gingen langsam. Nicht aus Vorsicht oder gar Beklemmung, sondern um sich mit jedem Schritt dieses Weges bewusst zu werden. Er führte sie in den Krieg. Und wenn sie ihn vollendet hatten, waren sie endgültig bereit für den Kampf.

Plötzlich veränderte sich der schier endlose Spalt. Er wurde ein wenig breiter und höher, sein Grund wurde glatter, die Feuchtigkeit schwand. Nur die Finsternis blieb. Dies war die Stelle, an der die Schlucht auf den Berg stieß. Ein Berg, der durchzogen war von einem Gang, den die ersten Krieger des Landes geschaffen hatten. Wie viele Jahre hatten sie im Geheimen daran gearbeitet? Wie viele Generationen hatten ihn weiter getrieben? Wie viel Blut und Schweiß waren in ihm geflossen?

Schnurgerade, eben, schmucklos und in vollkommene Dunkelheit getaucht. Man musste ihm weit länger folgen als dem „Tor zur Unterwelt“ und es brauchte besondere Mittel, um ein Pferd dazu zu bringen, hier nicht zu scheuen und in Panik zu geraten. Nur die Mondpferde der Cas und der Shaj bestanden diese Prüfung ohne betäubende Substanzen.

Als sie sein Ende erreichten, war die Nacht schon fast vorüber. Vor ihnen lagen dunkelgrüne Wiesen. Der Mond blendete sie schon fast, so grell schien er nach dieser fortwährenden Finsternis. Bei Tage wären sie durch das plötzliche Licht vielleicht erblindet.

Nachdem sie ins Freie getreten waren, wandten sich einige Männerr noch einmal um. Die verfallene Hütte, die sich an die Steilwand des Berges drängte, war nicht einmal mehr für Landstreicher einen Besuch wert. Und selbst dieser hätte die gut getarnte Tür in der Rückwand des Hauses weder gefunden noch hätte er sie öffnen können. Ganz abgesehen davon, dass er nicht weit gehen musste, um Obdach zu finden.

Am westlichen Horizont ragten die Feuertürme der Stadtmauern Askaryans in den Himmel.

Der Wachposten schüttelte verständnislos den Kopf. Ganz Semon-Sey war auf den Beinen, jeder hatte die Shaj an diesem Tage sehen wollen – sie und die Cas, wie sie gen Süden auszogen, um den Feind zu schlagen. Die Heere Cycalas' hatten sich in Bewegung gesetzt und niemand wäre auf die Idee gekommen, sein Interesse etwas anderem zu widmen.

Zumindest hatte er das erwartet.

Und nun öffnete er bereits zum dritten Male an diesem Tage das schmale Tor, das den westlichen Ausgang aus der Stadt bildete. Dahinter befand sich nichts als ein schmaler Pfad in die dichte Vegetation, der bestenfalls für kräuterkundige Wanderer interessant sein mochte. Er führte direkt zur Küste, es gab kein Dorf und keinen Tempel auf diesem Weg und auch sonst nichts, was einen Ausflug lohnte. Über eine Abzweigung gelangte man noch zum Fluss, aber abgesehen davon, dass man diesen sehr viel schneller über das Südtor erreichte, war es auch noch unbequemer, diesen Umweg zu wählen. Gerade jetzt im Winter. Selbst im Sommer war diese Gegend kaum besucht.

Der jetzige Passant war – wie die vorhergehenden – in derbe Wanderkleidung gehüllt. Er hatte sein Gesicht schon einige Male gesehen und zumindest das beruhigte ihn. 'Der will vielleicht wirklich nur Kräuter sammeln.' Doch sogleich fragte er sich 'Kräuter? Um diese Jahreszeit?' Der Wächter zuckte die Achseln. Was ging es ihn an? Vielleicht wollte dieser Mann auch bloß jagen? Aber mitten in der Nacht?

Einige Stunden zuvor hatte er sich dieselben Fragen gestellt, nämlich als ein anderer Wanderer – der ihm ebenfalls vage bekannt vorgekommen war – ohne jede Erklärung um Durchlass gebeten hatte. Und die beiden, die bereits zur Mittagsstunde die Stadt nach Westen hin verlassen hatten, wollten ihm schon gleich gar nicht mehr aus dem Kopf gehen. Von allen waren sie die auffälligsten 'Reisenden' gewesen. Er beschloss, sich endlich Klarheit zu verschaffen.

„Sag, alter Mann, was gibt es da draußen, dass an einem Tag wie heute so viele in die Wildnis im Westen ziehen?“

Der Alte tat, als verstünde er nicht.

„Wo willst du hin?“ wiederholte der Wächter ungeduldig und deutete auf den Pfad.

„Ah....“ Das Gesicht des Wanderers hellte sich auf, als habe er endlich begriffen. Er zog ein Amulett hervor, auf dem eine Schlange eingraviert war. Ein eher billiges Stück von einem fahrenden Händler.

„Wir geben! Wir geben Opfer! Er wird den Sieg bringen!!!“ Dabei verdrehte der Alte die Augen und erweckte nun vollends den Eindruck eines Verrückten.

Der Wächter seufzte. Es war nicht ungewöhnlich, dass einige Irre der Meinung waren, sie könnten Ash-Zaharrs Gunst besser erlangen als die Priester, indem sie irgendwelchen wahnwitzigen Ritualen nachgingen. Einige bevorzugten dafür aus verständlichen Gründen die Einsamkeit, denn es war bekannt, dass die semonischen Priester sich nicht gern ins Handwerk pfuschen ließen. Seltsam war nur, dass sich nun auch dieser Mann dazu hinreißen ließ – war er doch ein Fremdländer und somit ein Ungläubiger. 'Na, vielleicht ist er inzwischen so verwirrt, dass er selbst nicht mehr weiß, was er tut.'

„Ach, verschwinde!“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung, wartete bis der Alte durch das Tor geschlurft war und verschloss es dann wieder sorgfältig. Hoffentlich kamen nicht noch mehr Geisteskranke auf die Idee, dort draußen eine Opferzeremonie durchzuführen. Sonst würde er am Ende doch noch den obersten Säbelwächter Semon-Seys informieren müssen. Und der war, dank des Befehls, hier zurückbleiben zu müssen und nicht an den Schlachten teilnehmen zu dürfen, ohnehin schon denkbar schlechter Laune.

Auf der anderen Seite der Stadtmauer atmete Menrir auf. Er konnte nur hoffen, dass dieser Wachposten dem merkwürdigen Auftritt keine weitere Aufmerksamkeit schenken oder ihn gar verfolgen lassen würde.

Eilig machte er sich auf den Weg, der ihm beschrieben worden war. Wenn er Glück hatte, konnte er den verabredeten Treffpunkt noch erreichen, bevor die Sonne aufging.

Die zehn Mondpferde grasten unter einer Baumgruppe. Nur ihretwegen hatten sie den Weg nicht gleich fortgesetzt. Es war gefährlich, hierzubleiben, leicht konnten sie den Fußtruppen begegnen, die aus den südlicheren Dörfern über die Grenze reisten. Aber Horem und Karuu, die sich wieder auf ihren Späherposten befanden, hatten gute Augen. Sie würden sie rechtzeitig warnen.

„Wir sollten nicht mehr lange warten. Bald wird es hell.“ Rahor betrachtete den Himmel, der weit im Osten schon die ersten violetten Streifen erkennen ließ.

Lennys gab ihm im Stillen Recht. Vor ihnen lag ein langer Tag, der Pferden wie Reitern alles abverlangte. Es war besser, ihn so früh wie möglich anzugehen.

„Sag den anderen, dass die Rast beendet ist.“

Rahor nickte. Er musste nicht laut rufen, ein einziger Wink genügte, um die Cas aufspringen zu lassen. Einer nach dem anderen überprüfte ein letztes Mal den Inhalt seiner Wasserflasche, kontrollierte seine Kleidung und den Sitz seiner Waffen und schwang sich dann aufs Pferd. Ein letztes Mal wandten sie sich nach Norden und ließen den Blick über die wilde cycalanische Landschaft schweifen, die sich dort vor ihnen ausbreitete. Keiner wusste mit Sicherheit, ob er von diesem Feldzug zurückkehren würde.

Sie sogen den Anblick in sich auf. Nebel hüllte die fernen Silberberge ein, dunkel und drohend stachen die schwarzen gezackten Umrisse der Tannen und Fichten aus dem silbrig-weißen Dunst. Doch selbst jetzt im Winter war es schön, das Sichelland. Hier und da schimmerten immer noch grüne Ebenen, wenn auch nicht so saftig und üppig wie im Sommer. Der Morgenhimmel verfärbte sich allmählich blass-blau und man konnte über den Nebelfeldern erahnen, dass die Wintersonne heute einen besonders herrlichen Tag hervorzubringen gedachte.

Dann stießen sie den Tieren die Fersen in die Flanken und galoppierten der Grenze entgegen. Niemand war in der Nähe. Niemand sah, wie die Cas und die Shaj der Nacht ihr Land verließen.

Die Diener waren zuverlässig. Selbst in diesen frühen Morgenstunden hatten sie die zahlreichen Kaminfeuer in Vas-Zaracs Räumen angeschürt, um den verbliebenen Bewohnern eine behagliche Wärme zu verschaffen. Es war eine unbeliebte Aufgabe. Kein Sichelländer mochte das Feuer, sie hielten sich lieber fern davon. Doch die Winter in Cycalas waren lang und eisig.

Dennoch vermisste Imra das mildere Klima des Mongegrunds nicht. Er war froh, wieder in seiner Heimat zu sein, auch wenn ihm der Abschied von seinem bescheidenen Haus in Fangmor zunächst schwergefallen war. Fast dreizehn Jahre hatte er dort unten im Süden ein beschauliches Leben geführt, wenn man von den ersten Monaten, in denen der Krieg tobte, absah. Sein Vater war damals stolz gewesen, dass sein Sohn sich der Herausforderung der Fremde stellen wollte. Einmal hatte er ihn sogar besucht und ihm bei der Besichtigung der kleinen, aber gut ausgestatteten Weberei anerkennend auf die Schulter geklopft.

Nicht lange danach war er im Sichelland einen friedlichen und schmerzlosen Tod gestorben. Und Imra musste erkennen, dass eine weitere Verbindung nach Cycalas – vielleicht sogar seine wichtigste – verschwunden war.

Wie hatte er sich doch geirrt.

Er erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem Akosh, Sara und Lennys vor seiner Tür gestanden waren. Erst kurz zuvor hatte er einen sehr überraschenden Besuch von dem bekannten Heiler Menrir erhalten, der das Kommen der Shaj angekündigt hatte. Nie zuvor war Imra eine solche Ehre zuteil geworden. Gewiss, er kannte Lennys noch von früher, wie er auch ihren Vater Saton gekannt hatte. Aber er hatte nie zu träumen gewagt, dass sie eines Tages Gast in seinem Hause sein würde.

Und jetzt... jetzt war er in ihrem Hause. Und er war mehr als nur ein Gast. Er war ihr gleichgestellt worden – ein Shaj des Sichellandes, die Krone seiner Säule. An dem Tag, da Lennys über seine Schwelle getreten war, hatte er gespürt, dass sich sein Leben von nun an entscheidend verändern würde. Und er hatte das Sichelland wieder in sich gefühlt, das Heimweh war erwacht. Und noch während Lennys, Akosh und Sara durch die Mittelebenen nach Norden zogen, hatte er einen Entschluss gefasst, den Oras, der Vogelmann, nur wenig später noch bestärkt hatte. Ein Entschluss, der ihn nicht nur in seine Heimat zurück, sondern geradewegs zu diesem Thron geführt hatte.

Am meisten bedauerte Imra, dass sein Vater dies nicht mehr miterleben durfte. Aber vielleicht war dies eines der geheimen Gesetze, die Ash-Zaharr geschaffen hatte. Auch Lennys war ohne Eltern, bei Talmir war es nicht anders. All jene, die die großen Herrscher hervorgebracht hatten, waren gestorben, ehe ihre Nachkommen in ihren Rang erhoben wurden. Lennys' Mutter Cureda war bei der Geburt ihrer Tochter gestorben, ebenso wie seine eigene. Talmirs Eltern waren schon vor vielen Jahren kurz hintereinander einer schweren Krankheit zum Opfer gefallen.

Er erinnerte sich an Saton, der ein ähnlich tragisches Schicksal zu beklagen gehabt hatte. Und auch Makk-Ura war allein gewesen, als er den Thron bestieg.

'Vielleicht ist alles vorgezeichnet.' dachte er melancholisch. Vielleicht waren die Weichen seines Lebens durch den Tod seines Vaters neu gestellt worden, ohne dass es zu diesem Zeitpunkt irgendjemand hätte erahnen können. Am wenigsten er selbst. Und noch nicht einmal an dem Tag, an dem Lennys mit ihm ein ernsthaftes Gespräch darüber geführt hatte, dass er auch sich selbst als möglichen Kandidaten in Betracht ziehen müsse, hatte er sich eine solche Zukunft vorstellen können.

Sie hatte sich verändert, die Shaj der Nacht. Nicht im Ganzen, nein. Aber ihm gegenüber. Viele Stunden hatte er in den letzten Wochen in ihren Räumen verbracht, sie hatte ihn auf ihre Art für sein Amt vorbereitet, das wusste er nun. Hatte mit ihm geredet, ihm Geheimnisse offenbart und seine Ansichten teils verändert, teils gestärkt. Und obwohl er schon immer davon überzeugt gewesen war, dass die oberste Kriegerin der letzte Mensch war, den man beneiden konnte, so musste er inzwischen doch zugeben, dass er noch nicht einmal einen Bruchteil dessen erahnt hatte, was wirklich auf ihr lastete. Und dass er niemals alles erfahren würde.

 

Es war merkwürdig, dass er sich gerade der Linie der Sarr so verbunden fühlte. Saton war für ihn die Verkörperung aller Macht und Kraft Cycalas' gewesen, wichtiger noch als der damalige Shaj der Erde. Natürlich hätte er als Weber dies niemals laut aussprechen dürfen. Und als Lennys ihrem Vater auf den Thron folgte, war seine Treue ungebrochen geblieben. Makk-Uras Tod war für ihn eine schwarze Stunde gewesen, er hatte getrauert und geklagt und auch Angst empfunden. Im tiefsten Herzen aber war er auch dankbar gewesen, dass nicht die Sarr-Linie ausgelöscht worden war – eine der ältesten Familien des Landes und eine der mächtigsten noch dazu. Über viele Generationen hatten sie die Shajs oder zumindest einen der Cas gestellt und seit sie zu den höchsten Kriegern gehörten, war das Land sicher und siegreich gewesen. Selbst der Große Krieg war keine Niederlage gewesen, obgleich viele Cycala und unter ihnen auch der große Shaj Saton gefallen waren, denn nachdem die Feindin Orjope geschlagen worden war, war das Sichelland in noch größerem Glanz und Reichtum erstrahlt als je zuvor. Lennys' Tod wäre ein weit schmerzhafterer Verlust für das Land gewesen als das Ableben des alten und zwar beliebten, aber doch auch recht unbedeutenden Makk-Ura.

Über seinen eigenen Stellenwert in Cycalas' Geschichte machte Imra sich keine Gedanken. Er gehörte dem Stamm Waan an, der sich seit jeher durch Bescheidenheit, Geduld und Genügsamkeit ausgezeichnet hatte und der sich lieber still im Hintergrund hielt. Und so würde er auch sein Amt erfüllen. Im Grunde bildeten die Waani den vollständigen Gegensatz zu den Batí, die impulsiv, temperamentvoll, ungeduldig und ausgesprochen selbstbewusst waren. Umso seltsamer kam es Uneingeweihten vor, dass es gerade die Waani waren, denen am ehesten ein gewisser Respekt von Seiten der Batí entgegenschlug. Sie ergänzten einander und kamen sich dennoch nicht ins Gehege und sie schätzten ihre gegenseitigen Fähigkeiten und Talente. Bei allen Gegensätzen gab es aber auch Gemeinsamkeiten zwischen den Stämmen. Waani wie auch Batí waren eher schweigsame, zurückgezogene Einzelgänger, die Oberflächlichkeit und Prunksucht verabscheuten.

Imra sah es als ein Zeichen des Dämonen Ash-Zaharr selbst, dass zwei der momentan regierenden Shajs aus eben diesen beiden Stämmen hervorgingen. Und auf seine Art bildete Talmir ein Gegengewicht, denn er unterschied sich in jeglicher Hinsicht von ihnen. Dies mochte gut oder schlecht sein, in jedem Falle aber bedeutsam. Er glaubte fest daran, dass auch Talmir noch seine Rolle in der Geschichte zu erfüllen hatte.

„Achte auf ihn.“ hatte Lennys kurz vor ihrem Aufbruch in den Süden gesagt. Auch in jener Nacht hatte sie Imra zu einem persönlichen Gespräch geladen. Und Imra wiederum wusste, dass vor ihm der Shaj des Himmels auf demselben Sessel gesessen und in dieselben schwarzen Augen geblickt hatte. Cycalas war im Krieg und somit stand das ganze Land im Zeichen der Nacht. Wenn die Shaj der Krieger zu einem Treffen aufforderte, durfte man es nicht verwehren – das galt auch für Imra und Talmir. Und sie hatte dazu aufgefordert. Natürlich konnte Imra nur ahnen, was sie mit Talmir besprochen hatte. Und er ahnte auch, was nun auf ihn zukam, als Satons Tochter von ihrem Schreibtisch aufgesehen hatte. Düster und ernst, nicht euphorisch oder überheblich, wie er es sonst von den Kriegern unmittelbar vor großen Kämpfen kannte.

„Ich werde dir nicht verbergen, dass ich dieses Land zum jetzigen Zeitpunkt nicht gern verlasse. Und ich bin es nicht gewohnt, andere um Hilfe zu bitten. Du wirst also niemals von mir etwas derartiges hören. In Kriegszeiten steht ganz Cycalas unter meinem Befehl. Und ich erwarte, dass man sich ihm beugt.“

Imra hatte genickt. Für ihn bedeutete es keine Degradierung, wenn sie so sprach, er war sogar schon fast erleichtert, dass sie die Zügel so streng in ihre Hände nahm.

„Und was dich betrifft, Imra, so wirst du dich um sehr viele Aufgaben zu kümmern haben, während ich fort bin. Ich verstehe es, wenn du dich dem nicht gewachsen fühlst, aber du hast nicht das Glück, dich frei entscheiden zu können. Bist du bereit, mir zuzuhören?“

Natürlich war er bereit gewesen.

„Du musst ein Auge auf Talmir haben. Solange ich nicht hier bin, wird er sich aufspielen und versuchen, sich über dich zu stellen. Aber das ist sicher nicht alles. Du kennst inzwischen seine Haltung, was die Batí betrifft. Als oberster Priester und Shaj des Himmels ist er in der Lage, sehr viel Macht auszuüben. Vielleicht versucht er, meine Abwesenheit auszunutzen und den Batí zu schaden. Ich erwarte regelmäßige Berichte von dir in Hinblick auf sein Verhalten. Und natürlich wirst du mich sofort informieren, falls er anfangen sollte, gegen die Batí vorzugehen. Du solltest deshalb auch mit Mondor in Kontakt bleiben, obwohl ich glaube, dass er bald nicht mehr hier sein wird.“

Für Imra war es eine große Anerkennung, dass Lennys ihn damit betraute, für die Belange der Batí einzutreten. Er hätte es auch ohne diese Aufforderung getan, aber die Bestätigung, die er durch die Shaj der Nacht erhalten hatte, tat gut.

„Das ist noch nicht alles. Es gibt einige… sagen wir, persönliche Anliegen. Ich könnte Mondor oder Wandan damit beauftragen, doch beide haben sich da in eine Geschichte verrannt, von der ich sie nicht abbringen kann und der sie ihre ganze Aufmerksamkeit widmen wollen. Du bist neu in deinem Amt und die Arbeit türmt sich vor dir auf, aber es gibt Wichtigeres, als die Silberpreise zu regeln oder die Qualität des Hühnerfutters zu prüfen.“

„Was immer du mir aufträgst, ich werde mein Bestes tun, um es zu erfüllen. Ich habe das Gefühl, dass Ash-Zaharr mir genug Kraft geben wird, um nicht nur meinem Amt, sondern auch deinen Erwartungen gerecht zu werden.“

„Zumindest wird er dich nicht daran hindern.“ Diese Bemerkung hatte auf eine unheimliche Art bitter geklungen, doch sie war nicht weiter darauf eingegangen. Stattdessen war sie angespannt auf und ab gegangen und während sie Imra mit Aufträgen überhäufte, hatte sie den einstigen Weber nicht ein einziges Mal angesehen.

„Du wirst jemanden für mich ausfindig machen, an den du dich wohl kaum noch erinnerst. Es handelt sich um einen Manatarier namens Eskjat. Wenn er meine letzten Anweisungen befolgt hat, müsste er sich inzwischen in Gahl aufhalten. Befehle ihn nach Askaryan, wo er eine Nachricht in Empfang nehmen soll, die ich dir vor meiner Abreise übergebe. Er soll sie so schnell wie möglich überbringen – er wird wissen, an wen. Sorge dafür, dass niemand davon erfährt.

Desweiteren möchte ich, dass du Ermittlungen im Tempel von Zarcas anstellst. Dort gab es vor nicht allzu langer Zeit einen merkwürdigen Unfall, bei dem ein Schüler namens Ascam ums Leben kam. Ich bin mir sicher, dass dieser Todesfall dem einen oder anderen Priester sehr entgegenkam. Finde heraus, was es damit auf sich hat und zögere nicht, die härtesten Gesetze anzuwenden, egal wer sich als Schuldiger herausstellt.“

„Wird Talmir nicht misstrauisch, wenn ich mich um diese Angelegenheit kümmere? Immerhin geht es um einen der größten Tempel Cycalas'.“

„Es sollte dir gleichgültig sein, was er denkt, du hast jegliches Recht dazu, diese Ungereimtheiten aufzuklären. Sollte er dennoch Schwierigkeiten machen, kannst du offiziell vor den Rat treten und erklären, dass ich aus persönlichen Gründen wünsche, dass du dich damit befasst. Aber so weit wird es nicht kommen. Talmir wird nicht riskieren, dass dieser Mord – und das war es – allzu öffentlich gemacht wird.“