Buch lesen: «Psychomotorik»

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Prof. Dr. Christina Reichenbach hat den Lehrstuhl für Heilpädagogik an der Evangelischen Hochschule Bochum inne.

Lektorat / Redaktion im Auftrag des Ernst Reinhardt Verlags: Ulrike Auras, München

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eISBN 978-3-8463-3046-3

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Inhaltsverzeichnis

Titel Impressum Einführung Hauptteil

1 - Was ist Psychomotorik? 2 - Wurzeln der Psychomotorik – Gymnastik, Rhythmik, Sinnes- und Bewegungsschulung 3 - Theoretische Grundlagen der Psychomotorik – Entwicklungspsychologie und „Theoriebrillen“ 4 - Ausgewählte Praxiskonzepte psychomotorischer Förderung 5 - Wie entwickelt man ein psychomotorisches Förderkonzept für das eigene Arbeitsfeld?

Serviceteil Sachregister

Einführung

Psychomotorik ist Gegenstand vielfältiger pädagogischer Studien-, Aus-und Weiterbildungsgänge in den Fachgebieten Pädagogik und Psychologie. Je nach Ausbildungsgang und zum Teil je nach Lehrkraft werden unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Inhalte nahegelegt.

Psychomotorik ist eine Fördermaßnahme, die über Bewegungsinhalte die Entwicklung in unterschiedlichen Bereichen (z.B. motorisch, psychisch, emotional, kommunikativ) aufbaut. Psychomotorische Förderung unterstützt Kinder dahingehend, dass diese an sie gestellte Aufgaben und alltägliche Anforderungen (leichter) bewältigen können. Psychomotorische Förderung gibt es für verschiedene → Klientel und Altersgruppen und sie kann sich über die gesamte Lebensspanne hinweg erstrecken.

Die Ursprünge der Psychomotorik sind sehr breit gefächert; so haben sich im Verlauf der Jahrzehnte vielfältige theoretische und praktische Vorstellungen entwickelt, die in der Regel nicht alle in der Lehre berücksichtigt werden. Beides – Schwerpunktsetzung und breite Fächerung – kann zu sehr speziellen, aber auch zu eher globalen Auffassungen von Psychomotorik führen. Eine genaue Erklärung der Begrifflichkeiten erfolgt in Kapitel 1.

Das Buch gibt zunächst einen Einblick in die Wurzeln bzw. Ursprünge der Psychomotorik sowie die theoretischen Grundlagen (Kapitel 2 und 3). Anschließend wird eine Auswahl psychomotorischer Konzepte für unterschiedliche → Klientelen im Überblick vorgestellt (Kapitel 4). Dabei ist es nicht möglich, pro Konzept eine allgemeingültige Praxis vorzustellen. Stattdessen werden beispielhaft praktische Sequenzen beschrieben. Außerdem wird jeweils auf spezielle Aspekte der psychomotorischen Konzepte (z. B. theoretische Begründungen, Menschenbild, Bewegungsmodell, Diagnostik, Spiel usw.) Bezug genommen, sodass man letztlich die Konzepte und Arbeitsweisen miteinander vergleichen und begründet voneinander abgrenzen kann. So wird eine Auseinandersetzung bezüglich der Konzeptvielfalt möglich, wie auch eine Reflexion hinsichtlich der möglichen Nutzung von vorhandenen Konzepten für spezifische Zielgruppen. Und nicht zuletzt können Studierende und Auszubildende erst unter Berücksichtigung der Vielfalt der Konzepte 8und unter Beachtung des eigenen Arbeitsfeldes und des individuellen Entwicklungsverständnisses – also der Vorstellung darüber, wie und wodurch sich Menschen entwickeln – eine eigene Positionierung entwickeln. Eine solche Stellungnahme dient der begründeten Darstellung, der Standortbestimmung und der Reflexion hinsichtlich seines eigenen beruflichen psychomotorischen Handelns. Im 5. Kapitel schließlich geht es um die Erarbeitung eines eigenen Handlungskonzeptes für eine psychomotorische Förderung. Der Serviceteil zu Ausbildungsmöglichkeiten gibt einen Einblick in die Psychomotorik ausgewählter europäischer Länder. Dies ist für Studierende insofern interessant, wenn sie beispielsweise ein Praktikum oder ein Semester im Ausland absolvieren möchten und sich dort weiterhin mit dem Fachgebiet Psychomotorik auseinandersetzen.

Hauptteil

1

Was ist Psychomotorik?

Der Begriff Psychomotorik findet sich heutzutage in zahlreichen pädagogischen, sportwissenschaftlichen, medizinischen und auch psychologischen Fachbüchern wieder. Das Begriffsverständnis weicht dabei zum Teil stark voneinander ab und umfasst eine große inhaltliche Spannbreite. Diese Begriffsvielfalt ist nach Krus „Ausdruck einer sich ständig weiterentwickelnden Konzeptionsbreite aber auch -verschiedenheit“ (2004, 15).

Im Folgenden wird zunächst die Spannbreite der Begrifflichkeiten beispielhaft aufgezeigt, ehe später in Kapitel 3 weitere theoretische Grundlagen veranschaulicht werden.

Definition „Psychomotorik“

Die (begriffliche) Geschichte der Psychomotorik lässt sich bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen. Im deutschsprachigen Raum war es Charlotte Pfeffer (s. auch Kap. 2), die diesen Begriff erstmals nutzte (Pfeffer 1941, 1958). Sie verstand unter Psychomotorik einerseits eine „äußerst wichtige sowohl psychologisch als auch physiologisch zu erfassende Lebensäusserung des Kindes“ und andererseits eine grundlegende erzieherische und → heilpädagogische Maßnahme, bei der „die Bewegung an den Anfang aller Erziehung“ gestellt wurde (1958 / 1941, 3). Ernst J. Kiphard – Vater der deutschen Psychomotorik – übernahm dann den Begriff „Psychomotorik“ in seine Überlegungen (Irmischer 1989); später entstanden, zum Teil aus berufspolitischen Gründen, weitere neue Begrifflichkeiten wie z.B. → Motopädagogik oder → Mototherapie (Kiphard 1989; Zimmer 1999; www.motopaedie-verband.de, 20.10.2008). Diese Begriffe haben sich jedoch nie durchsetzen können. 10Vielmehr findet der Begriff Psychomotorik gerade auch durch seinen verbindlichen Gebrauch im europäischen Raum zunehmend wieder stärkere Verwendung.

Merksatz

Bis heute fehlt jedoch eine einheitliche Definition dessen, was unter dem Begriff „Psychomotorik“ allgemeingültig zu verstehen ist.

Diese uneinheitliche Vorstellung in Bezug auf das Verständnis von Psychomotorik hat sicherlich damit zu tun, dass Psychomotorik seit jeher mit unterschiedlichen Arbeitsfeldern und Berufsgruppen verbunden ist, sodass zahlreiche Facetten in die Begriffs- und Theoriebildung einfließen.

Sinnvoll ist hier zunächst eine Unterscheidung, wie sie Seewald (1997, 272) vorgenommen hat. Er stellte unterschiedliche Bedeutungen des Begriffs Psychomotorik fest und formulierte dementsprechend ein Glossar, welches vier übergeordnete Unterschiede herausstellt:

1. Psychomotorik als Konzept der Entwicklungsförderung: Hier steht Psychomotorik als Eigenname oder als Begriff für ein bestimmtes (Förder-) Konzept, d.h. jemand „macht“ auf eine bestimmte Art und Weise Psychomotorik und ein anderer „erhält“ Psychomotorik. Was speziell das Ziel einer psychomotorischen Förderung ist, hängt von dem zugrunde liegenden Konzept ab (siehe dazu Kapitel 4). Beispielhaft können als Förderziele → motorische Fähigkeiten (u. a. Gleichgewicht) oder → emotionale Fähigkeiten (u. a. Selbstbewusstsein) genannt werden. Derartige Förderkonzepte können für Menschen eines bestimmten Alters (z.B. Jugendliche, ältere Menschen) oder mit speziellen Erscheinungsbildern (z. B. Aufmerksamkeitsstörung) angeboten werden.

2. Psychomotorik als Begriff, der die Einheit von motorischen und psychischen Prozessen bezeichnet: Psychomotorik wird in diesem Zusammenhang als Begriff verstanden, der die Verknüpfung von seelischen und körperlichen Prozessen zum Ausdruck bringt.

3. Psychomotorik als Begriff der (Sport-)Motorikforschung: Hier ist Psychomotorik als Oberbegriff für Theorien zu verstehen, die sich mit der → psychisch gesteuerten → Motorik befassen. Es geht dabei um eine „Rekonstruktion des Zusammenhangs von inneren unsichtbaren Prozessen … mit äußeren sichtbaren Bewegungen“ (Seewald 1997, 272).

11

4. Psychomotorik als entwicklungsorientierter Begriff: Psychomotorik bezeichnet hier eine Phase der kindlichen Entwicklung, wobei die Entwicklung in vier Phasen von der → Neuromotorik, zur → Sensomotorik, über die Psychomotorik hin zur → Soziomotorik verläuft (Kiphard 1980).

Schon anhand des Glossars nach Seewald wird deutlich, dass die vielfältige Verwendung des Begriffs Psychomotorik zu Missverständnissen führen kann. Insbesondere, wenn sich verschiedene Fachpersonen über „Psychomotorik“ unterhalten und dabei unklar ist, welches jeweilige Begriffsverständnis zugrunde liegt. Innerhalb dieser vier Auffassungen bzw. Zugangsweisen gibt es wiederum zahlreiche enge und weite Definitionen, die das Verständnis zunächst oft erschweren. An dieser Stelle seien exemplarisch jeweils zwei Definitionen für Psychomotorik als Konzept und Psychomotorik als Begriff genannt, da diese in der Praxis am gebräuchlichsten sind.

Definition

Psychomotorik als Konzept

Definition 1: „Psychomotorik kennzeichnet eine ganzheitlich-humanistische, entwicklungs- und kindgemäße Art der Bewegungserziehung“ (Kiphard 1989).

Definition 2: Unter Psychomotorik können „eine Reihe von verschiedenen pädagogisch-therapeutischen Methoden [verstanden werden], die alle von der Möglichkeit ausgehen, motorische, kognitive, soziale und schulische Lernprozesse und therapeutische Zielsetzungen bei Kindern durch eine (systematische) Beeinflussung der Bewegung / Motorik zu fördern“ (Eggert/Lütje-Klose 2005).

Psychomotorik als Konzeptbegriff benennt demnach die Ziele und ein Vorgehen der Förderung für eine ausgewählte → Klientel.

12

Definition

Psychomotorik als Allgemein-Begriff

Definition 1: „… mit dem Begriff Psychomotorik wird die enge wechselseitige Verknüpfung von psychischen Vorgängen mit motorischen Phänomen betont“ (Hünnekens / Kiphard 1960).

Definition 2: Der Begriff „psychomotorisch“ kennzeichnet „die funktionelle Einheit psychischer und motorischer Vorgänge, die enge Verknüpfung des Körperlich-motorischen mit dem Geistig-seelischen“ (Zimmer 1999, 22).

Der Begriff Psychomotorik betont hier also eine wechselseitige Abhängigkeit von der seelischen Befindlichkeit und der → motorischen Fähigkeit. So kann eine eingeschränkte → motorische Leistung möglicherweise auf einen negativen seelischen Zustand zurückgeführt werden.

13

2

Wurzeln der Psychomotorik – Gymnastik, Rhythmik, Sinnes- und Bewegungsschulung

Psychomotorik hat sich historisch betrachtet aus zahlreichen Wurzeln entwickelt. Dieses Kapitel veranschaulicht zusammenfassend die Ursprünge der Psychomotorik in Deutschland. In anderen Ländern gibt es auch psychomotorische Konzeptionen, jedoch haben diese anderweitige Wurzeln, auch wenn Überschneidungen vorhanden sind. Die Bearbeitung historischer Quellen verdeutlicht zum einen die geschichtliche Entwicklung des Förderkonzeptes. Andererseits können damit ggf. zukünftige Ausdifferenzierungen der Psychomotorik in verschiedenen Konzepten besser eingeschätzt werden (Seewald 2002).

Die Idee bzw. das Gedankengut, welches sich hinter dem Begriff Psychomotorik verbirgt, hat in Deutschland eine lange Tradition (seit 1955) und ist sehr facettenreich. Helmut Hünnekens und Ernst J. Kiphard waren die Ersten in Deutschland, die versucht haben, eine spezielle Methode der Erziehung durch Bewegung zu entwickeln. Sie haben diese Methode in dem Buch „Bewegung heilt“ (1960) vorgestellt. Damals galt das Motto „Erziehung zur Bewegung“, was den Fokus der „Heilung“ der Bewegung hervorhob. Im weiteren Verlauf wandelte sich dies zur „Erziehung durch Bewegung“; hier wird Bewegung eher als Mittel gesehen, welches für Erziehungsprozesse genutzt werden kann. Ernst „Jonny“ Kiphard (1923–2010) gilt bis heute als „Gründervater“ der Psychomotorik in Deutschland, und seine Ausführungen, Gedanken und sein Tun werden als „Meisterlehre“ bezeichnet (Seewald 2002).

Befasst man sich näher mit der Entstehungsgeschichte der Psychomotorik, so wird deutlich, dass Kiphard umfangreich recherchiert und letztlich viele Überlegungen aus vorhandenen Literaturquellen übernommen bzw. aufgegriffen hat.

14

Merksatz

Das erste Konzept war inhaltlich im Grunde nichts Neues, jedoch war das Zusammenfügen der verschiedenen wertvollen Elemente aus vorhandenen Quellen neu und besonders. So nutzten Hünnekens und Kiphard vor allem Elemente aus den Bereichen:

• Leibeserziehung und Gymnastik,

• Rhythmik sowie

• der Sinnes- und Bewegungsschulung

(Hölter 1993; Irmischer 1989; Seewald 2002).

Im Folgenden werden aus den genannten Bereichen ausgewählte Personen und ihre Einflüsse vorgestellt, die als Grundlagen bzw. Wurzeln psychomotorischer Entwicklungsförderung anzusehen sind.

Leibeserziehung und Gymnastik

Gymnastik kann als eine Form der Leibeserziehung angesehen werden, welche die Schulung der Bewegung durch Entwicklung, Steigerung und Erhaltung der Kräfte des Körpers zur Aufgabe hat. Einzeln oder in Gruppen werden grundlegende körperliche Eigenschaften (z. B. Kraft, Beweglichkeit, Lockerheit) und allgemeine koordinierte Bewegungsformen durch Gehen, Laufen, Hüpfen, Federn, Springen und Schwingen in harmonisch gestalteten Bewegungsabläufen entwickelt. Im Mittelpunkt stehen dabei die Funktionalität des Körpers, der Ausdruck des Seelischen sowie die anatomische Betrachtung des Körpers.

Als Vertreter werden insbesondere Delsarte, Mensendieck, Gindler sowie Gaulhofer genannt (Irmischer 1989; Seewald 2002).

François Delsarte (1811–1871) war ein französischer Schauspielpädagoge, Sprecherzieher, Musiker, Sänger, Komponist und Bewegungspädagoge. Nach einem Studium zur Gesangsausbildung war er vorwiegend an der Bühne (Oper und Theater) tätig. Da ihn insbesondere die Verbindung zwischen Musik, Bewegung und → Emotion beschäftigte, und dies zu seiner Zeit entgegen der eher unnatürlichen Bühnenkunst stand, wird ihm eine Wiederentdeckung der Beziehung zwischen körperlicher und seelischer Bewegung zugeschrieben. Er stellte zu seiner Zeit neue Schönheitsgesetze der Bewegung auf und trat für einfache und natürliche gymnastische Bewegungsformen und körperliche Ausdrucksbewegungen 15sowie für entsprechende legere Kleidung ein. Bühnentanz und Ausdruckstanz wurden maßgeblich durch ihn beeinflusst.

Bess Mensendieck (1864–1958) gilt als Wegbereiterin der Krankengymnastik und legte ihren Schwerpunkt auf Veränderungen der Frauengymnastik. Die amerikanische Ärztin beschäftigte sich mit Form- und Haltungsproblemen und entwickelte die Mensendieck-Gymnastik, deren Grundlage die Analyse der menschlichen Bewegung sowie die Verknüpfung mit der Körperarbeit ist. Ihre Schüler sollten ihren eigenen Körper detailliert kennenlernen und dies in viererlei Hinsicht: architektonisch (Skelettkenntnis), anatomisch (Muskel- und Gelenkkenntnis), physiologisch (Muskelfunktionen) und mathematisch (Gesetze, nach denen Bewegungen entstehen) (Seewald 2002). Für Mensendieck war zudem das Erkennen der Schönheit in den Bewegungen wichtig, und sie lehrte, wie Frauen notwendige Aufgaben im Haushalt entspannter und mit einem Minimum an Anstrengung verrichten können. Seewald betont die dreifache Relevanz der Arbeiten von Mensendieck für die Psychomotorik: „Die Bedeutung des Körpers mit seiner impliziten Normativität (a), den Bezug zur normalen alltäglichen und gesunden Lebensführung (b) sowie die geschlechtsspezifische Ausrichtung (c)“ (2002, 30).

Elsa Gindler (1885–1961) gilt als Wegbereiterin der konzentrativen Bewegungstherapie (eine körperorientierte, psychotherapeutische Methode, die Wahrnehmung und Bewegung als Grundlage von Erfahrung und Handeln nutzt). Sie entwickelte ein eigenständiges Gymnastiksystem, das heute noch in den USA, in Israel und in einigen europäischen Ländern Einfluss im Rahmen der Gymnastiklehre hat. Zudem entwickelte Gindler eine ästhetische künstlerische und allgemeine pädagogische Erziehung (Ludwig 2002). Für sie waren Atmung, Entspannung und Spannung wichtige Mittel ihrer Arbeit (Seewald 2002). Dabei stand das Empfinden des eigenen Körpers als hohes Ziel im Mittelpunkt: Die Schüler sollten sich über jeden Muskel und auch die kleinste Veränderung im Körperverhalten bewusst werden; zudem wurden die Gefühle und Gedanken, die durch Bewegung bewusst wurden, reflektiert (Ludwig 2002). Gindler arbeitete eng mit dem Musikpädagogen Heinrich Jacoby (1889–1964) zusammen, der unter anderem über die Bedeutung von Verhalten für Wahrnehmungsvorgänge forschte. Seewald sieht einen Bezug zur Psychomotorik „im weiteren Sinne im Zugang zu einem ganzen Spektrum prozesshafter Körper- und Bewegungsarbeit“ sowie in der Betonung der → Leiblichkeit (2002, 31).

16

Karl Luitpold Gaulhofer (1885–1941) studierte Naturgeschichte, Mathematik und Turnen. Er arbeitete u.a. als Referent für körperliche Ertüchtigung im österreichischen Unterrichtsministerium. Gaulhofer wurde in seiner Arbeit von Bess Mensendieck und dem ungarischen Tänzer, Choreografen und Tanztheoretiker Rudolf von Laban (1879–1958) beeinflusst und entwickelte das „natürliche Turnen“, welches das damalige Schulturnen ablöste. Das „natürliche Turnen“ wandte sich gegen das als unnatürlich empfundene Ordnungs-, Haltungs- und Freiübungsturnen der Kaiserzeit. „Natürlich” bezog sich dabei zum einen auf die Forderung nach mehr Leibeserziehung in der freien Natur und zum anderen auf ein neues Bewegungsprinzip, verbunden mit einer veränderten methodischen Sichtweise: Die natürliche Bewegung betonte den flüssigen, ganzheitlichen Ablauf aus einem einheitlichen Impuls heraus, gemäß den Bewegungsgesetzen des menschlichen Körpers. Dem natürlichen Turnen ist die erstmalige Ausprägung eines spezifischen Schulturnens für Grundschulkinder zu verdanken, das sich an den physiologischen und psychologischen Bedürfnissen des Kindes orientiert. Natürlichkeit und Kindgemäßheit waren wichtige Prämissen der körperlichen Erziehung, in der das Kind und nicht die Inhalte die Arbeit bestimmen sollte (Hammer 2004). Gaulhofer arbeitete eng mit der österreichischen Turnpädagogin Margarete Streicher (1891–1985) zusammen und verfasste mit ihr das Buch „Grundzüge des österreichischen Schulturnens“.

Rhythmik

Einen wichtigen Einfluss auf die Psychomotorik in Deutschland hat die → Rhythmikbewegung – d.h. Vertreter, die sich mit der → Rhythmik wissenschaftlich und praktisch auseinandersetzen – genommen. Insbesondere in den frühen Arbeiten von Kiphard wurde der → Rhythmik bzw. der rhythmischen Erziehung eine fundamentale erzieherische Bedeutung beigemessen (Seewald 2002; Hünnekens / Kiphard 1960). Als Bezugsquellen sind vor allem Jaques-Dalcroze, Bode, Medau, Feudel, Scheiblauer, Pfeffer und Frostig zu nennen.

Emile Jaques-Dalcroze (1865–1950) entwickelte nach und nach die rhythmische Gymnastik (Rhythmik-Lehre) und strebte als Erster eine künstlerische Gymnastik an. Er studierte Komposition, Musik und Schauspiel und hatte eine Professur am Genfer Konversatorium, 17ehe er in Hellerau bei Dresden eine Schule leitete. Der österreichische Musikpädagoge vertrat die Ansicht, dass der Körper der Musik und dem → Rhythmus untergeordnet werden sollte. Demnach dienen Körper und Bewegung der Darstellung und Verkörperung der Musik und haben ihr zu gehorchen. Seine Devise war: nicht zum → Rhythmus erziehen, sondern den → Rhythmus selbst zum Erzieher werden lassen (Irmischer 1989; Seewald 2002). Durch die Körper-Rhythmik sollten Gestalt und Wesen der Musik erlebt und dadurch gleichzeitig alle seelisch-schöpferischen Kräfte gelöst und gesteigert werden. Nach Seewald „hat der ‚Geist von Hellerau‘ eine große Wirkung entfaltet, die sich auch auf die Psychomotorik ausgewirkt hat“ (2002, 27).

Rudolf Bode (1881–1970) gilt als Schöpfer und Vater der rhythmischtänzerischen → Ausdrucksgymnastik. Im Gegensatz zu Jaques-Dalcroze sah Bode → Rhythmus als „Urphänomen des Lebens“ an, also nicht vom Menschen gemacht, sondern dem Menschen innewohnend (Seewald 2002). Ein Wechsel von Anspannung und Entspannung stellte für Bode ein wesentliches rhythmisches Prinzip dar. Sein Ziel war es, „Körper und Bewegung von der Vorherrschaft des Willensaktes“ zu befreien (Seewald 2002, 28). Er wollte eine Körperschulung, welche den ursprünglichen Fluss der Bewegung mit Hilfe der Musik wieder herstellt (Ludwig 2002). Bereits 1911 gründete Bode die Bode-Schule für Rhythmische Gymnastik in München, welche heute die älteste Lehranstalt dieser Art in Deutschland ist.

Hinrich Medau (1890–1974), Musiker und Lehrer, lehnte sich an Jaques-Dalcroze und Bode an und schuf unter Hinzunahme von Handgeräten (z.B. Bälle, Seile oder Klang- und Rhythmusinstrumente) die heutige Form der deutschen Gymnastik. Für ihn waren eine organisch fließende Bewegung, die den gesamten Körper erfasst, sowie Schwingungen und Federungen in rhythmischem Wechsel von Anspannung und Entspannung bedeutend. Eine improvisierte rhythmische Bewegungsbegleitung am Klavier ist dabei unterstützend für die Bewegungsausführungen. Seine Gymnastikmethode ist zwischen Leistungssport und Ballett angesiedelt. Er gründete 1929 in Berlin eine Schule für Gymnastik, die seit den 1950er Jahren in Coburg fortbesteht und international bekannt ist. Medau „darf für sich in Anspruch nehmen, sich auf diesem Gebiet der musischen Bewegungsgestaltung der deutschen Gymnastik Weltruhm verschafft zu haben, denn seine Erkenntnisse sind heute Gemeingut vieler Leibeserzieher“ (Ludwig 2002).

18

Elfriede Feudel (1881–1966) war deutsche Volksschullehrerin, studierte Musik und war Schülerin von Jaques-Dalcroze. Sie war vor allem in der Ausbildung von Rhythmiklehrerinnen aktiv und hatte eine Professur an der Hochschule für Musik in Leipzig inne. Für sie war Bewegungserziehung eine zentrale Aufgabe, wobei alle Erlebnis- und Ausdrucksmöglichkeiten einbezogen werden konnten. Musik sollte dabei als Element der Erziehung dienen. Feudel sah in den Dimensionen Zeit, Raum, Form und Kraft die Grundelemente der Bewegung (Seewald 2002). Sie legte Wert auf die Schulung der Sinnesorgane und der Muskelsinne (= Tastsinn, der eine Empfindung von Bewegungen oder Druck durch Bewegung und Anspannung einzelner Muskeln ermöglicht) und sah sie als grundlegende Elemente von Bewegungstherapie. Ihr Ziel der Erziehung war es, die dem Menschen innewohnenden Fähigkeiten zum Entdecken, Erleben, Entscheiden, Urteilen und Finden der eigenen Persönlichkeit zu wecken.

Charlotte Pfeffer (1881–1970) war eine der ersten deutschen Schülerinnen von Jaques-Dalcroze und studierte Musik und Gesang. Pfeffer unterrichtete als Rhythmiklehrerin Kinderklassen, arbeitete in psychiatrischen Kliniken, war in der Aus- und Fortbildung tätig und bekam schließlich eine Professur für Rhythmische Erziehung in Rom. Sie versuchte, die Zusammenhänge von → Motorik, geistigen Fähigkeiten und → psychischen Vorgängen zu verschriftlichen. Ihren Erziehungsansatz stellte sie unabhängig von musikbezogenen Zielsetzungen dar. Die Begriffe „Psychomotorik“, „psychomotorische Erziehung“ und „psychomotorische Heilerziehung“ traten bei ihr zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum auf (Pfeffer 1941). Sie selbst war durch erste psychomotorische Ansätze in Frankreich und Italien inspiriert, die dort bereits in den 1930er Jahren etabliert waren.

Pfeffer orientierte sich an der natürlichen Bewegung des Menschen. Sie kritisierte, dass der Mensch durch Einflüsse der Erziehung (halt dich ruhig), der Eitelkeit (sei graziös), der berufsmäßigen Gewöhnung (eiserne Ruhe der Diplomaten) seiner Ursprünglichkeit beraubt wird und zu einem Schema erstarrt (Pfeffer 1941; Irmischer 1989, 14). Nach Ansicht von Pfeffer wurde dieser Prozess auch durch die institutionalisierte Bewegungserziehung unterstützt und somit der individuelle Bewegungsstil untergraben und durch Schemata oder künstlerische Ziele verändert. Ihre Absicht war es, mittels Musik und vielerlei Materialien (z. B. Reifen, Seile) sowie eines kreativen Umgangs mit diesen, eine ungestörte Bewegungsentwicklung zu ermöglichen. Das Arbeiten und 19der Umgang mit Alltagsmaterialien waren ihr sehr wichtig, da dies die Kreativität fördert und auch Lernprozesse anregt (Irmischer 1989). Die Kinder sollten zur Eigentätigkeit aufgefordert werden. Pfeffer verfolgte das Ziel, die natürlichen Bewegungsweisen zu unterstützen, ohne direkt einzugreifen. Nach Irmischer hatte Pfeffer einen sehr großen Einfluss auf die Psychomotorik in Deutschland. „Nicht nur mit der Einführung der Begriffe … prägte sie die Psychomotorik in Deutschland, ihre Methodik des Beobachtens der natürlichen Bewegungsweisen der Kinder und des Unterstützens dieser Verhaltensweisen, ohne direkt einzugreifen, ihr ganzheitlicher Zugang, lassen Elemente erkennen, die sich aus unseren gegenwärtigen Arbeitsansätzen nicht mehr fort denken lassen“ (Irmischer 1989, 15).

Mimi Scheiblauer (1891–1968), eine Schülerin von Jaques-Dalcroze, arbeitete als Lehrerin für Klavier und → Rhythmik viel mit Kindern mit Behinderungen (Irmischer 1989). Die Schweizerin entwickelte die so genannte Scheiblauer-Rhythmik bzw. orthagogische → Rhythmik als eigene Methode zur Förderung von Kindern mit Behinderungen. Die Wortkonstruktion „Orthagogik“ verweist darauf, dass → Rhythmik eine individuell „richtige“ und angepasste Methode der Erziehung ist. Die Förderung war grundsätzlich für die Arbeit in Gruppen mit acht- bis zehnjährigen Kindern gedacht. In ihrer → Rhythmik, die sie selbst „heilpädagogische Rhythmik“ nannte, entwickelte sie ein Grundprinzip einer elementaren entwicklungsstimmigen Bildungsfähigkeit für Menschen mit und ohne Behinderung, frei von Schablone und Prinzipienreiterei (Neikes 1969). Sie legte Wert auf die Erarbeitung einer persönlichen Arbeitsweise, welche im ständigen Umgang und in Wechselbeziehung mit dem Kind erfolgt. In einer praktischen Übungsstunde ging es zunächst um Anschauung und das Eigenerlebnis. Während der Übungen gehen neue Anregungen vom Kinde aus, die aufgegriffen und angenommen wurden, wenn man kindnah arbeitete. Dies ermöglichte aus ihrer Sicht auch eine ständige, kindnahe Selbsterziehung des Erziehers. Für ihre Arbeit entwickelte Scheiblauer insgesamt zwölf Leitsätze, die ihre Werte bezüglich der Arbeit mit dem Kind verdeutlichen (Neikes 1969). Für Scheiblauer waren besonders die eigene Reflexion und die Achtung des Kindes entscheidend. Die wichtigste Aufgabe stellte für sie das Führen des Kindes zur Freiheit, zum inneren Freisein und zum Selbstwertgefühl dar. Das Kontaktmittel zum Kind bildete dabei das von ihr selbst entwickelte Übungs- bzw. Rhythmikmaterial, welches die kindliche Fantasie anregen sollte (z.B. Holzreifen, Rasselbüchsen, Schlaghölzer, Seile, 20Rahmentrommel). Für Scheiblauer war die Bewegung das Primäre, und sie unterschied drei wichtige Bewegungsgrundprinzipien: das Unterbrechen, das Umschalten und das Durchhalten.

Weiterhin entwickelte sie acht verschiedene Übungsarten, die sich dann auch bei Kiphard und Hünnekens wiederfanden:

1. Übungen zur Ordnung,

2. Übungen im freien und beschränkten Raum (Neikes 1969, 47 ff.),

3. Übungen zur Koordination und Synergetik (das Zusammenwirken von Elementen, die innerhalb eines komplexen dynamischen Systems miteinander in Wechselwirkung treten) (Neikes 1969, 55 ff.),

4. Übungen des Unterbrechens, Umschaltens und Durchhaltens (Neikes 1969, 59 ff.),

5. Übungen zum Durchhalten, zu Ausdauer, Sorgfalt und Behutsamkeit (Neikes 1969, 65 ff.),

6. Übungen zur Fantasiebildung und -bereicherung (Neikes 1969, 79 ff.),

7. Übungen zur Bildung sozialer Fähigkeiten – Ein-Ordnen, Über- / Unter-Ordnen (Neikes 1969, 83 ff.) und

8. Übungen zur Begriffsbildung.

Marianne Frostig (1906–1985), eine geborene Österreicherin, die einen Großteil ihres Lebens in den USA verbrachte, hat sowohl im Bereich der → Rhythmik als auch im Bereich der Sinnes- und Bewegungsschulung eine große Bedeutung. Als Lehrerin für → Rhythmik und Bewegungserziehung arbeitete sie mit → psychisch kranken Menschen und mit Regelschülern, ehe sie in Psychologie promovierte und eine Professur an der University of Southern California inne hatte. Sie befasste sich insbesondere mit Lernstörungen und sah eine enge Verbindung bzw. Wechselbeziehung zwischen Lernfähigkeit und Wahrnehmungsfähigkeit. Frostig entwickelte diagnostische Verfahren zur Feststellung von Wahrnehmungs- und/oder Bewegungsbeeinträchtigungen (z. B. Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung FEW oder Frostigs Test der → motorischen Entwicklung FTM). Außerdem konzipierte sie Programme zur Förderung von Bewegung und Wahrnehmung (1974, 1975), mit denen die Lernfähigkeit positiv beeinflusst werden konnte. Sie verfolgte durchweg den Gedanken, dass Lernstörungen in Wahrnehmungsstörungen begründet liegen, d.h. dass ein direkter ursächlicher Zusammenhang besteht. Auch wenn heutzutage nicht alle ihre Vorstellungen wissenschaftlich nachweisbar sind, so galt sie als Wegbereiterin 21für die weitere Forschung auf diesem Gebiet. Marianne Frostig war sowohl in den USA als auch in Deutschland erfolgreich, und noch heute gibt es ein Frostig Center in Pasadena (Kalifornien) und eine Frostig-Gesellschaft in Würzburg (Bayern) (Kiphard 1989).

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