Harry in love

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„Als Du erfahren hast, dass Du Mutter werden wirst. Was ging da in Dir vor: Hast Du Dich darauf gefreut oder hattest Du eher Angst und hast mir deshalb nichts davon sagen wollen?“, fragte Harry direkt.

Isabel atmete kurz tief durch und erklärte dann: „Erst war ich etwas durch den Wind, aber im Grunde habe ich mich gefreut. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie oder ob ich Dir das überhaupt sagen sollte. Deshalb hast Du damals diese etwas verwirrende SMS bekommen. Ich brauchte einfach ein wenig Zeit, um das Ganze überhaupt zu begreifen. Nicht einmal meine Eltern wissen etwas davon und so wird es auch bleiben! Aber da ich irgendwann mit der Wahrheit herausrücken musste, wollte ich es Dir an dem Wochenende nach dem nächsten Termin mitteilen. Zusammen mit dem ersten Ultraschallbild von unserem Kind. Aber dazu kam es dann leider nicht mehr …“

Harry überkam sogleich eine eisige Gänsehaut, was auch nicht vor Isabel verborgen blieb. Diesmal war sie es, die Harry in den Arm nahm. Am Ende lagen beide mit verheulten Augen auf Isabels Bett. Isabels Kopf lag auf Harrys linkem Arm und beide schauten gedankenversunken zu dem naiv dreinblickenden kleinen, dicken Engel auf seiner Schäfchenwolke.

„Darf ich Dich etwas fragen?“, stellte Isabel wieder einmal ihre berühmt berüchtigte Einleitungsfrage. Harry schmunzelte und nickte. „Musstest Du im vergangenen Monat wieder auf einen Auslandseinsatz oder hast Du Dich freiwillig gemeldet?“

Harry stutzte. „Woher weißt Du davon???“

Isabel wurde sogleich rot und räusperte sich. „Von Jane. Wir hatten uns an dem Abend bei dem Band-Wettbewerb im Club getroffen und uns eben auch unterhalten.“

„Schön, dass Jane so redselig ist; nur mir hat sie verschwiegen, dass ihr aufeinandergetroffen seid“, brummte Harry.

„Nun ja, ich war diejenige, die um ihre Verschwiegenheit bat“, gestand Isabel. „Ich war der Ansicht, dass es besser wäre, wenn wir uns nie wieder sehen würden. Als ich jedoch erfuhr, dass Du wieder einmal dort unten warst, da traf es mich wie ein Messerstich mitten ins Herz.“

„Weil Du mich noch immer geliebt hast?!“

„Nein, weil ich Dich noch immer liebe; das ist mir jetzt klar! Deshalb überkam mich ja vorhin auch diese Panik, dass mein Entschluss, unsere Beziehung für immer zu beenden, der größte Fehler meines Lebens sein könnte. Zumal mir da noch so viel Unausgesprochenes auf der Seele brennt.“

„Aber das müssen wir nicht alles heute klären, oder?“, warf Harry besorgt in den Raum.

Isabel musste unweigerlich kichern und schüttelte den Kopf. „Beantwortest Du mir trotzdem noch meine Frage?“

„Ja, ich hatte einen Antrag gestellt“, sagte Harry wahrheitsgemäß.

Sofort setzte sich Isabel stocksteif auf und starrte geschockt zu ihrem Freund herunter.

Harry seufzte und setzte sich ebenfalls auf. „Ich musste einfach raus, versuchen, den Kopf frei zu kriegen. Denn ich gab mir die Schuld daran, dass ich meine letzte Chance, wieder näher an Dich heranzukommen, mit dem Schlag in Deines Vaters Gesicht verspielt hatte. Das fraß mich auf und ich konnte nichts mehr mit mir anfangen. Doch bevor ich irgendeinen Blödsinn anstellen konnte, habe ich meinen Vorgesetzten gebeten, mich wieder nach Helmand zu entlassen.“

„Und da keiner weiß, was beim letzten Mal tatsächlich passiert ist, hat er Deinem Antrag stattgegeben“, schlussfolgerte Isabel.

„Nein.“

„Nein?“

„Nein. Mein Vorgesetzter hat den Antrag abgelehnt. Er hatte mitbekommen, dass ich in letzter Zeit nicht ganz Ich selbst war und vor irgendetwas davonlief. Ich bin auf anderem Wege nach Afghanistan gekommen.“

„Und der wäre, sofern Du mir dies erzählen möchtest?“

„Ich bin für meinen Vater nach Helmand geflogen, um unsere Truppen dort zu besuchen. Doch statt wieder zurückzufliegen, bin ich schlicht und ergreifend einfach dageblieben. Meine Großmutter, mein Dad sowie auch William und Jane waren mehr als auf hundertachtzig! Aber um der Presse nicht ein neues, gefundenes Fressen zu liefern und damit auch meine Identität im Kunduz nicht zu verraten, hielten sie darüber Stillschweigen.“

„Jane sagte mir, dass Du sogar sechs Wochen wegbleiben wolltest, statt nur drei?!“, erwähnte Isabel.

„Jane ist wirklich ein olles Plappermaul …“, grummelte Harry. „Schlimm nur, dass sie mir gegenüber schweigsamer ist als Dir gegenüber!“ Isabel musste unweigerlich grinsen. Harry schmunzelte ebenfalls. „Ja, Jane hat Recht: Ich wäre dort gerne noch weitere drei Wochen geblieben. Nicht nur, dass ich abgelenkt wurde und eine Aufgabe hatte. Ich konnte mich auch sammeln und wieder klar denken; da wusste ich natürlich noch nicht, was ich heute verpasst hätte, wenn ich länger fortgeblieben wäre …“ Isabel hielt prompt den Atem an. „Aber ich hatte die Rechnung ohne Charles gemacht. Er holte mich nach drei Wochen höchstpersönlich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ab. Das Donnerwetter, das daraufhin hier zu Hause folgte, war gewaltig!“ Isabel atmete erleichtert wieder aus und legte Harry ihre rechte Hand auf seine Wange, welche er sofort mit seiner linken umschloss und zu Ende sprach: „Anschließend stand und stehe ich noch immer unter der Fuchtel meiner Großmutter. Warum sie mir ausgerechnet heute Ausgang gewährte, weiß ich selber nicht so genau?! Aber ich sollte ihr, wie auch meinem Dad, noch einmal nachträglich dafür danken. Denn so habe ich die Gelegenheit bekommen, wieder mit Dir zusammenzukommen … Wäre ich nämlich länger fortgeblieben, hätte ich es bitterlich bereut und ich möchte lieber erst gar nicht daran denken!!!“, gestand Harry und sah Isabel tief in die Augen.

„Und ich möchte zudem Gott dafür danken, dass Du heute in der Disco warst“, flüsterte Isabel und kuschelte sich prompt an ihren Freund, der sie nur zu gerne in seinen Armen willkommen hieß und sich mit ihr wieder nach hinten fallen ließ.

„Es war wohl tatsächlich eine himmlische Fügung …“, stellte Harry in den Raum und hauchte Isabel zärtlich einen Kuss auf die Stirn. Anschließend küsste er sie auf die Nasenspitze, ehe seine Lippen ihre fanden. Sofort legte Isabel ihre Arme um seinen Hals und zog ihn näher an sich heran. Nach einem kurzen Moment der Sinnlichkeit beendete Harry jedoch das liebliche Werben wieder, indem er Isabels Hände aus seinem Nacken löste. Verwirrt schaute Isabel zu Harry auf. „Es wird Zeit, dass Du etwas Schlaf kriegst und ich sollte jetzt auch nach Hause fahren; bevor Elisabeth eine Vermisstenanzeige aufgibt“, erklärte Harry ruhig.

„Bitte bleib, geh nicht!“, bat Isabel und eine leichte Panik machte sich in ihr breit und Tränen wollten ihr in die Augen steigen.

Harry nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste ihr zärtlich auf beide Schläfen. „Pssst! Ganz ruhig: Ich werde jetzt nicht sofort aufspringen und verschwinden. Ich bleibe noch so lange, bis Du eingeschlafen bist; ist das ein Kompromiss?“ Isabel biss sich auf die Unterlippe. Harry musste unweigerlich schmunzeln. „Ich weiß, dass Du es schöner fändest, wenn ich die ganze Nacht bei Dir bleiben würde und ich auch noch hier wäre, wenn Du wieder erwachst. Mir geht es im Grunde ja nicht anders. Aber leider müssen wir dies auf einen anderen Tag verlegen.“

„Versprichst Du mir das?!“

„Versprochen!“

„Und auch keine heimlichen Ausflüge mehr ins Kriegsgebiet???“

„Ja, auch das. Schließlich werde ich im eigenen Land viel mehr gebraucht …“, erwiderte Harry mit einem verliebten Blick in Isabels Antlitz. Isabel schluckte schwer und kämpfte mit ihrem dicken Kloß im Hals. Harry wischte ihr eine einzelne Träne aus dem Augenwinkel und wisperte: „… und ich brauche Dich!“ Zärtlich küsste er daraufhin Isabel aufs Haupt, ehe er sie fest in seine Arme zog und bestimmend von sich gab: „So, und jetzt schlaf!“

Isabel kuschelte sich eng an ihren Freund und fragte: „Und wann werden wir uns wiedersehen?“

„Bald, mein Liebes, bald.“ Harry küsste Isabel abermals aufs Haupt. Isabel seufzte und kuschelte sich gleich noch ein bisschen fester an seine Seite und schloss die Augen. Kurz darauf war sie eingeschlafen. Kein Wunder, denn es war bereits vier Uhr durch.

Eine halbe Stunde später stieg Harry aus ihrem Bett und deckte sie mit ihrer Tagesdecke vorsichtig zu. Zärtlich strich er ihr ihre neuen schulterlangen, brünetten Haare aus dem Gesicht und hauchte ihr noch einen sanften Kuss auf die Schläfe. Isabel regte sich, kuschelte sich dann aber mit einem zufriedenen Lächeln wieder in die Kissen.

„Schlaf gut, Glöckchen, und träum süß“, flüsterte Harry und knipste auf seinem Rückzug die beiden Lampen auf den Sideboards aus. Dabei kam er wieder an Isabels antiker Schreibmaschine und dem beigefarbenen Blatt Papier vorbei. Spontan griff er sich eines, zückte seinen goldenen Stift und schrieb eine kleine Botschaft für Isabel. Das gefaltete Blatt Papier stellte er auf ihren Nachttisch. Mit einem verliebten Blick betrachtete er noch einmal Isabels Gesicht und konnte es irgendwie noch gar nicht ganz begreifen, dass sie jetzt doch wieder zusammen sein sollten. Aber genau so war es und sein Herz machte einen kleinen Satz vor Freude. Mit einem überglücklichen Lächeln verließ er Isabel nun endgültig und machte sich auf den Weg zum im Auto schlummernden Martin.

Als Isabel am nächsten Morgen erwachte, war sie sich nicht ganz sicher, ob sie geträumt hatte oder ob Harry tatsächlich vergangene Nacht bei ihr gewesen war. Sie sah sich in ihrem Zimmer um und sogleich fiel ihr Blick auf das aufgestellte Blatt Papier auf ihrem Nachttisch, mit ihrem Namen darauf. Es trug Harrys Handschrift. Sofort bekam Isabel Schmetterlinge im Bauch. Mit Herzklopfen griff sie nach dem Papier und faltete es auseinander:

Guten Morgen, Kätzchen.

Na, gut geschlafen?

Nein, dies ist kein Traum, es ist wahr: Ich liebe Dich und danke ebenfalls Gott dafür, dass wir gestern Abend wieder zueinandergefunden haben. Ich bin überglücklich und hoffe, dass Du es auch bald wieder sein wirst …

 

Übrigens, was ich Dir gestern noch sagen wollte: Mir gefällt Deine neue Frisur, auch wenn sie etwas gewöhnungsbedürftig ist. Aber ich finde, sie macht Dich weiblicher, weicher, wenn auch etwas zerbrechlicher – was sogleich Beschützerinstinkte in mir wachruft!

Was ich demnach nicht gutheißen kann und was ich Dir auch bereits gesagt habe, ist Dein restliches Aussehen:

Isabel, bitte iss wieder einen Happen mehr – ich möchte Dich nicht auch noch verlieren! Das würde ich nicht verkraften, dafür liebe ich Dich viel zu sehr!!!

Also dann, ich wünsche Dir noch einen schönen Sonntag, und bitte bestelle Deiner Mum einen lieben Gruß von mir. Ich wette, sie sieht Dir gleich an der Nasenspitze an, dass irgendetwas anders ist als die letzten zwei Monate.

Vielleicht solltest Du ihr auch einmal sagen, was vorgefallen ist; wenn Du möchtest, begleite ich Dich bei diesem schweren Gang …

Bell, ich bin für Dich da; wann immer Du mich brauchst!

Tausend Küsse!

In Liebe, Dein Harry.

Kapitel 2

„Mum. Mum, hast Du gerade Zeit? Ich, oder besser gesagt wir würden gerne einmal mit Dir reden“, offenbarte Isabel eines Nachmittags Anfang Dezember ihrer Mutter. Sie stand mit Harry in der Tür zur Wohnstube, in welcher Lindsay Canningham gerade an einer Spitzenstickerei arbeitete.

„Natürlich habe ich Zeit. Für Dich, mein Kind; Verzeihung, für Euch habe ich immer Zeit!“, sagte Lindsay mit einem aufgeregten Lächeln und fuhr zur Couchgarnitur herüber. Mit einer Handbewegung bat sie Isabel und Harry, sich zu setzen. Erwartungsvoll und mit leuchtenden Augen blickte Lindsay zu ihrer Tochter herüber.

Unsicher blickte Isabel zu Harry auf. Er hielt ihre rechte Hand und bestätigte ihr mit einem Nicken, dass er ihr beistand. Ganz automatisch strich er mit dem Daumen beruhigend über ihren Handrücken. Isabel schloss noch einmal die Augen und atmete tief durch. „Mum …“

„Lass mich raten, Du bist schwanger!“, kam Lindsay Isabel zu Hilfe.

Sogleich wich jegliche Farbe aus Isabels Gesicht und sie musste mit den Tränen kämpfen. Harry räusperte sich und schüttelte den Kopf. Anschließend folgte betretene Stille.

Nach einer Weile sagte Isabel mit brüchiger Stimme: „Mum, Du lagst mit Deiner Vermutung aber nicht ganz falsch. Jedoch ich bin es nicht mehr. Ich habe das Kind – Harrys Kind – verloren …“

„Oh, Darling! Das tut mir so leid!“, kam es mitleidvoll von Lindsay, die sogleich zu Isabel herüberkam, um ihre Tochter in die Arme zu nehmen. Unweigerlich begann Isabel in den Armen ihrer Mutter zu weinen. „Psssst, Sternchen, weine nicht. Alles wird wieder gut. Ich bin für Dich da; wir sind für Dich da! Warum bist Du denn nicht einfach schon viel früher zu mir gekommen?“ Isabel stutzte und sah verwirrt zu ihrer Mutter auf, die ihr sogleich die Tränen aus dem Gesicht wischte. Nichtsdestotrotz musste Lindsay anfangen zu lächeln und antwortete auf die still gestellte Frage ihrer Tochter: „Isabel, ich bin nicht dumm und vor allem bin ich nicht blind! Meinst Du, ich habe Deine allmorgendliche Übelkeit nicht bemerkt? Deshalb habe ich auch nicht verstanden, warum Du Dich auf einmal so merkwürdig benommen hast und Dich plötzlich für jeden und auch vor jedem verschlossen hast. Ich bin davon ausgegangen, dass – verzeihen Sie, Euer Hoheit – das englische Königshaus etwas gegen diese Schwangerschaft hätte; weshalb es ja auch zum Bruch Eurer Beziehung kam … Dass der Grund ein anderer ist, konnte ich ja nicht ahnen!“

„Oh, Mum, es tut so schrecklich weh!“, japste Isabel, abermals um ihre Selbstbeherrschung ringend.

„Ich weiß. Ich kenne dieses Gefühl nur zu gut“, war Lindsays schlichte Antwort darauf, bevor sie sich abwandte und räusperte.

Isabel sah fragend zu Harry herüber, der sie sogleich wieder beschützend in seinen Arm nahm. Er konnte jedoch nur mit den Schultern zucken, da auch er nicht wusste, was Lindsay mit ihrer letzten Äußerung gemeint hatte. Beide schauten zu Lindsay herüber, die gerade in einer Schublade in der alten, braunen Schrankwand wühlte. Nachdem sie gefunden hatte, wonach sie suchte, kam sie wieder zurückgefahren und schob über den Couchtisch eine alte Schwarzweiß-Photographie zu Isabel und Harry herüber. Isabel nahm das Bild auf und blickte auf ein Grab, auf dem ein kleiner weißer Teddy an ein wunderschön verziertes Holzkreuz angelehnt saß. Davor lagen fünf dunkle Rosen. Fragend sah Isabel ihrer Mutter ins Gesicht. „Das ist das Grab von Alice; Alice Standfort. Deine Schwester“, gab Lindsay schlicht bekannt.

Isabel stand sogleich der Mund weit offen. Harry räusperte sich und sagte: „Vielleicht ist es besser, wenn ich jetzt gehe?!“

„Nein, Du bleibst! Ich bin der Ansicht, dass auch Du ein wenig mehr über unsere Familiengeschichte erfahren solltest. Es wird zudem, glaube ich, Euch beiden helfen, mit dem Verlust besser klarzukommen“, erklärte Lindsay sachlich. Erwartungsvoll blickten nun Isabel und Harry zu Lindsay herüber.

„Alice sollte im Spätsommer 1981 auf die Welt kommen. Doch wie ihr sicherlich schon erahnen könnt, kam es nicht dazu. Ja, Isabel, auch ich habe ein Kind verloren. Allerdings zu einem späteren Zeitpunkt als Du. Ich war bereits im sechsten Monat schwanger!“, erzählte Lindsay ruhig und gefasst.

„Oh mein Gott!“, rief Isabel entsetzt aus.

„Sprich bitte nie Deinen Vater darauf an!“, erwähnte Lindsay sogleich. „Ich glaube, er würde dann durchdrehen! Du musst nämlich wissen, dass wir zu diesem Zeitpunkt noch in Yarmouth lebten. Dein Vater hatte es dort nicht leicht, weil die Bürger des kleinen Hafenstädtchens der Meinung waren, dass seine Mutter eine Hexe sei.“

„Ja, ich weiß. Als wir auf der Isle of Wight waren, hat uns ein Pfarrer die Geschichte erzählt“, sagte Isabel.

„Bestimmt Pater Pilgrim?! Hat er Euch auch die komplette Geschichte; also auch die Gründe für unseren Umzug nach London erzählt?“, fragte Lindsay.

Harry schüttelte den Kopf. „Er sagte lediglich, dass es wohl zu einem Unglück kam?!“

Lindsay lachte bitter auf. „Es war der 12. März, ich kam gerade von einer Freundin wieder und lief die Hafenpromenade zu uns nach Hause. Als ich plötzlich mehrere Männerstimmen vernahm. Da es schon schummrig war, ging ich schneller. Doch die Männerstimmen kamen immer näher, bis ich mich plötzlich umringt von acht Männern wiederfand. Sie waren allesamt dunkel gekleidet, trotzdem erkannte ich jeden von ihnen. Es waren Arbeitskollegen Deines Vaters, ehemalige Schüler aus seinem Jahrgang, die ihn all die Jahre schikaniert hatten. Ihn allerdings nie kleingekriegt haben! Und es passte ihnen so gar nicht, dass ich nicht nur zu Deinem Vater hielt, sondern ihn auch noch unterstützte, wenn nicht sogar verteidigte. Doch was sie am meisten aufregte, war, dass wir seit mehr als zwei Jahren in wilder Ehe unter ihnen lebten und ich nunmehr auch noch unehelich von ihm schwanger war. Sie wollten weder Keith noch mich im Ort haben und noch weniger wollten sie, dass ich die ‚Brut‘, wie sie es nannten, in ihrer ehrbaren Stadt austrug!“

Lindsay machte eine kurze Pause.

„Erst pöbelten und schubsten sie mich nur etwas herum. Einfach, weil es ihnen Spaß machte und sie hofften, mich damit einzuschüchtern. Doch als ich mich stattdessen versuchte zu wehren, wurden sie rabiater und fingen an, mich zu schlagen und zu boxen“, erzählte Lindsay mit traurigem Blick, so als würde sie all das noch einmal bildlich vor sich sehen. Isabel und Harry sogen gleichzeitig heftig die Luft ein; sie dachten an das Gleiche. Lindsay nickte nur traurig und ihr liefen Tränen über die Wangen. Sogleich sprang Isabel auf und kniete vor ihrer Mutter nieder und umfasste ihre Hüfte. Ihr Kopf ruhte auf ihren Beinen. Zärtlich strich Lindsay Isabel übers Haar. „Ihr habt richtig geraten, sie trafen dabei auch meinen Bauch und das nicht nur einmal. Es kam zu Blutungen und ich verlor das Leben in meinem Bauch.“

„Das tut mir sehr leid“, kam es mit brüchiger Stimme von Harry.

Lindsay nickte dankend. Anschließend berichtete sie unbeirrt weiter: „Falls Du Dich fragst, mein Kind, wo Dein Vater zu dieser Zeit war und mich nicht unterstützte und verteidigte: Er war noch auf See und fand mich erst mehrere Stunden später bewusstlos und zusammengekrümmt auf der regennassen Hafenpromenade. Er fuhr mit mir direkt ins nächstgelegene Krankenhaus. Doch alle Hilfe für das Baby kam zu spät. In einer Not-OP holten sie den toten Fötus und retteten mir damit das Leben; ich wäre nämlich sonst verblutet.“

„Oh mein Gott!“, rief Harry heftig aus.

„Oh Mummy! Sag sowas nicht; Du machst mir Angst!“, japste Isabel.

Beruhigend strich Lindsay weiter über den Kopf ihrer Tochter. „Ich lebe ja noch. Und auch wenn Dein Vater kein Kind mehr haben wollte, kamst Du, mein Engel, vier Jahre später gesund und munter auf die Welt …“, beendete Lindsay ihre Erzählung mit einem Lächeln.

Es herrschte betretenes Schweigen.

Isabel war die Erste, die sich wagte wieder etwas zu sagen. Sie sah vom Schoß ihrer Mutter auf und fragte: „Aber warum hast Du mir nie davon erzählt?“

„Weil Du doch an der Tragödie, die so viele Jahre zurückliegt, eh nichts hättest ändern können! Zudem, warum sollte ich Dir Deine so glückliche Kindheit und Deine noch vor Dir liegende, vielversprechende Zukunft mit einem solchen Bericht zerstören?“, warf Lindsay in den Raum. „Es hat doch schon genügt, dass Dein Vater uns nach meinem Unfall das Leben jahrelang schwergemacht hat. Sicherlich wirst Du nun aber auch verstehen, warum Papa keine Widerreden duldet und nur schwer loslassen kann?!“

„Weil er Angst davor hat, mich auch noch zu verlieren …“, kam es Isabel prompt in den Sinn.

Lindsay nickte. „Das wäre das Schlimmste für ihn!“

„Die Frage ist jetzt vielleicht etwas unangebracht, aber kann es sein, dass Ihr Mann nur deshalb uns Royals hasst, weil er vielleicht meiner Familie die Schuld an seinem erlittenen Schmerz gibt?!“, schoss es Harry spontan durch den Kopf.

Isabel sah erschrocken auf. Lindsay schickte Isabel sogleich mit einer Handbewegung wieder zu Harry herüber und antwortete: „Was genau der Grund dafür ist, warum mein Mann eine Abneigung gegen das englische Königshaus hat, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur so viel, dass dies irgendetwas mit Isabels Geburt zu tun haben muss … Ich habe schon des Öfteren versucht herauszubekommen, was ihn so aggressiv gegen die Krone macht; vor allem in letzter Zeit, weil ich mir vom Herzen gewünscht habe, dass Isabel mit Dir, Harry, glücklich werden würde. Aber es ist partout nicht aus ihm herauszubekommen … Mir graut schon jetzt vor dem Tag, an dem er von Eurer Liaison erfährt! Aber darüber braucht ihr Euch nicht den Kopf zu zerbrechen. Das werde ich dann mit ihm allein ausmachen; wie schon so vieles im Leben.“

„Was meinst Du damit, Mama?“, hakte Isabel nach.

„Als ich damals Alice und auch beinahe mein Leben verloren habe, wollte Dein Vater nur eines: Rache nehmen!“, begann Lindsay zu erzählen.

„Er wollte aber niemanden umbringen, oder?“, fragte Isabel vorsichtig nach, die auf einmal ein ganz komisches Gefühl in der Bauchgegend hatte.

„Das vielleicht nicht gerade, aber die acht Männer wären auf jeden Fall ihres Lebens nicht mehr froh geworden und würden sich stattdessen jeden Tag schmerzlich daran erinnern, was sie ihm all die Jahre angetan haben …“, erklärte Lindsay weiter. „Es genügten jedoch die einfachen Worte: Wenn Du jetzt gehst, dann verlasse ich Dich und das für immer! Isabel, Du musst wissen, dass Dein Vater mich über alles liebt und ich ihn; auch wenn er es einem nicht immer einfach macht!!! Aber es war Liebe auf den ersten Blick und so etwas erlebt man nur einmal im Leben! Ich habe ihm gezeigt, was es heißt, nicht der Fußabtreter für andere zu sein, sondern sich dem in den Weg zu stellen und sein eigenes Ding durchzuziehen. Er lernte durch mich ein gänzlich anderes Leben kennen und vor allem, er selbst zu sein! Leider kam es dabei auch zum Bruch mit seinem Vater, der es ihm nicht verzeihen konnte, dass er sich gegen ihn gestellt hatte.“

Fragend sah Isabel zu ihrer Mutter herüber.

Lindsay erzählte weiter: „Dein Großvater wollte immer, dass Dein Dad in seine Fußstapfen trat und Schreinermeister wurde. Doch Keith liebte es, allein auf See zu sein und so wurde er Fischer. Viel Berufsauswahl gab es in dem kleinen Ort sowieso nicht. Aber dass Dein Vater ausgerechnet den Beruf aller wählte, traf Deinen Großvater zutiefst. Adam gab mir die Schuld daran, seinem einzigen Sohn diese Flause in den Kopf gesetzt zu haben. Dabei hatte ich Keith noch darin bestärkt, diesen so unverwechselbaren Beruf seines Vaters zu erlernen. Adam glaubte mir dies natürlich nicht und betitelte mich daher gerne als ‚Blondes Gift aus der Großstadt‘. Dass es da immer wieder zu Streitigkeiten zwischen Vater und Sohn kam, ist nur verständlich. Sehr zum Leid Deiner geliebten Nanny. Doch auch sie war gebunden und da sie Deinen Großvater ebenfalls über alles liebte, hielt sie sich aus den Streitigkeiten heraus und ertrug sie stillschweigend. Deine Großmutter war sowieso eine großartige Frau: Sie liebte mich wie eine eigene Tochter. Du weißt, dass meine Mum viel zu früh an Krebs starb. Cassandra war wie eine Mutter für mich, weshalb auch ich sie immer nur ‚Mum‘ genannt habe. Sie war das Bindeglied zwischen der ganzen Zwietracht, die im Ort gegen die Beziehung von Keith und mir gesät wurde. Sie bestärkte uns in unserem Tun und Handeln und in unserer Liebe. Sie war es auch, die nach Alices Tod alles daransetzte, dass niemand im Ort erfuhr, wohin Dein Dad und ich eines Nachts entschwunden sind.“

 

„Als wir in Yarmouth waren, meinte Pater Pilgrim, dass es zwischen Ihrem Mann und seinem Vater eines Tages zu einem riesigen Streit kam – noch vor dem tragischen Unglück – und sie seither kein Wort mehr miteinander gesprochen haben. Darf man erfahren, was der Grund dafür war oder war wirklich nur die Berufswahl der Auslöser?“, fragte Harry interessiert nach.

Lindsay lächelte sanft. „Nein. Es kam zum endgültigen Bruch zwischen Vater und Sohn, als Keith seinem Dad stolz kundtun wollte, dass er Großvater werden würde.“ Überrascht sahen sich Harry und Isabel an. Lindsay musste unweigerlich kichern. „Ja, wenn man das hört, könnte man meinen, man sei in einem falschen Film. Aber wie schon gesagt, war Adam nicht gerade begeistert von der Beziehung zwischen seinem Sohn und mir. Nur wegen Cassandra, Isabels Großmutter, duldete er unsere Liaison.“

„Der Priester sagte auch, dass ihr nicht auf der Beerdigung von Großvater wart“, erwähnte Isabel.

„Das ist richtig. Aber das hat weniger mit dem damaligen Streit als vielmehr mit dem Schwur zu tun, dass wir nach Alices Tod nie wieder einen Fuß an diesen Ort an der Küste setzen würden. Und Deine Großmutter hielt es auch nur noch bis zwei Stunden nach der Beerdigung von Adam dort aus. In diesen zwei Stunden lief sie durch die Stadt und prophezeite jedem, dass Du eines Tages kommen würdest und dann …“

Auf alle drei Gesichter trat ganz automatisch ein breites Grinsen.

„Wenigstens eine kleine Genugtuung“, kam es Isabel in den Sinn. „Hätte ich jedoch gewusst, was Euch in Nannys und Dads Heimat widerfahren ist …“

„Hättest Du nicht einen einzigen Schritt in diese Stadt getan“, beendete Harry Isabels angefangenen Satz.

Lindsay bestätigte die Schlussfolgerung mit einem Nicken. „Ja. Aber ich wollte, dass Du wenigstens einmal an den Ort gehst, in dem Dein Vater und Deine Großmutter wie auch Dein Großvater gelebt haben. Denn die Gegend dort ist eigentlich eine sehr schöne und die meisten Einheimischen von damals haben zwischenzeitlich ja auch schon das Zeitliche gesegnet oder sind selbst von dort weggezogen. Im Grunde ist die ‚Canningham-Tragödie‘ nur noch eine überlieferte Geschichte. Viele wissen nicht einmal, wann sich das Unglück überhaupt tatsächlich zugetragen hat. Einige meinen sogar, dass sie bereits aus dem 18. Jahrhundert stammt …“, offenbarte Lindsay mit leichtem Amüsement. Isabel glaubte, sich verhört zu haben und so schaute sie auch.

„Aber irgendwie sind wir gänzlich vom eigentlichen Thema abgekommen“, stellte Lindsay auf einmal mit einem nunmehr wieder traurigen Gesicht fest. Harry atmete tief durch und sah fragend zu Isabel. Er war sich nicht sicher, ob für Isabel die ganzen Informationen nicht ein wenig zu viel wurden. Doch Isabel drückte nur seine Hand und gab ihm einen Kuss auf die Wange, ehe sie wieder aufmerksam zu ihrer Mutter schaute.

Auch Lindsay atmete noch einmal tief durch und begann von Neuem zu erzählen: „Nachdem ich wieder einigermaßen körperlich genesen war, beerdigten wir Alice am 8. April 1981, einem Mittwoch, auf dem Highgate Cemetery. Pater Pilgrim war extra aus Yarmouth gekommen, um Alice beizusetzen. Nur er, Cassandra, Dein Vater und ich standen um das kleine Grab herum. Adam fehlte, aus Rücksicht auf Deinen Vater; aber er hatte das Holzkreuz geschreinert. Die Rede vom Pfarrer war sehr würdevoll und zum Abschluss sangen wir Alice ein Schlaflied. Just in dem Moment begann es zu schneien.“

Überrascht schauten Harry und Isabel zu Lindsay herüber.

„Ja, ich weiß, das ist, glaube ich, so gut wie noch nie in England vorgekommen. Es waren auch nur wenige, vereinzelte, kleine weiße Flöckchen. Sie fielen ganz sachte und langsam zu Boden. Cassandra meinte immer, dass Alice uns einen letzten Gruß damit überbringen wollte.“ Harry und Isabel bekamen sogleich eine Gänsehaut und drückten sich gegenseitig fest die Hand. „Anschließend setzte ich den Teddy auf das Grab. Es war mein eigener Teddy, den ich einmal von meiner Mutter bekommen hatte. Es sollte ihr kleiner Freund sein, der sie auf ihrer Reise in eine bessere Welt begleitete“, sagte Lindsay leise. Unweigerlich stiegen Isabel erneut die Tränen in die Augen und sie schluckte schwer. „Du musst nicht weinen. Denn dort, wo Alice jetzt ist, geht es ihr besser. Und ich denke, dass sie jetzt gerade in diesem Moment mit ihren Großeltern auf einer großen Wolke sitzt und in Gedanken bei uns ist“, versuchte Lindsay ihre Tochter zu trösten.

Isabel konnte trotzdem ihre Tränen nicht mehr zurückhalten und fragte: „Mum, wie kannst Du so ruhig dasitzen und sogar lächeln, wo mir nur noch zum Heulen zumute ist?!“

„Kind, das liegt daran, dass ich nicht an das traurige Erlebnis, was mir zuteilwurde, denke, sondern mir viel lieber vorstelle, wie gut es Alice jetzt hat! Ich weiß, dieser Rat ist nach so kurzer Zeit für Dich noch nicht umsetzbar. Aber für die Zukunft hilft er Dir sicherlich. Mir hat damals Cassandra diesen Rat gegeben: Man soll an das Schöne denken und die grauen Wolken hinter sich lassen. Ich habe mich damals zwar nicht eingeschlossen, so wie Du es getan hast. Aber ich habe auch stundenlang nur dagesessen und habe um meine kleine Tochter geweint. Vor allem, weil Dein Vater keine wirklich große Stütze war. Nachdem er der Küste den Rücken gekehrt hatte, fand er nach recht kurzer Zeit seine Berufung als Fernfahrer: Dort konnte er ebenfalls stundenlang allein unterwegs sein. Zwar nicht auf dem Wasser, aber auf kilometerlangen Asphaltstraßen. Er und sein Truck!“

„Das heißt, Du warst die ganze Zeit allein?!“, hakte Isabel entsetzt nach.

Lindsay seufzte. „Ja, so ist es. Dein Vater war auch seit der Beerdigung nicht mehr auf dem Friedhof. Und ich muss gestehen, ich auch schon eine ganze Weile nicht mehr; was seit meiner Querschnittslähmung sowieso etwas schwieriger geworden ist.“

„Da ließe sich sicherlich etwas machen …“, gab Harry spontan bekannt.

„Danke, das ist sehr liebenswürdig von Dir. Ich werde ganz bestimmt einmal darauf zurückkommen“, erwiderte Lindsay mit einem Lächeln.

„Darf ich mitkommen?“, fragte Isabel sogleich.

„Aber natürlich, mein Kind!“

„Was haltet ihr von nächsten Sonntag?“, warf Harry erneut spontan ein. Sogleich lächelten ihn Lindsay und Isabel an. „Also, abgemacht, nächsten Sonntag besuchen wir Alice.“

Isabel hauchte ihrem Freund daraufhin einen dicken Kuss auf die Wange und wisperte: „Danke.“ Anschließend wandte sie sich wieder ihrer Mutter zu: „Mummy? Du hast gesagt, dass Du die ganze Zeit allein warst. Einmal davon abgesehen, dass Du an was Schönes gedacht hast, der Schmerz war doch aber trotzdem da: Wie hast Du es geschafft, die Trauer zu überwinden?“