Harry in love

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Isabel war sogleich hocherfreut und nahm den Stift dankend an, ohne selbst einmal zu dem Herrn hinter sich aufzusehen. „Na, das nenne ich doch mal einen Stift! Hier, Toni, so etwas Edles solltest Du Dir einmal zulegen, dann klappt es auch mit der Handynummer!“, scherzte Isabel weiter und reichte Toni den Stift und dem Herrn hinter sich den Zettel. Beide Männer stutzten. Isabel lachte prompt wieder herzlich auf, als ihr der Irrtum auffiel. „Verzeihung, natürlich anders herum!“, rief sie mit einem breiten Lächeln auf den Lippen und legte ihre Arme über Kreuz. Sie überreichte somit nunmehr Toni den Zettel mit ihrer Handynummer darauf und gab dem aufmerksamen Herrn seinen Stift zurück. Dabei sah sie ihn nur flüchtig für den Bruchteil einer Sekunde an. Anschließend sagte sie zu Toni: „So, ich werde dann mal noch etwas tanzen gehen. Wir hören uns.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und wollte die zwei Stufen wieder hinunter zur Tanzfläche gehen, als sie abrupt stehen blieb. Harry wusste sofort, dass ihr soeben bewusstwurde, wem sie da gerade den Stift zurückgegeben hatte. Prompt trafen sich ihre Blicke. Isabel zog scharf die Luft ein. In ihrem Kopf schrie alles nach Flucht, doch ihre Beine bewegten sich nicht einen Millimeter von der Stelle. Sie starrte nur unentwegt Harry an. Und er tat nichts anderes.

Es schien eine halbe Ewigkeit vergangen zu sein, auch wenn es in Wirklichkeit nur wenige Sekunden gewesen waren, bis Harry den Abstand zwischen ihnen verringerte. Isabel riss sogleich entsetzt Mund und Augen auf. Harry blieb sofort wieder stehen. Unsicher sah er zu Isabel herüber. Doch weder sagte sie etwas, noch bewegte sie sich zu ihm hin oder von ihm fort. Stattdessen sah sie ihn weiterhin einfach nur entgeistert an. Harry atmete tief durch und wagte den nächsten Schritt, indem er sie einfach ansprach: „Hallo Isabel. Wie geht es Dir?“ Isabel löste für einen Moment den Blick von Harry, sah ihn dann aber unweigerlich wieder von Neuem an. „Du hast eine neue Frisur. Gefällt mir, auch wenn ich Dich damit kaum wiedererkannt habe“, redete Harry einfach drauf los. Doch Isabel schwieg noch immer und biss sich stattdessen nervös auf die Unterlippe, um sich anschließend mit der Zunge über die trocken gewordenen Lippen zu streichen. Harry bekam prompt elektrisierende Schmetterlinge im Bauch. Wie sehr er doch Isabel noch immer begehrte! Er atmete tief durch, um seine heftigen Gefühle wieder in den Griff zu bekommen. Isabel schien zu spüren, was mit Harry los war und wandte sich auf einmal, ohne ein Wort zu sagen, von ihm ab. „Isabel!“, rief Harry und griff nach ihrem linken Oberarm.

Isabel hielt sofort inne. „Bitte … Lass mich los!“, bat sie.

„Nicht, bevor Du mir meine Frage beantwortet hast!“, flüsterte Harry an ihr linkes Ohr. Er stand direkt hinter ihr und konnte ihren wunderbaren Duft wahrnehmen. Wie gerne hätte er sie jetzt in die Arme geschlossen und leidenschaftlich geküsst! Doch gleichzeitig erschrak er, denn Isabel war im Grunde nichts anderes mehr als Knochen und Haut. Er hatte sogar Bedenken, ob seine doch recht vorsichtige Berührung ihr nicht schon wehtat. Prompt ließ er sie los. Doch zu seiner Überraschung blieb sie stehen und ergriff nicht sofort die Flucht, was er erwartet hatte.

„Mir geht es gut“, kam es unberührt von Isabel.

„Wirklich?“, warf Harry sogleich ein. Doch Isabel reagierte nicht weiter darauf und lief einfach zu Anabel herüber, die natürlich das Aufeinandertreffen, genauso wie Jane und William, mitverfolgt hatte.

„Annie, ich weiß, ich verlange viel von Dir, vor allem an Deinem Geburtstag. Aber können wir vielleicht gehen?“, wandte sich Isabel hoffnungsvoll an ihre beste Freundin.

„Nein, wir bleiben!“, kam es kurz angebunden von Anabel.

„Aber …“, wollte Isabel protestieren.

„Nichts aber, wir bleiben und zwar jetzt erst recht!!! Ignorier ihn einfach, schließlich seid ihr doch nicht mehr zusammen …“, entgegnete Anabel simpel. Isabel seufzte und setzte sich mit hängenden Schultern neben ihre Freundin auf die Couch in der Sitzecke.

Harry lief mit ebenfalls hängenden Schultern zu William und Jane an die Bar herüber.

„Was jetzt?“, fragte auch sogleich William seinen Bruder.

Harry zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eines: Ich brauche jetzt erst einmal ein Bier! Andi?“

„Kommt sofort!“, erwiderte Andi, der Barkeeper, und reichte Harry das gewünschte Bier. Harry trank es mit einem Mal bis zur Hälfte aus.

„Aber nicht, dass Du Dich jetzt betrinkst?!“, warnte Jane.

„Und wenn, kannst Du auch nichts dagegen machen!“

„Harry, bitte nicht! Komm, lass uns nach Hause fahren …“, bat Jane. William stand sofort auf.

„Nein!“, kam es todernst von Harry. „Ihr könnt ja fahren, aber ich bleibe!“ Seufzend nahm William wieder auf seinem Barhocker Platz, während Harry die Bierflasche nun gänzlich leerte und sich gleich noch eines bestellte. Andi kam dem nur widerwillig nach und sah hilfesuchend zu Jane und William herüber.

Jane legte Harry eindringlich ihre Hand auf den Oberarm. „Harry, was hast Du davon, wenn Du Dich jetzt volllaufen lässt; außer einem gewaltigen Brummschädel am nächsten Tag? Quäl Dich doch nicht selbst noch so! Komm, bitte lass uns gehen …“

„Nein!!!“, erwiderte Harry und schob Janes Hand grob von seinem Arm und sah seine Schwägerin dabei warnend an. Sie sollte ihn gefälligst in Ruhe lassen! Jane schluckte und blickte bittend zu ihrem Mann herüber. Doch er schüttelte nur den Kopf.

Jane sah ihn verständnislos an. William seufzte und ging zu seiner Frau herüber, nahm sie in den Arm und sagte leise: „Lass ihn, wenn er sich jetzt betrinken möchte, dann soll er es tun. Was nicht heißen soll, dass ich es gutheiße! Aber wenn es nun einmal seine Art ist, den Schmerz zu bekämpfen, dann soll ihm dieses Recht auch zustehen. Außerdem sind wir doch bei ihm und haben ein wachsames Auge auf ihn. Nach dem übernächsten Bier verfrachte ich ihn zudem höchstpersönlich in die Limousine. Also gib ihm die Genugtuung, es wenigstens versucht zu haben.“

„Was versucht zu haben, mit Isabel zu sprechen?“

„Nein, sich zu betrinken …“

Nun war es Jane, die seufzte und wehmütig zu Harry sah, der gerade die leere Flasche Bier abstellte und dann aufstand. Irritiert sahen William und Jane ihm hinterher. Harry steuerte geradewegs auf Isabel zu, die noch immer trübsinnig dreinblickend neben Anabel auf der Couch saß. Anabel erschrak, als sie Harry vor sich stehen sah. Isabel folgte ihrem Blick und schnappte hörbar nach Luft.

„Darf ich um den nächsten Tanz bitten?“, fragte Harry allen Ernstes.

Isabel glaubte, sich verhört zu haben und so antwortete sie patzig: „Und was ist, wenn ich ‚Nein‘ sage?“

„Dann werde ich mir Dich jetzt einfach greifen; auch ohne Deine Einwilligung!“, kam es provozierend von Harry und das feurige Funkeln in seinen Augen verriet Isabel, dass Harry es wirklich auch so meinte. Erneut fiel Isabel die Kinnlade herunter. Hilfesuchend schaute sie zu ihrer Freundin. Anabel sah jedoch genauso hilflos drein und hob die Schultern.

„Tu ihm doch einfach den Gefallen. Vielleicht lässt er Dich ja dann anschließend wieder in Ruhe?“, schoss es Anabel daraufhin durch den Kopf. Isabel biss sich unschlüssig auf die Unterlippe.

„Ich frage Dich noch einmal: Gewährst Du mir den nächsten Tanz?“

Isabel schoss die Schamesröte in die Wangen und sie senkte eingeschüchtert den Blick. Überraschenderweise ergriff sie anschließend jedoch Harrys dargereichte Hand und folgte ihm mit auf die Tanzfläche. Beide standen sich gegenüber, als just in diesem Moment die langsame Runde begann.

Isabel begegnete Harry mit einem vernichtenden Blick. Sofort riss er unschuldig die Hände in die Luft. Isabel biss sich abermals auf die Unterlippe. Harry sah ihr an, dass sie mit sich selbst einen inneren Kampf ausfocht. Als sie anschließend wieder zu ihm aufsah, zuckte er nur mit den Schultern und steckte seine Hände provokativ in die Hosentaschen, was so viel hieß wie: Entscheide Du, ob Du bereit bist, mit mir zu solcher Musik zu tanzen … Isabel atmete noch einmal tief durch, ehe sie einen Schritt auf Harry zuging. Sogleich zog Harry seine Hände wieder aus den Hosentaschen.

Isabel legte ihre eiskalte rechte Hand in seine linke weiche und warme Hand, während ihre linke auf seiner rechten Schulter ruhte. Harry bekam sofort gewaltiges Herzklopfen, als er Isabel so nah bei sich spürte. Doch er ließ es sich nicht anmerken und führte sie ruhig über das Parkett. Isabel folgte ihm in fließender Bewegung; versuchte jedoch nicht daran zu denken, von wessen Armen sie gerade gehalten wurde. „Man sagt, wenn eine Frau ihr Äußeres und vor allem ihre Frisur gravierend ändert, liegt eine Trennung zugrunde. Von wem oder was hast Du Dich getrennt?“, kam es plötzlich, für Isabel völlig unerwartet, von Harry. Verwirrt starrte sie ihm ins Gesicht. „Ich meine, normalerweise erfährt doch der andere zuvor davon, oder nicht?!“, half Harry Isabel auf die Sprünge.

„Wolltest Du nicht tanzen?“, zischte Isabel, die es bereits bereute, überhaupt einem Tanz mit Harry zugestimmt zu haben.

„Okay, dann lass uns tanzen!“, rief Harry und zog Isabel fester zu sich heran, so dass sich nunmehr ihre Körper berührten. Prompt erstarrte Isabel und wollte sich von Harry losreißen, doch er hielt sie einfach fest. „Das Lied ist noch nicht zu Ende. Zudem hast Du meine Frage nicht beantwortet“, erwähnte Harry gefährlich ruhig an Isabels Ohr.

Neben einer eisigen Gänsehaut überkamen Isabel auch sogleich Schmetterlinge im Bauch, da sein warmer Atem sanft ihre Wange streifte. Völlig überfordert von den widersprüchlichen Gefühlen in ihrem Körper, erwiderte Isabel bissig: „Du kennst doch die Antwort bereits darauf!“

„Ist es, weil ich Deinem Vater eine verpasst habe? Bell, es tut mir leid! Ich weiß, man hätte dies auch anders klären können, aber in dem Moment habe ich einfach nur Rot gesehen! Wenn Du willst, gehe ich sofort zur Polizei und zeige mich selbst an.“

 

„Bist Du von allen guten Geistern verlassen?!“, rief Isabel heftig aus und riss sich von Harry los und haute ihm einmal protestierend auf die Brust. Entsetzt starrte sie ihn an, während sie berichtete: „Ich konnte gerade so meinen Vater davon abbringen, zur Polizei zu gehen und habe mit Engelszungen auf ihn eingeredet und jetzt kommst Du daher und willst das alles wieder zunichtemachen??? Als ob ich im Moment nicht schon genug durchmachen würde!!!“, japste Isabel.

„Dann lass mich Dir doch helfen, verdammt noch mal!“, warf Harry ein. Isabel stand da und sah Harry einfach nur verständnislos an.

Nervös wanderten ihre dunkelgrünen Augen immer hin und her und zum wiederholten Male fuhr sie sich mit der Zunge nervös über die trockenen Lippen. Hoffnungsvoll erwiderte Harry ihren unschlüssigen Blick, indem er ihr aufrichtig tief in ihre Augen sah.

„Dafür ist es zu spät!“, wisperte Isabel auf einmal und wandte sich dann mit Tränen in den Augen von Harry ab und lief zurück zu Anabel. Doch Anabel saß nicht an ihrem Platz! Stattdessen saß auf der Couch ein sich innig küssendes Pärchen. Isabel stand da und starrte die beiden Liebenden an, unfähig sich von dem Anblick wieder abzuwenden.

Plötzlich tauchte Anabel neben ihr auf und legte ihr einen Arm um die Schulter und fragte: „Wollen wir gehen?“ Isabel nickte nur.

Allerdings kamen sie nicht weit: Sie hatten noch nicht einmal die Hälfte der Tanzfläche überquert, um zur Treppe und dem dahinter befindlichen Ausgang zu kommen, als genau dort Harry auf dem letzten Treppenabsatz stand und ein Mikrophon in der Hand hielt und er sang: Er sang von Liebe, dem Begehen eines Fehlers und der Bitte, diesen doch zu verzeihen, um der Liebe noch eine Chance zu geben. – In Karaoke.

Isabel stand mitten auf der Tanzfläche, neben ihr Anabel und beide schauten sich irritiert an. Auf einmal tauchte Jane neben Isabel auf und sang das nächste Lied. Es war ‚Listen To Your Heart (Before You Tell Him Good Bye)‘. Isabel lief es eiskalt den Rücken herunter. Verwirrt sah sie zu Anabel, welche jedoch nur unschlüssig mit den Schultern zucken konnte. Und dann war es still.

Alle im Dancefloor Drei hatten die besondere Art der Karaokeeinlage mitbekommen und nun waren alle Augenpaare auf Isabel gerichtet. Alle wollten wissen, wie sie reagieren, was sie erwidern würde. Doch dazu brauchte Isabel keine Karaokemaschine. Sie nahm Jane das Mikrophon ab und gab unter Tränen ebenfalls ein Lied von Roxette à cappella zum Besten: ‚It Must Have Been Love (But It’s Over Now)‘!

Nachdem Isabel ihr Lied beendet hatte, herrschte weiterhin Mucksmäuschenstille. Doch diesmal schauten alle zu Harry herüber. Harry nahm niemanden mehr wahr bis auf Isabel. Er sah ihr tief in die Augen und ging langsam auf sie zu. Als er direkt vor ihr zum Stehen kam, nahm er ihr Gesicht in seine Hände und wischte ihr sanft mit den Daumen die Tränen von den Wangen. „Ich liebe Dich, Isabel. Ich werde Dich immer lieben. Aber ich akzeptiere Deine Entscheidung; werde glücklich mit ihr, mehr wünsche ich mir nicht!“, flüsterte Harry kaum hörbar. Anschließend hauchte er ihr zum Abschied, begleitet mit den Worten „Leb wohl“, einen sanften Kuss auf die Stirn und wandte sich zum Gehen.

Er hatte gerade erst den Treppensims wieder erreicht, als Isabel plötzlich laut seinen Namen rief und ihm dann hinterherrannte. Harry drehte sich um und blickte ihr fragend ins Gesicht.

„Und … Und was ist, wenn … wenn meine Entscheidung die falsche ist?!“, wisperte Isabel stockend unter Tränen, als sie vor ihm zum Stehen kam.

Kapitel 1

„Oh Bell!“, japste Harry. Seine Gefühle fuhren in dem Moment regelrecht Achterbahn. Mit einem sehnsuchtsvollen Blick antwortete er auf Isabels Frage: „Dann lass mich Dich glücklich machen oder es zumindest versuchen …!“ Schluchzend warf sie sich prompt an seinen Hals und Harry hielt sie einfach nur fest. Er schloss die Augen und sog ihren lieblichen Duft ein. Er konnte ihren Herzschlag spüren, ihren zerbrechlichen Körper fühlen, der noch immer von ihrem Schluchzen heftig geschüttelt wurde. „Psssst, Liebes, alles ist in Ordnung! Ich bin bei Dir; alles wird wieder gut“, flüsterte Harry an Isabels Ohr, während der gesamte Saal tosenden Applaus gab.

Nach einer Weile nahm Harry langsam wieder den Rest der Umgebung war. Toni hatte erneut eine langsame Runde eingeleitet und den kompletten Saal verdunkelt. Außer dem Funkeln der Discokugel waren nur noch die Bar und der DJ-Bereich in sanftes Licht getaucht. Ebenso die Stufen hinter ihnen. Da alle anderen Gäste bereits wieder tanzten oder sich an der Bar tummelten und ihnen keine Aufmerksamkeit mehr schenkten, fragte sich Harry, wie lange sie wohl schon so dastanden. Isabel weinte jedenfalls nicht mehr und ihr Atem an seinem Hals ging ruhiger.

„Wollen wir gehen?“, fragte er vorsichtig, während er ihr zärtlich über den Rücken strich. Isabel nickte, ohne aufzusehen. Harry suchte daraufhin mit seinen Augen den Saal ab, um William, Jane oder Anabel ausfindig zu machen. Alle drei standen gerade bei Toni, dem DJ. Als William Harrys Blick begegnete, nickte dieser nur und machte eine wegschickende Handbewegung und legte gleichzeitig Anabel einen Arm um die Schulter: Jane und William würden sich um Isabels Freundin kümmern und sie heile nach Hause bringen. Harry erwiderte die Geste ebenfalls mit einem Nicken, das zugleich ein ‚Danke‘ beinhaltete. Anschließend nahm er Isabel bei der Hand und ging mit ihr die Treppe hinauf ins Erdgeschoss, wo bereits Martin auf sie wartete. Rasch stiegen sie ins Auto und schon fuhr Martin los.

Isabel sah durch das Fenster in die Nacht hinaus und schien mit ihren Gedanken völlig woanders zu sein. Harry ließ ihr die Zeit, die sie brauchte, und schwieg. Er war schon überglücklich darüber, dass sie neben ihm im Auto saß und ihre noch immer eiskalte Hand in seiner lag. Harry hatte zwischenzeitlich die Augen geschlossen und lauschte dem leisen Klavierkonzert aus den Lautsprechern. So bemerkte er nicht, dass Isabel nun zu ihm herüberschaute. Erst als sie ihre Finger in seiner Hand bewegte, öffnete er die Augen wieder und sah zu ihr herüber. Eine leichte Schamesröte war ihm auf die Wangen getreten, was ihm sogleich ein schüchternes Lächeln von Isabel einbrachte. Er erwiderte dafür das Lächeln umso breiter.

„Wo fährst Du mit mir hin?“, fragte Isabel vorsichtig, die das Gefühl hatte, als würden sie ziellos durch die Straßen von London ziehen und damit nicht ganz falsch lag.

„Wo immer Du hinmöchtest“, erwiderte Harry.

„Ich würde gerne nach Hause“, bat Isabel. Sofort setzte Martin den Blinker.

Bereits zehn Minuten später waren sie bei Isabels Elternhaus angelangt. Unweit davon fand Martin einen Parkplatz. Er schaltete den Motor ab, stieg aus und ging einige Meter die Straße entlang. Fragend sah Isabel zu Harry.

„Er wahrt nur Diskretion. Außerdem wollte er uns für ein Gespräch allein lassen, denn Du warst die Fahrt über recht still. Magst Du reden oder möchtest Du jetzt lieber in Dein Bett? Wir haben alle Zeit der Welt. Melde Dich, wann immer Dir danach ist, und ich komme dann, wenn Du dies wünscht. Einverstanden?“, fragte Harry.

Zu seiner Überraschung schüttelte Isabel den Kopf. Verwirrt zog Harry die Stirn kraus. Isabel lächelte sanft. „Magst Du mit raufkommen?“, fragte Isabel vorsichtig. Anschließend musste sie jedoch über Harrys völlig entgeistertes Gesicht lachen: Er blickte zu ihr herüber, als hätte er sich gerade verhört oder bildete es sich nur ein, dass sie ihn doch tatsächlich eben allen Ernstes gefragt habe, ob er mit reinkommen wollte.

„Und was ist mit Deinen Eltern?“, fragte er daher einmal sicherheitshalber nach.

Isabel grinste. „Mein Dad ist auf Tour und meine Mum übernachtet heute ausnahmsweise bei einer Freundin, die ihren 50. Geburtstag feiert. Denn ihr war es nichts, nachts um drei heim zu kommen und keiner ist da. Denn eigentlich sollte ich die Nacht ja bei Anabel verbringen; zumindest war es so geplant“, erklärte Isabel und wurde anstandshalber rot.

Auf Harrys Gesicht zeigte sich umgehend ein breites Lächeln. Irritiert davon sah Isabel Harry fragend an.

„Ich glaube, Anabel fühlte sich in Williams und Janes Gegenwart ganz gut aufgehoben und ich verspreche Dir, dass sie von den beiden auch sicher wieder nach Hause gebracht wird“, erklärte Harry daraufhin.

„Danke“, flüsterte Isabel kleinlaut und senkte den Blick.

„Ach Bell“, seufzte Harry und strich ihr sanft über die rosa schimmernde Wange. Isabel sah erneut zu Harry auf und ihre Blicken trafen sich. „Ich komme gerne noch mit rauf; aber nur, wenn es Dir auch wirklich recht ist?! Wir müssen hier heute nichts übers Knie brechen; vor allem nicht um Mitternacht“, erwähnte Harry.

Für Harry völlig unerwartet, küsste Isabel ihn einfach auf den Mund. Somit war die Frage, ob er nicht doch jetzt lieber fahren sollte, geklärt. Harry half Isabel aus dem Wagen und schon war auch Martin wieder zur Stelle. Ein Blick in Harrys Gesicht und Martin wusste, dass er sich auf eine Übernachtung im Wagen einstellen konnte.

In Isabels Zimmer angelangt, war Harry erneut völlig überwältig von den kunstvoll gestalteten Wänden. Da Isabel lediglich die zwei Beistelltischlampen, die auf ihrer Sideboardreihe standen, angeschaltet hatte, wirkten die Efeuranken und die Elfe auf ihrem Seerosenblatt noch lebendiger als das letzte Mal bei voller Beleuchtung.

„Hast Du diese Kunstwerke an die Wand gebracht?“, fragte Harry auch prompt. Isabel nickte. „Du hättest Innenraumgestalter oder Designerin werden sollen!“

Isabel kicherte. „Nein, das wäre nichts für mich: Denn dort hätte ich nicht nur auf Abruf kreative Ideen haben müssen, sondern diese dann auch noch innerhalb eines bestimmten Zeitfensters fertigstellen sollen. Doch für so etwas brauchst Du Zeit und Muße: Ohne die richtige Stimmung kannst Du das Ganze auch gleich seinlassen! Meine Wandbemalung ist auch nicht von heute auf morgen entstanden. Zum Anfang gab es nur die zwei Sprüche auf gelbem Hintergrund. Irgendwann kamen dann die Efeuranken, welche eigentlich nur als Bordüre gedacht waren, hinzu. Aber irgendwie haben sie sich dann verselbstständigt.“

„Sie sind also gewachsen“, scherzte Harry.

Isabel schmunzelte. „So kann man es auch nennen.“

„Und wann hast Du den Engel oder die Elfe gezeichnet?“, fragte Harry interessiert.

„Den Engel habe ich nach dem Tod meiner Großmutter gezeichnet.“

„Du hingst sehr an ihr, nicht wahr?“, unterbrach er Isabel erneut.

Isabel sah nachdenklich zu Boden. „Es gibt Tage, da vermisse ich sie sehr. Wir waren irgendwie seelenverwandt: Ging es dem einen schlecht, wusste es der andere sofort, auch wenn wir kilometerweit voneinander entfernt waren. Seit sie nicht mehr da ist, fühle ich mich manchmal ziemlich einsam, hilflos und klein. Mein Vater trug natürlich auch einiges dazu bei. Tja, und an einem Tag, an dem es mir besonders schlecht ging, da entstand dann das Bild von der Elfe in meinem Kopf. Kurz darauf zierte es auch meine Wand.“

Harry wollte gerade einen Schritt auf Isabel zugehen und sie in die Arme nehmen. Doch die Worte von ihr: „Setz Dich!“, hielten ihn davon ab und so kam er ihrer Aufforderung nach und setzte sich auf die Bettkante ihres Bettes, zu welchem sie gezeigt hatte. Isabel selbst öffnete derweil ihren Kleiderschrank und zog sich ihre graue, wadenlange Häkeljacke, die sie wie eine Art Kleid über ihrer schwarzen Jeans und ihrem weißen Rolli getragen hatte, aus.

Das letzte Mal, als er dieses Outfit an ihr gesehen hatte, trug sie seine Kette mit der Katze …, ging es ihm durch den Kopf. Er schaute nachdenklich zu ihr herüber.

Als sich ihre Blicken trafen, sagte Isabel: „Du kannst Dich ruhig richtig auf das Bett setzen und Dich an der Wand anlehnen. Ich komme gleich wieder.“ Anschließend verließ sie kurz den Raum.

Harry zog die Beine an und wollte sich nunmehr bequem auf ihr breites weiches Bett setzen. Dabei piekte ihn etwas am Gesäß: Ein schmaler gefalteter Zettel, auf den er sich unbeabsichtigt gesetzt hatte. Er nahm das Blatt Papier in die Hände und faltete es, ohne weiter darüber nachzudenken, einfach auseinander und las die darauf festgehaltenen zwei Zeilen:

„Wenn Dein Vater stirbt, verlierst Du Deine Vergangenheit. –

Wenn Dein Kind stirbt, verlierst Du Deine Zukunft.“

Harry bekam sofort eine eisige Gänsehaut, die sich noch verstärkte, als er plötzlich Isabel vor sich stehen sah. Isabel musste unweigerlich hart schlucken und atmete durch den Mund. Harry sah ihr an, dass sie mit den Tränen kämpfte. „Komm her!“, flüsterte er mit brüchiger Stimme und klopfte auf die Decke neben sich. Isabel kam Harrys Wunsch umgehend nach. Er nahm sie in seine Arme und strich ihr zärtlich durchs Haar. Isabel kämpfte noch immer um ihre Selbstbeherrschung. Sie atmete schwer.

 

„Bell, Du musst nicht Stärke beweisen: Wenn Dir zum Heulen zumute ist, dann weine! Es ist doch nur verständlich“, sagte Harry mit sanfter Stimme und schon ließ Isabel ihren Tränen freien Lauf. „Ich bin für Dich da, wann immer Du mich brauchst! Ich hätte schon viel früher für Dich da sein sollen … Aber ich will Dir deswegen keine Vorwürfe machen, ich war ja selbst viel zu feige, mich gegen Deine Bitte aufzubäumen.“

„Du warst nicht feige, Du hast wahre Größe gezeigt. Ich dagegen war einfach nur ignorant! Harry, es tut mir leid, dass ich Dir keine Möglichkeit gegeben habe, mit mir in Kontakt zu treten. Ich weiß von Anabel, dass Du mit der Information genauso überfordert warst wie ich“, erklärte Isabel unter Tränen.

„Psssst, bitte belaste Dich nicht noch mit Selbstvorwürfen! Du hattest Deine Gründe, weshalb Du nichts gesagt hast. Jeder geht mit einem Schicksalsschlag anders um. Und Du bist nun einmal jemand, der alles eher in sich hineinfrisst als sich anderen anzuvertrauen. Aber leider ist dies ziemlich ungesund. Mensch, Isa, darf ich Dich etwas fragen? Wie viel wiegst Du im Moment?“, wagte sich Harry vorsichtig voran. Isabel biss sich auf die Unterlippe und sah betrübt nach unten. Harry hob mit der Hand Isabels Kinn wieder an, so dass sie ihm in die Augen sehen musste. „Kätzchen, ich mache mir arge Sorgen um Deine Gesundheit! Als wir uns das letzte Mal sahen, hattest Du schon drastisch abgenommen, aber jetzt … Isabel, Du musst unbedingt wieder etwas essen!“

„Auch wenn Du es mir nicht glauben magst, aber das tue ich! Nur dass mir meist bereits der dritte Happen im Halse stecken bleibt“, erklärte Isabel kleinlaut. „Mein Körper reagiert leider schnell auf psychische Belastung: Nicht nur, dass ich Dein Kind verloren habe und Du Dich unbedingt mit meinem Vater anlegen musstest; obwohl Du wusstest, dass er Euch Royals nicht leiden kann! Nein, an genau diesem Abend erlitt meine Mutter auch noch einen Herzinfarkt.“

„Oh mein Gott!“, rief Harry entsetzt aus. „Und wie geht es Lindsay jetzt? Ich gehe davon aus, wieder gut, sonst wäre sie wohl kaum auf einer Geburtstagsfeier?!“, überlegte Harry laut.

Isabel nickte. „Ja, es geht ihr wieder gut und sie hat auch, Gott sei Dank, keine bleibenden Schäden erlitten. Sie ist quasi ganz die Alte. Aber all das hier, innerhalb so kurzer Zeit, war einfach zu viel für mich!“

„Und dann noch allein mit einem gewalttätigen Vater unter einem Dach …“, kam es Harry in den Sinn; nur dass er aus Versehen diesen Gedanken ebenfalls laut ausgesprochen hatte. Prompt wurde er knallrot. „Bitte verzeih, so war das nicht gemeint …“

„Doch, genau so war es gemeint! Und Du hast ja damit auch noch nicht einmal Unrecht: Mein Dad war über neun Jahre lang jemand völlig Fremdes für mich. Er versank in Selbstmitleid und fing an zu trinken, wenn er nicht gerade auf Tour war oder einen guten Tag hatte. Aber wenn er getrunken hatte, dann erhob er auch schon mal die Hand gegen meine Mutter oder mich. Aber nicht, dass Du jetzt denkst, dass er zum Schläger wurde und uns grün und blau schlug. Das war nie der Fall! Im Grunde tat es ihm anschließend immer sofort wieder leid und dann trank er noch mehr; leider“, erzählte Isabel offen.

„Du sprichst in der Vergangenheit. Ist es denn jetzt anders?“, fragte Harry aufhorchend nach.

„Ja. Nachdem Lindsay den Herzinfarkt erlitt, muss sich irgendein Schalter bei ihm umgelegt haben: Eines Abends saß er in der Küche und war wie ausgewechselt; so wie vor dem Motoradunfall meiner Mutter vor zehn Jahren. Erst bin ich dem ja skeptisch entgegengetreten. Aber bis heute hat er kein Glas Alkohol mehr angerührt; nicht einmal sein Feierabendbier trinkt er mehr. Und er kümmert sich rührend um meine Mum und auch um mich. Vor allem lässt er mir jetzt mehr Freiraum und ich stehe nicht mehr ganz so unter seinem Kontrollzwang.“

„Das freut mich zu hören. Hast Du deswegen Deine Haare wachsen lassen und sie braun gefärbt?“, fragte Harry.

Isabel musste schmunzeln. „Nein, das hatte ursprünglich einen anderen Grund: Alexander, Anabels Bruder …“

„Alexander, ist das der junge Mann, der heute mit Dir Gitarre gespielt hat?“, unterbrach Harry Isabel wieder einmal.

Sie nickte und erzählte weiter: „Alex hat eine Band, die Bax’ Toys, und Anabel ist die Sängerin. Vor kurzem fand ein Band-Wettbewerb statt und Alex’ Band hatte dazu eine Teilnahmebestätigung. Allerdings lag zu diesem Zeitpunkt Anabel mit einer Bronchitis, die sich anschließend zu einer Lungenentzündung verschlimmerte, im Bett. Ich bot mich an, Anabel zu vertreten. Damit dies jedoch nach außen hin nicht auffiel, ließ ich mir meine bereits stark gewachsenen Haare noch etwas länger wachsen. So sah ich Anabel noch ähnlicher“, erklärte Isabel gänzlich ruhig.

„Und da Anabel braune Haare hat, hast Du Dir dann Deine Haare umgefärbt, verstehe“, schlussfolgerte Harry.

„Das ist nur eine Intensivtönung; die wäscht sich mit der Zeit wieder heraus! Etwas anderem hätte mein Vater auch nicht zugestimmt und ich wollte nicht gleich wieder unser gutes Verhältnis zerstören.“

„Und wie sieht es mit unserem Verhältnis aus?“, wagte sich Harry zu fragen.

„Mein Dad wird weiterhin nichts von unserer Liaison erfahren.“

Harry musste breit grinsen. „Das meinte ich zwar gerade nicht, aber Du hast mir damit trotzdem meine Frage beantwortet.“ Isabel sah irritiert zu Harry herüber. „Es ist schön zu hören, dass Du unserer Beziehung eine zweite Chance gibst“, erklärte Harry.

Isabel wurde prompt rot und sah betreten nach unten. „Es tut mir leid, dass ich, statt mich Dir anzuvertrauen, vor allem davongerannt bin und Dich allein im Regen stehen lassen habe. Das war nicht fair. Ich hoffe, Du kannst mir verzeihen?!“, flüsterte Isabel und sah vorsichtig wieder zu Harry herüber.

Harry lächelte sie verschmitzt an und haute einfach mit einem Schulterzucken heraus: „Hey, ich warte im Regen und steh auf Dich!“ Isabel verstand nicht gleich und sah Harry irritiert ins Gesicht. Harry sah ihr derweil tief in die Augen und in seinem Blick lag so viel Liebe, dass Isabel prompt Schmetterlinge im Bauch bekam. Vorsichtig näherte sich Harry ihrem Gesicht und zärtlich fanden sich seine Lippen auf ihren wieder. Noch einmal und noch einmal. „Oh Bell, ich habe Dich so vermisst!“, hauchte Harry.

„Ich Dich doch auch!“, wisperte Isabel. Abermals sammelten sich Tränen in ihren Augen.

„Psssst. Nicht weinen, ich bin ja jetzt da! Alles wird wieder gut.“

„Alles?“, fragte Isabel, obwohl sie genau wusste, dass eines sie ihr Leben nicht wieder loslassen würde.

Harry seufzte. „Weißt Du, Isabel, Jane hat da ihre ganz eigene Theorie: Sie ist der Ansicht, dass es einen guten Grund gab, weshalb unser Kind nicht leben durfte. Vielleicht war irgendetwas nicht in Ordnung und der Embryo war nicht lebensfähig oder eben Deine Gesundheit war in Gefahr? Nur der liebe Gott weiß, warum, wieso, weshalb wir jetzt nicht Eltern werden sollten. Aber wenn man das Ganze aus dieser Perspektive sieht, ist es einfacher mit dem Schmerz klarzukommen.“

„Mir persönlich ist die schlichte Erklärung des Arztes lieber: Dass ein natürlicher Abbruch in den ersten drei Monaten recht häufig vorkommt; die meisten wissen dabei noch nicht einmal, dass sie überhaupt empfangen haben. Ich habe es aber leider schon gewusst …“