Mal ehrlich

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Mal ehrlich
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Christina Hecke

Mal ehrlich

Mein Blick hinter unser Leben

Patmos Verlag

Inhalt

Vorwort

Aller Anfang …

Kindertage: Mädchen – joah. Bübchen – boah!

Familienporträt

Primaballerina in XL

Ja und Amen

Auf die 12!

Death metal tattoo inc. … eine hochsensible Angelegenheit …

Heimat. Hafen. Liebe.

Habe nun … Ach!

»… und: Bitte!«

Stille

Wiederaufbau

Highway to Heaven …

Altersweisheit

Last but not least: JA UND?

Über die Autorin

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Vorwort

Mal ehrlich … Das Leben ist wie ein Warenhaus. Es gibt unendlich viele Angebote, und Sie haben die Entscheidungskraft, in ihr Körbchen zu packen, was immer Ihnen beliebt. Niemand zwingt Sie. Sie entscheiden, ob Nudeln, Gurken, Schokolade oder Fisch – denn auch, ob und was »gut« für Sie ist: Sie entscheiden. Auch wenn wir gelegentlich das Gefühl haben, in unserer Wahl nicht frei zu sein, weil Schlagworte wie »gesund«, »Diät« oder »Sucht« eine Rolle bei der Wahl der »Artikel« in unseren Warenkörben spielen, so ermutige ich Sie dennoch, zu Ihrer Autorität und Entscheidungskraft zu stehen und sage: Sie haben die Wahl.

Aus meiner Sicht haben wir alles, was sich in unseren Leben abspielt – ob bewusst oder unbewusst – selbst gewählt oder wenigstens mitgestaltet. Und sei es nur passiv durch ein Verhindern oder Wegschauen. Diese Verantwortung ist den meisten unangenehm oder unbequem. Bequemer ist es durchaus, wenn man im Hintergrund einen anderen, einen Schuldigen, hat, den man beim Fehlgang mancher Entscheidung entsprechend belasten kann.

Bevor Sie dieses Buch lesen, möchte ich Sie warnen. Nicht mit einer Drohung, nein. Es ist vielmehr eine liebevolle Aufmerksamkeit. Denn was Sie zu lesen bekommen, hat das Potenzial, ihre Sicht auf das Leben auf eine Art zu verändern, die Sie vermutlich nicht mehr zu dem Punkt zurückgehen lässt, an dem Sie sich zuvor glaubten. An manchem mögen Sie sogar Anstoß nehmen. Denn das, was bereits in Ihren »Warenkörben« liegt, korrespondiert womöglich nicht mit dem, was Sie jetzt lesen werden.

Vorausgesetzt ist nur eines: Ihre Bereitschaft – Ihre Offenheit – sich der Möglichkeit zuzuwenden, dass es neben dem physischen Körper auch eine Seele gibt – oder allgemeiner formuliert: neben der Form auch etwas Formloses. Nur mal theoretisch: Wenn es eine solche Dualität gibt – Körper, also Materie, und Geist, also etwas Nichtmaterielles – und der Mensch sich von Geburt zu Tod durchgeschlagen hat, was geschieht dann mit dem Anteil, der nicht im Boden verbuddelt oder verbrannt wird? Was passiert mit dem Geist, dem Bewusstsein? Sie mögen jetzt sagen: Reinkarnation & Co haben schon andere vor mir thematisiert. Was soll daran neu sein? Stimmt. Neu daran ist gar nichts. Es ist nur meine Erfahrung damit. Unzählige grenzgängerische wie universelle, menschliche wie skurrile Momente und Erlebnisse in meinem bisherigen Leben haben in mir ein Weltbild reifen lassen, das eben keine Handlungen oder Gedanken ohne Verantwortung mehr zulässt. Sei es nur die Eigenverantwortung oder auch die damit verwobene Verantwortung des Einzelnen im Verhältnis zu und mit anderen. Denn der Einzelne ist nie getrennt vom Ganzen. Im Kern sind wir alle Eins. Nichts bleibt ohne Folgen.

Warum ich das so sage? Weil es Teil meiner Erkenntnis ist. Weil es wahr ist. Für mich. Weil wir alle auf Augenhöhe sind. Ob wir das zu unserer Lebensrealität machen oder nicht.

Da wir im Hinblick auf Erkenntnisse gerne den Abgleich mit bisherigen Erfahrungen suchen – die Orientierung an einer Lösung – möchte ich gerne noch eines vorausschicken: im Zusammenhang mit dem Aspekt einer Lösung haben wir die Tendenz, uns am Perfekten zu orientieren. Der Einstufung in richtig oder falsch. Aber perfekt gibt es nicht! Vielleicht ergeben sich Antworten. Aber Lösungen bietet es nicht. Schon alleine die eben erwähnte Dualität von Form und Formlosigkeit macht es unmöglich, dass je irgendetwas oder irgendwer ­perfekt, richtig oder falsch sein könnte. Es ist ein ständiger Vertiefungsprozess, ein Aufruf in der Verantwortung zu leben, dass alles, was wir tun, einen Fingerabdruck hinterlässt. Es ist ein ständiger Prozess der Bewusstwerdung darüber, dass ­alles zusammenhängt.

Es gibt nicht Nichts. Alles ist also: alles. Und darin gibt es nur die perfekte Imperfektion.

Dabei stellt sich nur die Frage, was wir mit dieser Verantwortung anstellen …

Mich mit dieser beständig wachsenden Erkenntnis, dem zurückgewonnenen Gefühl von diesem Eins-Sein, der Allverbundenheit, auseinanderzusetzen, mich von der Sicherheit des Intellekts – einer antrainierten Intelligenz – zu lösen und auf meine innere Weisheit als Kompass N°1 wieder vertrauen zu lernen – das war eine Entscheidung. Eine wagemutige. Ein Wagnis, in das vermeintlich Unbekannte zu treten, und mutig genug, mich damit in den Wind zu stellen. Das war, und ist, ein Bewusstwerdungsprozess – ohne Drogen oder tagelanges Schweigen. Eine Entscheidung mitten im praktischen Leben neue Wege zu gehen. Es ist die Bereitschaft, die Augen dafür zu öffnen, was meine Seele mich sehen lassen kann. Nicht, was der Verstand mir zu erklären vermag. Es ist ein Loslassen. Ein Zulassen. Urvertrauen: das Einatmen der universellen Wahrheit. Dabei sind die Füße fest am Boden und gehen meine Schritte.

Ein vierjähriges Jurastudium hat mich spätestens gelehrt, was es heißt zu repetieren – wiederzugeben, was andere vor mir schon gesagt haben. Diese Form der Intelligenz – von vielen mit Intellekt gleichgesetzt – hat allerdings aus meiner heutigen Erfahrung deutliche Grenzen. Diese Laufrichtung der Denkfähigkeit: vom Denken hin zum Leben – ist reaktiv. Analytisch. An Lösungen orientiert. Und damit begrenzt. Außerdem eröffnet sie die Idee davon, Wissen besitzen zu können. Umgekehrt sehe ich eine Wahrheit: vom Leben hin zum Denken. Dem Leben als Impulsgeber für den Verstand. Der Verstand als Diener, nicht Diktator. Diese Form der Intelligenz ist unerschöpflich. Es zählt das Erleben. Das Entdecken und Vertiefen. Von Moment zu Moment. Ein Leben in Präsenz.

Auf dieser Qualität basiert dieses Buch. Sie werden lesen, dass ich diesem Buch mein Leben als roten Faden zugrunde gelegt habe. Das soll aber weniger dem Zweck dienen, Ihnen mein Leben zu erzählen, um mich darzustellen, sondern vielmehr dazu, Phänomene unseres Zusammenlebens exemplarisch zu betrachten. Verstehen Sie dieses Buch gerne als ein Angebot. Es ist kein wissenschaftlicher Abriss. Kein angelesenes Wissen. Wenngleich das Leben mir als Ort des Studiums gedient hat. Es ist zum Anfassen. Es ist mein Angebot an Sie.

Ein ehrliches.

Sie mögen es in Ihren Warenkorb legen, vielleicht nur einzelne Kapitel oder nur eine Zeile lesen. Oder Sie entscheiden sich, es gänzlich zu verachten oder zu ignorieren. Es ist Ihre Wahl. Richtig oder falsch erlaube ich mir in diesem Zusammenhang auszuklammern, da diese Bewertung weder für Sie noch für mich irgendeinen Sinn hätte. Es wäre nichts weiter als eine Erhöhung oder Erniedrigung, je nach Perspektive auf Sie oder mich.

Ich hätte Sie, mich, all diese Erkenntnisse und meine Liebe zum Leben und allem, was uns eint, verraten, hätte ich mich nicht eines Tages hingesetzt und angefangen zu schreiben. Es wäre mir als Zurückhaltung – wenn nicht gar Verantwortungslosigkeit – erschienen, es nicht zu tun. Eine Missachtung dessen, was wir sind: Liebe. Nicht romantisch, nicht verklärt, nicht Hollywood. Sie ist purer Respekt, Harmonie, Stille – und damit eine wahre Freude. Eine lebendige Leichtigkeit und keine Behauptung. Diese Liebe ist aus meiner Sicht die Basis, das Fundament für Ehrlichkeit und bietet damit das ­Potenzial zu einer gemeinsamen Wahrheit zu finden. Sie ist warm und haltend. Und vor allem: absolut! Sie existiert. In Ihnen. In mir. In jeder und jedem. Auch wenn wir das manchmal bezweifeln.

Ich danke Claudia Lueg vom Patmos Verlag, dass sie mich dazu angestoßen hat zu schreiben und unterwegs eine stete Begleitung in diesem Prozess gewesen ist. Serge für seine bedingungslose Reflexion. Und vor allem meiner Frau Stefanie.

Aller Anfang …

… beginnt mit dem ersten Schritt. Wir könnten sagen, dass hier auf dem Planeten doch eigentlich alles ganz gut läuft. Wir sind organisiert, strukturiert und funktionieren ganz gut. Und das, was nicht so gut funktioniert, sind wir stets bemüht zu thematisieren und zu verbessern. Eigentlich … Da schwingt schon mit, was den Kern der Sache unmittelbar trifft. Es ist nämlich doch alles irgendwie dissonant. Ein Verbessern, das haben wir tausendfach aus unserer Geschichte gelernt, ist noch keine Richtungsänderung. Das ist, wie ein altes Haus wieder und wieder zu renovieren, aber die morschen Balken werden doch irgendwann brechen. Da hilft auch die schönste Farbe nichts. Dabei sind wir zwar bereit, den ein oder anderen Grundpfeiler auf seine Stabilität zu überprüfen, aber das Wagnis diesen Balken auch austauschen, gehen wir nicht ein. Manchmal muss man die Balken aber austauschen, um das Haus in eine neue Stabilität zu bringen. Das ist als wären wir zwar alle bereit loszulaufen – aber als hätten wir Angst oder kein Vertrauen, den ersten Schritt oder neue Wege zu gehen. In welche Richtung sollen wir laufen? Da sind wir orientierungslos. Gemeinsam?

 

Hier geht es schon los, denn das Gemeinsame ist nicht mehr spürbar. Das Individuelle, das ausschließlich mit dem unmittelbaren Umfeld zusammenhängt, das ist uns vertraut. Aber das große Bild – das Wir im Zusammenhang – ist verschüttgegangen hinter einer Perspektive, die das eine Leben auf den Abschnitt zwischen Geburt und Tod reduziert. Auf eine endliche Existenz, in der jeder versucht, nur sein eigenes Ding best- oder schlechtmöglichst abzureiten. Das obliegt jedem selbst. Aus der Perspektive dieser Endlichkeit und damit einer linearen Existenz herauszutreten und zu fragen, »ob das wirklich alles ist?«, würde gleichermaßen die Frage aufwerfen: »Ist das bisherige Normale wirklich die einzige Wahrheit?« Wieso sollten wir uns dieser Frage überhaupt stellen? Läuft doch, irgendwie! Hm: ehrlich? Wir hatten noch nie so viel hochentwickelte Technologie wie zurzeit. Alle paar Monate gibt es neue Smartphones … Aber: Haben wir unser Zusammenleben mit dem gleichen Engagement weiterentwickelt und tatsächlich verbessert? Wir fliegen zum Mond und produzieren künstliche Intelligenz – aber haben wir psychische Erkrankungen, Krebs- und Suizidraten, Gewalt untereinander im Griff? Früher gab es den Marktplatz, auf dem Menschen öffentlich angeklagt und auf dem Schafott verbrannt wurden – heute gibt es Twitter und »Shitstorms« im Internet, und das mit dem Schafott erledigen manche dann selbst. Die Methoden im zwischenmenschlichen Umgang sind moderner geworden – aber das Prinzip ist dasselbe geblieben. In diesem Punkt sind wir maximal damit beschäftigt, diesen Grundpfeiler unseres Miteinanders beständig neu mit Farbe zu bepinseln, aber keinesfalls damit, diesen auszutauschen. Wir übermalen, was wir unbedingt erhalten wollen. Vielleicht ist er noch nicht morsch genug?

Würden wir es wagen zu erkennen, dass es einer Restauration statt einer bloßen Renovierung bedarf, müssten wir grundsätzlich neue Wege gehen. Und dazu müssten wir einen ersten Schritt machen. Da dieser Schritt aber ins Ungewisse oder Unbekannte gewagt werden müsste, heißt es schnell: »Aller Anfang ist schwer!« Was genau ist eigentlich so schwer am ersten Schritt? Es liegt ein Wagnis darin. Mit einem Schritt in ein Gebiet vorzudringen, das eben keine Routine oder Erfahrungswerte vorweist. Augenscheinlich jedenfalls … Denn möglicherweise ist es auch so, dass wir eben doch schon eine Menge Erfahrungen gemacht haben und die »Angst« daher kommt, dass wir dem Braten nicht mehr so recht trauen. Wir projizieren schon unsere Bilder und Vorahnungen auf das vor uns Liegende oder haben auf die Verantwortung, die mit dem Betreten des neuen Terrains verbunden ist, von vornherein einfach keine Lust. Und: Zack – wird es uns leicht gemacht zu sagen: »Es ist schwer!« Und so wagen wir nichts. Klagen lieber an, statt einen Richtungswechsel zuzulassen. Gehen den Schritt nicht – raus aus der Routine, da sie doch bis hierher »ganz gut funktioniert«. Und mit dem, was nicht funktioniert, gehen wir dann eben um. Wir um – gehen es. Wir haben eine große Palette an Gründen und Entschuldigungen zur Hand, warum wir es nicht einfach wagen. Das Unbekannte nicht einfach nur auf uns zukommen lassen und dem Leben neu begegnen. Und sei es nur das Argument der »Angst vor der Unberechenbarkeit« … Das ist ein bisschen so wie mit Kolumbus und der Kugelgestalt der Erde. Wenn man nicht mal losläuft, wird man nie erfahren, was es sonst noch zu entdecken gibt. Was also von dem bisher Geglaubten Nonsens und was an Unerwartetem möglicherweise bereichernd ist …

Mein erster Schritt in meine gegenwärtige Existenz, also eine weitere Runde auf dieser Welt zu wagen, beginnt auf eine Weise, die erstmal all diese negativen Befürchtungen bestätigt hätte. »Besser nicht loslaufen!« hätte die Warnung heißen können. Denn als ich auf die Welt komme, wird es für uns beide, meine Mutter und mich, erstmal »schwer« – so könnte man werten. Denn meine Mutter hätte bei meiner Geburt fast ihr Leben gelassen, da sich die Plazenta nicht gelöst und sie sehr viel Blut verloren hat. Meine Vorratskammer sozusagen oder die Küche (ein Ort an dem ich mich übrigens zeitlebens mehr als wohl fühlen werde), der uns beide verbindende Sack, den meine Mutter in diesem Fall wohl nicht so recht loslassen wollte. Genauer betrachtet: mich oder unsere Verbindung wohl nicht recht gehenlassen konnte. Ich komme also hier an und habe schon die Aufgabe, mich einer Situation stellen zu müssen »Mein Leben zum Preis eines anderen …?« Das ist doch mal eine großartige, erste Lernaufgabe! Selbst wenn mein kleiner, erster Schritt mit Mut und Freude gesetzt ist, so werde ich doch gleich mit der Erkenntnis konfrontiert: Andere hängen (im wahrsten Sinne des Wortes) auch damit zusammen. Und schon ist in diesem Bruchteil von Sekunden, in einem meiner ersten Atemzüge, das ganze Ausmaß des weltlichen Daseins offenbart: Es sind die Verletzungen, die Ängste und die möglichen Folgen, die wir zu meiden versuchen. Der stete Schrecken der drohenden Endlichkeit. Es ist ein bangendes, klammerndes Festhalten an einer einzigen Existenz. Ein weiterführendes oder übergreifendes Verantwortungsprinzip: unbekannt. Lieber halten wir uns an Begriffen wie »Schicksal« »Fügung« oder »Zufall« fest.

Was aber, wenn alles zusammenhängt? Was, wenn meine Mutter durch meine Geburt lernen durfte, ihr Leben anzunehmen? Sich »unabhängig« zu machen? Was, wenn ich lernen durfte zu erkennen: »Ich bin nicht schuld«? Lernaufgaben, vor denen wir stehen. Folgen unserer Entscheidungen zu sagen: »Was gibt es diesmal zu lernen?« Nicht mehr und nicht weniger. Faire Verantwortungsverteilung, wie ich finde!

Sie mögen sagen: »… da warst du doch noch so klein und kannst das alles gar nicht gewusst haben.« Ja, stimmt. Mit Wissen hatte das auch nicht viel zu tun. Aber mit Gewissheit. Meinem Gespür. Ich bin zwar noch winzig und habe gerade erst meinen ersten Atemzug getan, aber doch sind schon all meine Sinne voll ausgebildet. Ich nehme die Dinge wahr. Schmerz zum Beispiel. Oder Kälte. Ich habe doch zuvor auch schon eine Weile im Bauch meiner Mutter verbracht und wahrgenommen. Da habe ich mit an ihren Entscheidungen gehangen – ob sie mir gefallen haben oder nicht. Ihre Wahl der Nahrung kam ungefragt bei mir an. Vibrationen und Töne, Stimmungen und Gemütszustände. Fremde Hände, die den Bauch meiner Mutter berührt haben – also auch mich. Ich stecke zwar gerade in einem winzigen Körper, aber meine Wahrnehmung ist voll ausgereift. Und mein Hausaufgabenheft prall gefüllt.

Sie können jetzt selbstverständlich wissenschaftliche Theorien und Statistiken über meine Aussage ergießen – das obliegt Ihnen. Ich wäre an dieser Stelle nur in der misslichen Lage, dass ich, so ist das in einer Beweislast-Position, Ihnen etwas beweisen müsste, das ich nicht beweisen kann. Da mir die Dinge einfach nur gewiss sind. Derzeit ist mein einziger »Beweis« dafür, dass es so war: mein Bewusstsein – oder nennen Sie es ein tieferes Wissen, eine Angebundenheit. Das ist schier unmöglich zu beweisen. Es wäre natürlich einfacher für Sie und mich, hätte ich im Bauch meiner Mutter ein Handy dabeigehabt. Irgendetwas, um zu dokumentieren, was ich hier behaupte. Wir wissen gerade beide, dass das ein großer Blödsinn ist. Ich hätte damit ja auch nur einen Beweis über das Außen dokumentieren und nicht das Fühlen beweisen können. Also bleibe ich lieber bei dem, was mir bewusst ist, und unterziehe es keinem statistischen Analyseversuch. Es wäre ein Urteil über Richtig und Falsch. Und wie eingangs erwähnt, möchte ich uns beide da gerne raushalten. Denn das scheint mir ein weiterer, eiternder Stachel im Fleisch unserer Wahrnehmung zu sein: dass wir immer nach diesen Lösungen suchen. Uns gerne im Kampf um »Richtig & Falsch« verlieren, statt uns gegenseitig einfach mal zuzuhören. Und Aussagen erstmal nachklingen zu lassen, statt direkt mit möglichen Antworten zurückzuschießen, weil wir glauben, wir wissen es besser. Die vielen Perspektiven zu genießen – die so reich sind, so vielzählig, wie es Menschen gibt.

Außer meinem Gefühl von tiefer Verbundenheit, einer Art Urvertrauen, habe ich am Abend des 22. 02. 1979 nichts vorzuweisen. Der Beweis liegt also darin, dass ich bin. Nicht was ich kann. Nicht mehr – und nicht weniger. Wie ich da im Kreissaal in Stuttgart mein Leben beginne, liegt Schrecken in der Luft. Eine ganze Reihe an Informationen, vor allem aber: Lebensgefahr. Das drohende Ableben meiner Mutter. Mein Vater sitzt in einem Zug irgendwo zwischen Mannheim und Ludwigsburg mit Stromausfall fest. Mein erster Schritt ist zwar getan: Ich bin da. Aber schon hat die ganze Sache ein enormes Ausmaß. Nicht das romantische Papi-Mami-Kind-Bild. Versuchen Sie bitte erst gar nicht, hier ein Kindheitstrauma reinzuprojizieren. Ich bin damit vollkommen im Frieden. Ich trage nämlich noch keinen Vergleich in mir. Der wird mir erst später angeboten, durch ein Idealbild, wie es hätte gewesen sein können. Durch einen Abgleich mit dem, wie es mal war oder wie wir es uns wünschen, prägen wir unser Hier und Jetzt ständig! Wäre ich jetzt ein Erwachsener, würde ich nämlich vielleicht schon in Panik um das Leben meiner Mutter bangen, ich würde telefonieren, schreien, flehen, hilflos im Netz recherchieren: was weiß ich. Aber das Schöne am Neubeginn ist, dass bei all dem Wahrnehmen, der Unmittelbarkeit, noch eine Art »Stille-Bonus« im Gepäck liegt. Den habe ich mir ausgesucht mitzubringen. Der liegt in meinem Warenkorb. Ich weiß insgeheim: Egal, was passieren wird, es hat einen Sinn. Ob für meine Mutter oder mich oder für sonst wen. Ich weiß: alles seinen Rhythmus.

Auch wenn meine Mutter jetzt sterben sollte, auch wenn mir etwas passieren sollte – es ist alles gut. So, wie es ist. Wir kommen und gehen sowieso in denselben Zustand zurück. Den Zustand der Formlosigkeit. Alle. Eines Tages. Da bleibt keiner zurück. Das ist mir gewiss. Diese Liebe, das Gefühl von haltender, bedingungsloser und allumfassender Liebe ist das Nest, aus dem ich gefallen bin. Und da bin ich kein Sonderling der Ausgabe »besonders liebender Mensch«, sondern ein Mensch wie jeder andere auch. Das ist ein tief verankertes Gefühl, ein Wissen, zu dem jede und jeder Zugang hat. Da bin ich mir sicher. Das spüre ich, wenn ich Menschen in die Augen schaue. Ob der Einzelne das wählt oder nicht. Da bin ich, wie gesagt, nichts Besonderes. Diesen Zugang habe ich mir bewahrt. Das ist alles. Der Beweis liegt damals schon darin, dass ich unter all dem Stress um mich herum diese Qualität in mir wiederfinden kann. Daran andocken kann. Ich trage sie in mir. Ich kann sie atmen. Ich bin ruhig. Ich bin leicht. Umgeben von einem sehr praktischen Handeln der zuständigen Schwestern und Ärzte, die sich bemühen auszustrahlen: »Wir haben das im Griff.« Aber fühlen tun wir alle: Das hier ist eine schwierige Situation. Schwierig, weil wir glauben, sie steuern zu müssen oder zu können. Wir wollen nicht, dass jemand stirbt, und das zu verhindern, ist die Aufgabe. Dazu gibt es ja die Medizin. Aber die Bedrohung für uns liegt gar nicht im Tod an sich, sie liegt vielmehr in dem Zusammenhang ­begründet, dass wir im Hinblick auf das Leben uns auf eine einzige Existenz begrenzt haben. Die Möglichkeit der Wiedergeburt ausgeschlossen haben. Schwierig ist in Wahrheit also zu akzeptieren, dass es eine Ordnung gibt, die wir nicht durchschauen können. Dass unser Geist reist, von Leben zu Leben. Dass alles nur ein Lernschritt ist. Ein Netz, in dem wir zusammenhängen, in dem alles seinen Rhythmus hat – in dem wir lernen dürfen. Alle. Für meine Mutter gilt es zu lernen: in das Vertrauen zurückzufinden und – loszulassen. Für mich gilt es, die Qualität des Seins nicht zu verlieren. Mein Urvertrauen. Und für die beteiligten Ärzte und Schwestern gilt es ebenfalls, ein Vertrauen in ihre Fähigkeiten, ihre Erfahrungen und Impulse einzunehmen und danach zu handeln. Denn ob ein Körper dann den medizinischen Angeboten folgt – meine Mutter also überlebt – oder ob er es nicht tut – meine Mutter also nicht überlebt –, entscheidet sich ganz woanders. Nämlich auf der Ebene des Nichtmateriellen. Der Seelenebene. Nennen Sie es Seele, nennen Sie es Liebe, Gott. Die Frage nach der Begrifflichkeit ist die bekannte Gretchen-Frage. Denn Begriffe können so verwirrend sein, da sie durch so unterschiedliche Erfahrungen geprägt sind. Das Wort Gott alleine hat schon Nationen, Familien, ganze Kulturen gespalten. Weil man die Definitionsfindung darüber auf dem »Richtig & Falsch-Schachbrett« ausgetragen hat, sich womöglich hinter einer selbsternannten Religion versteckt und damit verteidigt hat – um sich schließlich folgenreich in deren Namen gegenseitig die Köpfe einzuhauen. Religionen wurden von Menschen geschaffen. Es sind Interpretationen dieses Nichtmateriellen, des Göttlichen. Es bleibt an uns zu vertrauen. Uns von den Vorgaben dieser Interpretationen freizumachen. An das Vertrauen zu unser aller Ursprung wieder anzuknüpfen, dem, »was die Welt im Innersten« – was uns alle – zusammenhält. Dieses Netz ist nicht erst seit ­Goethes »Faust« bewusst, der hier durchklingt. Das ist ein uraltes Wissen. Ein Vertrauen in unsere Impulse. In unser Sein. Das Wir, nicht das Ich in unser Handeln zu bringen. »Vom Ich zum Wir durch das Ich als Teil des Wir.« So würde ich resümieren.

 

Es ist das Gefühl von Urvertrauen, das mich trägt. Es ist wohl auch nur damit zu erklären, dass ich weder schreie noch weine. Ob meine Mutter geht oder nicht: Es ist gut so, wie es ist. Und auch sie spürt das. Das kommunizieren wir ohne Worte. Und es gelingt ihr loszulassen, und sie schafft es nach einer langen OP, gestärkt am Leben zu bleiben und ihre Entscheidung, erneut Mutter zu werden, anzunehmen. Ja, da gibt es schon jemanden, der ebenfalls Teil meiner Reise ist: meine ältere Schwester Martina. Und auch, wenn meine Mutter und ich an verschieden Orten in dieser Frauenklinik sind, man mich wäscht und versorgt und einpackt, während sie operiert wird, sind wir verbunden. Auch mein verzweifelt ankommen wollender Vater ist in diesem Netz verwoben. Wir alle hängen zusammen. Wir können uns natürlich auch auf die »menschliche Tragik« von Situationen reduzieren und versuchen zu steuern, was wir vielleicht gar nicht steuern können. Aber damit wären wir wieder auf diese eine Existenz reduziert, die sich linear am Horizont entlang zieht. Ohne eine tiefere Bedeutung, ohne Zusammenhang. Ein auf Endlichkeit ausgerichtetes, einmaliges Event. Ein Leben mit dem großen schwarzen Nichts am Ende.

Es gibt nicht Nichts …

Schon allein die Tatsache, dass ich das erinnern kann, dass ich heute wieder so fühlen kann, dass ich diese Zusammenhänge sehen und wahrnehmen kann – beweist mir, dass es eine Ebene gibt, die mit materieller Fassbarkeit nichts zu tun hat. All das Praktische, Erfahrbare, Wunderbare auf dieser Welt dient schließlich dem Verständnis unseres Wachstums – der eigenen und damit auch der kollektiven Evolution auf der nichtmateriellen Ebene, nicht auf der materiellen. Auf die haben wir uns nur reduziert. Die Idee davon, dass es nur diese greifbare Welt gibt, in der wir ein buntes Durcheinander aus Tätern und Opfern, Freiwilligen und Unfreiwilligen, Herrschern und Beherrschten erleben, die haben wir geschaffen. Wir haben uns getrennt – und uns hinter dieser Reduktion verschanzt. Und damit haben wir eine Tür geschlossen, die wieder zu öffnen eine Offenbarung wäre. Denn nicht unser Wille ist Dreh- und Angelpunkt unseres Zusammenlebens, sondern es ist die Quelle, die wir mittels unseres freien Willens anzapfen. Wir entscheiden lediglich, was wir gerne hätten – der Rest wird uns gegeben. Zusammenhänge sehen zu wollen: das ist lediglich eine Bereitschaft. Die Zusammenhänge sehen zu können, ist dann ein tieferer Einblick, der mir gewährt, der mir gegeben wird. Die Zusammenhänge nicht sehen zu wollen: das kann ich ebenfalls mittels meines freien Willens entscheiden. Und alles, was dieser Entscheidung folgt, wird mir ebenfalls gegeben – und sei es nur die Identifikation mit dem Gedanken, selbst die Quelle allen Denkens zu sein. Wir sind Instrumente. Empfangsstationen. Das Programm machen andere. Wir wählen nur den Sender. Solange wir diese Verantwortung ablehnen, werden wir blind gehalten für die Wahrheit eines größeren Zusammenhangs. Und sei es aus der Bequemlichkeit der Verantwortungslosigkeit, des Nicht sehen-Wollens. Damit haben wir aber auch keine Möglichkeit, die Freude und Größe unserer Verantwortung zu erleben.

Wie ich wohl auf die Idee komme, dass das alles so ist, wie ich es beschreibe? Ich habe es erfahren. Ich weiß es. Heute wieder. Damals auch. Unterwegs habe ich das mal für eine Weile abgelegt. Mich dankend in die Veranwortungslosigkeit eingereiht. Die meisten Jahre meines Lebens, muss ich gestehen. Dieses Allverbundenheits- Urvertrauens-Dings war mir zu unbequem. Lästig gar. Es hat mir den Weg versperrt, »mitgehen« zu können. Auf der Radiowelle funken zu können, auf der die absolute Mehrheit dieser Bevölkerung funkt. Dem Normal. Der Begrenzung des Nicht-sehen-Wollens. Ich habe es sogar regelrecht bekämpft. Das zu erkennen, zu dem wieder zurückzukehren, was ich mal als wahr empfunden habe, als Kind, ist unglaublich kraftvoll. Der Tatsache, dass es noch eine alternative Funkfrequenz gibt. Ich wähle. Je nachdem, was ich will, muss ich nur den Sender wechseln. Es ist ein ewiger Kreislauf, in dem wir stecken. So wie das Leben ein Kommen und Gehen ist. Ein Trainingscamp für den Willen. Ein Hin und Her bei der Senderwahl. Welche Frequenz wählen Sie – Reduktion auf das enge Anfang&Ende-Prinzip oder Ausdehnung hin zur universellen Allverbundenheit? Es gibt immer eine Sendung.

Sollte Ihnen dieser Ansatz gänzlich zuwider sein, möchte ich gerne folgende Geschichte mit Ihnen teilen:

Eine Freundin von mir hat eine ganz bezaubernde Tochter. Als diese fünf Jahre alt war, kam sie eines nachmittags zu ihrer Mama gelaufen und sagte: »Ich hab dich soooo lieb!«. Worauf meine Freundin entgegnete: »Ich dich auch, mein Schatz!« Die Kleine wiederum: »Ich bin so froh, dass wir uns haben!!« – Schon mit leichtem Erstaunen, die Mutter zurück: »Ich auch, mein Engel!« – Und dann kommt durch das kleine Mädchen folgender Satz ans Tageslicht: »Weißt du – ich wollte ja schon mal zu dir. Da wolltest du mich nicht. Aber jetzt haben wir uns ja!« – Worauf meine Freundin erst erstarrte und dann in Tränen ausbrach. Denn sie hatte einige Jahre zuvor einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen, von dem außer ihrem behandelnden Arzt und ihrer engsten Freundin ­niemand wusste. Bis zu diesem Tag. Und mit niemand meint: niemand.

Das Leben schenkt uns so wunderbare Momente. Wahre Momente. Für mich ist dieser Moment des Lebens – neben vielen anderen ähnlicher Natur, die ich Ihnen jetzt dazu erzählen könnte, – der Beweis dafür, dass wir zusammenhängen. Das das Leben einen Kreislauf ist. Das folglich auch der Tod kein singuläres, getrenntes Ereignis ist. Bei der Zeugung eines Kindes geschieht weit mehr, als dass nur ein Ei und ein Spermium aufeinandertreffen. Es braucht einen reinkarnationswilligen Geist. Den Anteil, den wir später nicht begraben oder verbrennen können, wenn das Herz aufhört zu schlagen. Das ist nochmal was anderes als die Seele. Die können wir nicht vergraben. Die Seele ist dem Geist eine ewige Lehrerin, bis die beiden wieder vereint sind. Dazu nochmal Goethe: »Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust!« Die Seele ist immer bereit, sich dem großen Gemeinsamen wieder zuzuwenden. Vielmehr sich immer weiter hinein zu vertiefen in das große Ganze, denn sie bildet ein Teil davon. Der Geist hingegen (im englischen Spirit, das ist mir geläufiger) ist der Anteil, der sich abgewendet hat. Der sein eigenes Ding machen will. Der die Radiofrequenz »Reduktion« gut findet und durch die Programmwahl ständig unterstützt. Und genau diese Zerrissenheit, einerseits »Mein-eigenes-Ding-machen« zu wollen, andererseits aber zu spüren: »Da gibt es noch was anderes«, das ist die tiefe Trennung, unter der wir leiden.

Deshalb die Reinkarnation: damit die Seele dem Spirit (oder Geist) Lehrerin sein kann, sich wieder zu vereinen, sich zurückzuverbinden. Diese Differenzierung zwischen Seele und Geist ist wichtig. Denn sie erklärt diese innere Zerrissenheit, die im Goethe-Zitat mit den zwei Seelen benannt wird. Es ist der Geist, der durch die Seele wachsen kann, es aber meist einfach nicht will. Keinen Bock! Zu stolz … Entscheidend ist also die Bereitschaft, die Erkenntnis darüber zu gewinnen und zu vertiefen, dass es noch eine andere Frequenz gibt, auf der wir »gemeinsam« funken. Dass es neben dem Menschlichen, der Materie, also auch die Seele, das Nichtmaterielle, gibt. Um diesen Unterschied lesen zu lernen und zu verstehen, haben wir unsere Körper. Damit wir bewusst die Sender zu unterscheiden lernen und bewusster werden in unserer Wahl. Das sind die Instrumente, die sensibilisiert sind für die verschiedenen Sendungen, die uns angeboten werden. Sensibel genug um uns zu lehren, von welchem Ort aus wir entscheiden: vom Geist oder von der Seele. Wozu sagen wir Ja?