In der Pfütze schwimmt ein Regenbogen

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In der Pfütze schwimmt ein Regenbogen
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Christina Conradin

IN DER PFÜTZE SCHWIMMT EIN REGENBOGEN

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche

Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Zeichnungen © Christina Conradin

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Für meine geliebte Familie

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Offenbarung beim Abendessen

Bei uns ist was los

Omis Geburtstag

Zu Besuch bei verschiedenen Ärzten

Nun also zu fünft

Ein etwas anderer Kindergartentag

Warum wollen eigentlich alle ein Baby?

Es weihnachtet sehr

Der Regenbogen

Wir machen einen Ausflug

Auf der Suche

Fische zu Ostern

OFFENBARUNG BEIM ABENDESSEN

Jakob faltet andächtig die Hände. Er schweigt. Seine braunen Locken fallen ihm in den noch leeren Teller. Alle Anwesenden falten natürlich ganz überrascht auch blitzschnell die Hände. Jeder schweigt. Wartet.

„Amen“, sagt Jakob und schaut auf. Das „Amen“ der anderen folgt im Chor. Erleichtert beginne ich zu essen. Mama hat ein Pilzrisotto gekocht, wozu wir Jakob und seine große Schwester Mummel eingeladen haben. Jakob ist mein bester Freund. Er und Mummel, also eigentlich heißt sie Maria, wohnen im Nachbarhaus. Heute sitzen wir alle zusammen beim Abendessen: meine Mama und mein Papa, natürlich, mein großer Bruder, Ben und ich.

„Magst du nichts mehr, Lena?“, fragt mich Mama.

„Gut war’s, Mama, aber ich bin satt.“ Das sag ich immer, wenn es mir nicht schmeckt. Mama lächelt mich dann meist nur etwas schief an. Heute meint sie: „Die Pilze wieder.“

„Das Risotto riecht so gut“, bemerkt Ben ganz verzaubert vom Geruch der Pilze und der Petersilie, die Mama liebevoll über jeden Teller gestreut hat. Ben hat nämlich eine besonders feine Nase. Oft macht er uns auf Gerüche aufmerksam, die uns gar nicht aufgefallen wären. Wir nennen ihn deshalb manchmal unsere Hundeschnauze. Das mag er aber nicht besonders, obwohl sonst er meist derjenige ist, der lustige Namen für alles Mögliche erfindet. Erst dachte ich, Papa müsste so eine gute Nase haben, weil sie so groß ist, aber Papa riecht nicht besonders gut. Bens Nase ist ganz normal groß. Sie passt zu seinem schmalen Gesicht und den ohrenlangen, schwarzen, glatten Haaren. Ich finde, er sieht sehr gut aus.

Hastig versucht Papa den Parmesankäse zu nehmen und schubst dabei aus Versehen sein Weinglas um. Er wirkt irgendwie nervös. Vorhin wollte er schon etwas „Wichtiges“ sagen, was aber unter dem Gelächter von Ben und Mummel unterging. Die beiden gehen in dieselbe Klasse und erzählen regelmäßig lustige Geschichten von ihrem Religionslehrer, der sogar schon einmal im Unterricht eingeschlafen ist. Papa versucht es erneut.

„Hört alle mal bitte zu! Es gibt eine wichtige Neuigkeit, die wir euch mitteilen wollen.“ Jakob schlüpft allerdings plötzlich unter den Tisch, woraufhin ihn Mama fragt, was er denn suche.

„Meine Socken!“, ruft Jakob.

„Warum ziehst du denn deine Socken aus?“, wundert sich Ben.

„Hoffentlich kaselt’s nicht gleich“, murmelt Mummel.

„Wenn es dunkel ist, schlafen meine Füße immer ein“, erklärt Jakob schnell. „Darum muss ich meine Socken ausziehen, damit das Kribbeln aufhört.“

Papa, Mama, Ben und Mummel können sich vor Lachen kaum halten.

Ganz leise sage ich zu Jakob: „Du darfst dich nicht auf deine Füße setzen, sonst schlafen die ein.“ Das Tolle an Jakob ist: Er kann über sich selber lachen und stimmt deshalb in das Gekicher mit ein.

Papa probiert es noch einmal: „Also, Kinder, sind nun alle Bedürfnisse gestillt?“ Jeder am Tisch hört ihm nun aufmerksam zu.

„Mama und ich möchten euch nämlich miteilen, dass ihr zwei, Ben und Lena, ein Geschwisterchen bekommt! Und weil wir heute so schön zusammensitzen, Mummel und Jakob eh quasi zur Familie gehören, sagen wir es heute gleich euch allen.“

Unsere Eltern werfen sich einen kurzen Blick zu und versuchen dann erwartungsvoll unseren Gesichtsausdruck zu deuten. Einen Moment sind alle still. Alsdann sprudelt es aus Ben heraus: „Wow, cool! Hoffentlich wird es ein Junge. Also nichts gegen dich, Schwesterherz, aber jetzt noch ein Bruder wäre echt toll! Dem könnte ich das Fußballspielen und Biken beibringen und ihm mein neues Megaflugzeug zeigen!“

„Was denkst du, Lena?“, erkundigt sich Papa.

„Ja, ich weiß nicht, aber ich glaub, ich find’s auch toll.“ Mummel und Jakob zeigen sich auf alle Fälle begeistert. Trotzdem wird schnell das Thema gewechselt. Vermutlich will jeder erst in Ruhe über die Neuigkeit nachsinnen.

Nach dem Essen muss ich Jakob unbedingt eine Frage stellen.

„Du, Jakob, warum hast du beim Essen vorhin gebetet? Das hast du noch nie gemacht?“

„Na, ich war letztes Mal doch beim Anton und da haben alle gebetet. Außerdem wurden beim Erntedankfest die Lebensmittel doch geweiht. Da muss man schon beten, dachte ich mir“, entgegnet Jakob.

„Aber wieso hast du kein Gebet aufgesagt?“, bohre ich weiter nach. Langsam ist Jakob schon ein bisschen genervt und meint: „Mir ist halt gerade nichts eingefallen. Lass uns Lego bauen.“

Abends im Bett liest mir Mama aus dem neuen Buch Der Kaiserpinguinpapa Paul vor:

Paul lebt in einer großen Kolonie vieler Pinguine, liest sie. Bald wird er Papa. Bereits seit langer Zeit tragen er und seine Kaiserpinguinfrau Adele ganz vorsichtig ihr Ei abwechselnd auf den Füßen. Viele Kilometer sind sie schon gelaufen. Es ist tiefster Winter und die Pinguine haben einen weiten Weg hinter sich gebracht.

„Bald haben wir es geschafft!“, sagt Paul zu Adele.

„Es dauert nicht mehr lange, dann sind wir weit genug draußen auf dem Packeis.“ Im Sommer würde ihnen das Eis wegtauen, deshalb bekommen sie ihre Jungen bei einer Eiseskälte von bis zu minus 40 Grad.

„Haben Kaiserpinguine nur Jungen? Warum gibt es da keine Mädchen?“, frage ich erschüttert.

„Zu Tierbabys sagt man auch Jungen. Dabei sind Buben und Mädchen gemeint“, erklärt mir Mama. Sie liest weiter:

Paul trägt das Ei sehr stolz unter seiner Bauchfalte. Plötzlich schreit er: „Da, es kommt!“, als unter ihm die Eierschale zu brechen beginnt. Schon ist es da.

„Adele, ich bin Papa!“, freut er sich. Adele und er sind überglücklich. Bevor andere sein Küken bewundern können, steckt er es sofort unter seine Bauchfalte, um es zu wärmen.

„Tamara darf nicht frieren, wo sie doch gerade erst geschlüpft ist“, meint Papa Paul.

„Aber“, unterbreche ich Mama erneut, „heißt das, wenn das Baby aus deinem Bauch draußen ist, dass es unter Papas Bauch kommt?“ Mama lacht: „Nein, Lena, bei Menschen ist das etwas anders. Papa wird das Baby auch tragen, allerdings auf dem Arm.“

Dann streichelt mir Mama über den Kopf, wie sie es immer macht. Nur heute scheint sie in Gedanken zu sein, da sie gar nicht mehr damit aufhört.

„Gute Nacht, Mama“, flüstere ich leise.

„Schlaf gut, mein Schatz“, erwidert sie und nimmt ihre Hand zu sich.

„Ich hab dich sehr lieb, meine Große!“ Große hat sie noch nie zu mir gesagt, denke ich mir. Als Mama leise die Tür hinter sich zumacht, fällt mir erst auf, was sie gemeint hat. Vielleicht hat das kleine Geschwisterchen doch mehr Vorteile, als ich meine, kommt mir in den Sinn.

BEI UNS IST WAS LOS

„Heute darf ich zum Schnuppern ins Ballett“, erzähle ich Jakob ganz stolz, als er mir am Gartenzaun begegnet.

„Ui“, erwidert Jakob, „darf ich mit?“

„Naja, ich glaub, heute dürfen alle hin, die wollen“, entgegne ich ihm.

„Dann geh ich da auch hin“, meint Jakob. Er läuft schnell ins Haus und zieht sich eine bequeme Hose an. Im Vorbeilaufen ruft er seiner Mama zu: „Ich geh heute mit Lena ins Ballett!“

 

„Aha“, hört man daraufhin Marita, so heißt Jakobs Mama, sagen. Man sieht sie zu meiner Mama gehen. Die beiden Mütter besprechen etwas. Woraufhin sie kurz kichern.

„Kinder, holt mal eure Fahrräder!“, ruft uns Mama zu.

Im Balletthaus angekommen, bekommt jeder, der keine hat, Ballerinas, also Ballettschuhe. Meine langen braunen Haare habe ich, wie die meisten Mädchen zu einem Dutt zusammengebunden. Außer Jakob sind noch zwei andere Jungs da, ansonsten nur unzählige Mädchen. Der Ballettlehrer, Herr Niedermeyer, sieht nett aus. Er hat kurze schwarze Haare. Sein Gang erinnert an eine Watschelente, weil die Fußspitzen ganz nach außen zeigen. Zudem geht er so kerzengerade, dass man meinen könnte, er habe einen Stock verschluckt. In dem großen Tanzsaal sind auf zwei gegenüberliegenden Seiten riesengroße Spiegel angebracht. Davor verläuft jeweils quer eine lange Stange zum Festhalten, wie an einer Treppe. Herr Niedermeyer begrüßt uns und fordert alle auf, sich einen Platz an der Stange zu suchen. Jakob und ich bleiben gleich neben der Tür und der Musikanlage ganz nahe beim Lehrer. Dieser drückt auf irgendwelche Knöpfe bis Klaviermusik ertönt.

„Du mussen versuchen alles machen wie ich“, ruft er uns zu und lächelt. Ein bisschen erinnert er mich an Papas und Mamas Freunde aus Frankreich. Die sprechen so ähnlich. Herr Niedermeyer hebt die Füße und wirft sie in alle Richtungen, geht in die Knie und fuchtelt mit den Armen. Jakob und ich kommen überhaupt nicht mit. Als ich in den Spiegel blicke, sehe ich, dass es den anderen genauso geht. Es ist ein einziges Durcheinander. Trotzdem macht es irgendwie Spaß. Das geht mehrere Lieder so. Danach hüpfen wir quer durch den Raum.

„So fühlt man sich also als richtige Ballerina“, male ich mir aus. Am Schluss setzen wir uns auf den Boden und bilden einen großen Kreis. Alle Fußspitzen zeigen zueinander. Herr Niedermeyer geht durch und drückt die Füße sanft zur Mitte hin: „Du mussen machen spitz die Fuße.“ Jeder bekommt daraufhin von ihm einen Bonbon.

Draußen erwartet uns Mama schon ganz neugierig: „Und, wie hat es euch gefallen?“

„Ich fand’s toll! Bin jetzt schon eine kleine Ballerina. Darf ich wiederkommen, Mama?“, frage ich.

„Na, mal sehen, aber wenn es dir so viel Freude bereitet hat, denke ich doch, dass wir dich anmelden. Und dir, Jakob, wie hat es dir gefallen?“ Jakob überlegt kurz und meint: „War okay! Aber – der Trainer hat den Ball vergessen.“ Mama schmunzelt und radelt los. Wir folgen ihr.

Wieder zu Hause angekommen ruft Ben uns von der Haustüre aus zu: „Nini, Jakob, wir spielen Räuber und Gendarm. Wollt ihr mitspielen?“ Ben nennt mich meistens Nini. Manchmal denke ich mir, dass ich für ihn etwas ganz Besonderes sein muss, wenn er mir einen selbst ausgedachten Kosenamen gibt. Ich habe mir deshalb für ihn auch einen besonderen Namen ausgedacht: Eni.

„Au ja“, rufen wir sogleich. „Ich möchte Polizist sein“, schreit Jakob.

„Wir brauchen aber noch mehr Räuber. Ihr könnt gleich mit mir miträubern“, flüstert Ben in geduckter Haltung.

Auf Zehenspitzen folgen wir Ben sofort und so leise wir können auf der Suche nach dem besten Versteck in der Nachbarschaft, um von den Polizisten nicht gefunden zu werden. Wir klettern als Erstes über den Zaun, gehen die Straße entlang und verschwinden in einem alten, unbewohnten Grundstück. Hierauf steht ein winzig kleines, leeres Haus. Im Garten befindet sich ein Plumpsklo aus Holz. Daran schleichen wir vorbei und gelangen zur knarzenden Haustüre. In diesem Häuschen haben wir schon oft gespielt. Ben hat eine Taschenlampe dabei, weil es schon etwas dämmert und die Fensterläden zu sind, sodass wir nicht viel sehen.

„Wer sind eigentlich die Polizisten?“, frage ich Ben.

„Mummel, Eva und Konstantin wollten unbedingt Gendarme sein“, antwortet er leise. Die drei gehen alle mit Ben in die Klasse. Ben setzt sich vor das Fenster zur Straße. Jakob und ich schmiegen uns möglichst nahe an Ben an. Wir lauschen und warten. Da raschelte etwas. Keiner traut sich mehr zu atmen. Nach einem kurzen Blickkontakt versuchen wir durch die Ritze im Fenster hinauszusehen. Ben macht sofort die Taschenlampe aus.

„Ist da schon jemand am Haus?“, flüstere ich. Dann ist alles wieder still.

„Vielleicht hat nur Kater Mikesch von Frau Rüppler versucht einen Vogel zu erwischen“, vermutet Ben leise.

„Eni, ich muss aufs Klo“, gestehe ich ihm. Er macht die Taschenlampe an. Wie so oft presst er seine Lippen aufeinander und zieht sie so in eine gerade Linie, wobei rechts und links Grübchen entstehen.

Mittl gutes Timing, Nini“, bekomme ich sodann zu hören. Mittl ist bei Ben alles, was er eher nicht so toll, aber auch nicht schlimm findet. Er nimmt mich an der Hand, weil er weiß, dass ich da jetzt nicht alleine rausgehen will, und führt mich durch die knarzende Tür. Jakob folgt uns, wartet aber in der Tür. Hinter einem Busch kann ich mich zum Glück erleichtern, denn in dem Plumpsklo wäre es mir jetzt zu gruselig. Auf dem Weg zurück zum Häuschen, höre ich etwas hinter mir. Ich drehe mich um. Da packt mich eine Hand am Oberarm. Mit einem Fuß hänge ich in der Luft. Ben schimpft: „Wo schaust du denn hin? Du weißt doch, dass hier der Kellerschacht ist!“

„Danke, Eni!“ Kleinlaut füge ich hinzu: „Ich dachte nur, ich höre die anderen.“

„Kommt mal wieder rein!“, klagt Jakob.

Eine ganze Weile ist nichts zu hören außer unserem Atem und einem großen Pups, der Ben rausrutscht.

„Sorry, der musste raus!“, ist seine Reaktion. Jakob und ich kichern.

„Ich glaube wir starten mal los, um uns am Stoppschild frei zu schlagen.“ Doch die Türe knarzt wieder, nur, dass keiner von uns sie bewegt hat. Wir erstarren.

„Stillgestanden!“, brüllt Konstantin uns an und fixiert uns mit seiner Taschenlampe. „Ich hab sie!“, ruft er den anderen zu.

„Okay, wir geben uns geschlagen“, meint Ben mit einer etwas gereizten und enttäuschten Stimme.

„Habt eh ganz schön lange gebraucht“, wirft Jakob ein. Da knurrt mein Magen.

„Auf geht’s zum Abendessen! Mein Bauch hat gesprochen“, bestimme ich nun den weiteren Plan. Am Gartenzaun vernimmt man von allen Seiten ein fröhliches: „Bis morgen!“ Ben ruft: „Gute Nakt zusammen! Wir fahren morgen zu Opa und Omi.“

WIR BESUCHEN OPA, OMI UND UROPA AUF DEM BAUERNHOF

„Fahren wir morgen wirklich zu Opa und Omi?“, frage ich Mama im Bad beim Zähneputzen.

„Aber ja! Omi feiert doch übermorgen Geburtstag“, erwidert Mama. Zusammen im Bett liegend beginnt Mama die Geschichte von Paul, dem Kaiserpinguin, weiterzulesen:

Kaiserpinguinmama Adele macht sich sofort auf die Suche nach Nahrung für die Kleine. Kaiserpinguinjungtiere bekommen oft nur alle drei bis vier Tage etwas zu fressen, weil die Eltern einen weiten Weg zum Meer haben. Im Sommer, wenn die Pinguinkinder größer sind und noch mehr zu essen brauchen, ist der Weg zum Jagen ins Meer nicht mehr so weit, weil viel Eis um sie herum geschmolzen ist. Glücklich gibt Papa Paul seiner Tamara ihre erste Mahlzeit. Obwohl er selber Hunger hat, würgt er Magensekret für seine Tochter heraus. Dann warten sie auf Mama Adele mit der ersten richtigen Fischmahlzeit ...

Eigentlich möchte ich unbedingt wissen, wie es weitergeht, aber plötzlich fällt mir etwas Dringendes ein.

„Du darfst schon weiterlesen, Mama“, sag ich zu ihr, streichle Mama über den Kopf, wie sie es bei mir immer macht, und gehe hinunter zu Papa, um ihm eine wichtige Frage zu stellen. Unten in der Küche angekommen stürme ich auf Papa zu: „Kriegen wir morgen unser versprochenes Eis? Du hast letztes Mal gesagt, wenn es wärmer ist …“, schreie ich Papa entgegen.

„Ganz ruhig, meine Kleine. Erstens gehörst du ins Bett, zweitens kannst du in einer ganz normalen Lautstärke mit mir sprechen und drittens, ja, es ist schönes Wetter angesagt, also bekommt ihr euer Eis.“ Papa wird immer leiser und deutet auf die Türe Richtung Treppenhaus. Er lächelt und erhascht sich noch einen weiteren Gutenachtkuss.

Mama steht schon auf der Treppe, als ich ihr in die Arme laufe: „Bin schon da und gute Nacht!“, beeile ich mich zu sagen, schon weiter auf dem Weg ins Bett.

„Gute Nakt, Nini!“, ruft Ben von der anderen Seite des Schranks.

Obwohl freie Zimmer zur Verfügung stünden, teilen Ben und ich uns einen großen Raum. Lediglich ein riesiger, weißer Schrank trennt unsere Bereiche ab. Besonders abends können wir über unsere Trennwand hinweg noch lustig sein, wie Ben es nennt. Wenn man laut spricht, versteht es der andere im „anderen Zimmer“. An manchen Abenden machen wir Geräusche und kichern dabei, bis uns Papa oder Mama schimpfend um Ruhe bitten. Dann ist es aber mindestens genauso lustig.

Tagsüber zieht sich Ben oft auf den Dachboden zurück. Dort hat er sich eine Chillecke eingerichtet. Häufig hört man ihn Gitarre spielen. Mit seinen Freunden ist er ebenfalls in der Regel dort oben. Woraufhin man das Gefühl hat, dass die Wände im oberen Stock von der lauten Musik zu wackeln beginnen.

„Schlaf gut, großer Bruder!“, erwidere ich Ben heute voller Vorfreude auf den nächsten Tag.

Bevor wir am nächsten Morgen fahren, passiert allerdings noch etwas Schreckliches: Meine Lieblingsgiraffe ist weg. Papa ist gerade dabei, unsere Sachen ins Auto zu packen, da stürme ich verzweifelt aus dem Haus.

„Papa, ohne Gigi kann ich nicht mitfahren! Wo ist meine Giraffe?“ Ich weine und schreie und kenne mich selbst kaum mehr. Mama kommt auf mich zu und nimmt mich in den Arm: „Ganz ruhig, mein Mäuschen. Wir finden Gigi bestimmt!“

„Nein, ich hab schon üüüüberall gesucht!“, schluchze ich, „Gigi, oh nein!“ Ich steigere mich so hinein, dass meine Augen wehtun und mein ganzer Kopf brummt.

„Beruhige dich, Nini! Wegen so ‘nem Stofftier brauchst du dich wirklich nicht so aufzuregen!“, meint Ben ganz irritiert von meinem Nervenzusammenbruch. Trotzdem helfen alle beim Suchen. Mama und ich machen uns oben auf die Suche, Ben unten und Papa ist sogar wegen Gigi im Garten unterwegs. Aber keine Gigi ist in Sicht! Nach einer ganzen Weile hält Papa mir die Autotür auf: „Wir müssen jetzt los, sonst kommen wir in den starken Verkehr. Wir haben einen weiten Weg vor uns.“

„Aber! …“, seufze ich nur noch leise und setzte mich nachdenklich und traurig ins Auto. Ab und zu kullert mir noch eine Träne über die Wange.

Opa Emil, Omi und der Uropa wohnen sehr weit weg, leider. Sie haben einen Bauernhof mit Kühen und außergewöhnlichen Hennen in den Bergen. Diesmal bleiben wir dort nur für ein Wochenende, da Papa wieder arbeiten muss. Auf Omis Geburtstag freue ich mich sehr, obwohl Gigi nicht dabei ist. Um mich abzulenken, lese ich in meinem Buch weiter, das Mama mir in meinen Sitzschoner gepackt hat.

Plötzlich merke ich jedoch, dass mir furchtbar schlecht wird. Die Strecke durch die Berge ist sehr kurvenreich.

„Mama, ich bin schlecht!“, rufe ich nach vorne. Da ist es auch schon zu spät.

„Nini ist übergelaufen“, fügt Ben hinzu. Er hat mir in letzter Sekunde seine Mütze hingehalten. Papa hält sofort am Straßenrand und Mama holt mich aus dem Auto.

Die frische Luft tut gut.

„Ben, da hast du aber toll reagiert. Jetzt ist wenigstens nicht das ganze Auto voll.“

„Nur meine Lieblingsmütze, die kann ich jetzt wegschmeißen“, sagt Ben etwas angeekelt von der Mütze, die er noch immer in den Händen hält. Doch Mama nimmt sie ihm ab und meint: „Die bekomme ich schon wieder sauber, keine Sorge!“ Sie steckt die Mütze in eine Plastiktüte und macht einen festen Knoten hinein. Nachdem ich einen kleinen Schluck Wasser für einen besseren Geschmack im Mund getrunken habe, fahren wir nach etwa fünf Minuten weiter. Fast die ganze restliche Fahrt trällern wir nun alle uns bekannten Lieder rauf und runter, denn Mama ist überzeugt, dass Singen gegen Übelkeit hilft. Ich liebe es, wenn wir gemeinsam im Auto singen. Mama kennt alle Texte auswendig. Eine Stunde lang können wir uns so gut die Zeit vertreiben.

Als wir endlich am Ziel sind, kommt Opa Emil sofort aus dem Kuhstall und begrüßt uns freudestrahlend. Ben und ich laufen ihm in die Arme. Es dauert nicht lange, da hat Ben Opas neues Auto entdeckt, ein nigelnagelneuer schwarzer Mercedes.

„Darf ich mich mal reinsetzen?“, ertönt es sofort aus Bens Mund. Schon sitzen er und Opa begeistert im neuen Wagen. Ich geselle mich auf der Rücksitzbank dazu und beobachte Ben, wie er auf all die vielen im Auto verteilten Knöpfe drückt. Mama klopft gegen die Scheibe und ruft: „Verstell Opa nicht alles!“, woraufhin Opa mit stolzer Miene: „Lass ihn halt!“ erwidert. Doch bald schon wird es unter Opas Po ziemlich heiß.

 

„Ben, wo hast du die Sitzheizung angestellt? Mir ist zu heiß.“ Bens Lächeln entnehme ich, dass er genau weiß, wohin er drücken müsste. Kurz lässt er Opa noch zappeln und schwitzen, schaltet dann jedoch die Sitzheizung wieder aus.

„Schau, Opa Emil, hier sind die Regler für die Sitzheizung“, erklärt er seinem Großvater mit geschwollener Brust.

In dem Moment öffnet Papa die Autotür: „Kommt raus ihr zwei! Wir gehen Omi und den Uropa in der Küche begrüßen.“ Omi kommt uns im Hausflur bereits überglücklich entgegen: „Da seid ihr ja! Ich freue mich so euch zu sehen!“ Nachdem wir mit dem Begrüßen fertig sind, stellt Omi die entscheidende Frage: „Ihr habt bestimmt Hunger, stimmt’s?“

„Au ja, es duftet so gut nach deinem Schweinebraten mit Rosmarinkartoffeln“, schwärmt Ben, bevor er die Küche betreten hat. „Ich freu mich schon aufs Sachen-Aufessen“.

„Hundeschnauze!“, ärgere ich ihn daraufhin.

„Das Menü hast du gut erraten, Ben! Semmelknödel hab ich auch noch gemacht. Die magst du ja so gerne, gell, Lena?“

„Mmmh“, ertönt es aus meinem schon vollen Mund, den bereitgestellten Omiknödeln kann ich nicht widerstehen.

„Lena, wir essen alle gemeinsam am Tisch!“, grummelt Mama.

„Lass sie halt!“, antworte ich Mama nur, so wie Opa Emil es vorher zu ihr gesagt hat, als Ben sich im Auto vergnügte.

Beim Essen versucht Ben alle Zutaten aus Omis Gericht herauszuschmecken, während Uropa wie so oft nur damit beschäftigt ist, mit einer Fliegenpatsche Fliegen zu fangen. Ab und zu erwischt er eine. „Diese ekligen Viecher“, schimpft er dann. Koriander erkennt Ben immer sofort, denn den mag er besonders gerne. Ich kenne da keinen Unterschied.

„Du wärst bestimmt ein guter Koch, wo du so eine feine Nase und auch Zunge hast!“, wirft Opa Emil ein.

„Vielleicht“, sagt Ben nachdenklich.

„Aber eigentlich möchte ich etwas ganz Großes machen, die Welt irgendwie verändern. Mal seh’n!“

„Ich will mal was mit Tieren machen“, platzt es aus mir heraus.

„So?“, wundert sich Mama.

„Jaaahh, vielleicht ‘ne Hendlbraterei.“ Alle bis auf Uropa, weil dieser so schlecht hört und bestimmt nichts mitbekommen hat, lachen. Wodurch ich nur geknickt schaue und mich nicht ernst genommen fühle.

„Ihr seid gemein!“, unterbreche ich ihr Gelächter.

„Schatz“, meint Papa, „das ist doch nicht böse gemeint. Es ist nur lustig, da man bei einem Beruf mit Tieren, eher an einen Tierarzt oder so denkt.“

„Aber das sind doch auch Tiere!“, erwidere ich.

„Du hast schon recht!“, pflichtet Ben mir bei, während er dem Uropa ungefragt ein Stück Fleisch vom Teller stibitzt.

Uropa ist schon sehr alt. Als wir das letzte Mal hier waren, konnte er gar nicht alleine essen. Heute scheint es ihm wieder besser zu gehen. Er vergisst meist sein Hörgerät einzusetzen und sitzt deshalb oft nur etwas teilnahmslos dabei. Jetzt aber lacht er über das ganze Gesicht. So strahlen sieht man ihn eigentlich nur, wenn Ben irgendwelche lustigen Sachen macht. Dabei funkeln seine noch jungen Augen und er ist für einen Moment ganz präsent und glücklich. Ben drückt dabei wie so oft seine Lippen aufeinander und lächelt verschmitzt und ebenfalls glücklich.

„Wenn alle fertig sind, gehen wir raus, oder?“, schlägt Opa Emil freudig vor.

„Unsere Mutterkuh müsste bald ihr Kaibal bekommen. Vielleicht schauen wir in den Stall. Habt ihr Lust?“

„Auf jeden Fall!“, rufen Ben und ich im Chor, schon ab durch die Mitte Richtung Haustüre.

„Wir räumen für euch mit auf!“, ruft uns Mama mit Nachdruck hinterher.

„Merciii“, ertönt es aus Bens und meiner Richtung, als wir gerade zur Türe hinauslaufen, um unsere Stallklamotten anzuziehen. Diese hängen im Waschraum immer für uns bereit.

Die Arbeit in Opas und Omis Stall macht richtigen Spaß. Immer, wenn wir zu Besuch sind verbringen wir viel Zeit dort. Ben und ich dürfen ausmisten helfen und die Kühe mit frischem Heu füttern. Das Tolle an dem Kuhstall ist, dass es darin nicht so stinkt, wie in den Ställen, in denen ich sonst schon war. Wahrscheinlich weil das große Tor immer auf ist und Opa Emil und Omi sehr oft ausmisten. Die Kühe können frei im Stall umhergehen sowie jederzeit auf die große Weide hinter dem Stall ins Freie hinaus. Wenn Oscar, das ist der große Stier, den Stall verlässt und sich auf die Weide begibt oder von der Weide Richtung Stall unterwegs ist, folgen ihm nach und nach alle anderen Kühe. Das ist sehr lustig zu beobachten. Sogar die kleinen Kälbchen, die sich beim Laufen mit ihren dünnen Beinen schwer tun, stolpern hinterher. Jeden Tag bekommen sie extra für sie frisch gemähtes Gras. Opa Emil mäht von der großen Wiese immer nur so viel, wie die Kühe ungefähr am Tag fressen.

Als wir mit der anstrengenden, aber schönen Arbeit im Stall fertig sind und gerade gehen wollen, ist es tatsächlich so weit. Opa ruft uns zu: „Holt Omi! Erna kalbt!“ Ben und ich laufen schreiend in die Küche und holen die anderen. Omi gibt uns gleich verschiedene nützliche Dinge mit: Tücher, einen Eimer mit warmem Wasser und besonders lange Handschuhe. Aufgeregt kehren wir sofort zu Opa Emil in den Stall zurück. Dort angekommen hängen tatsächlich bereits ein Kopf und zwei knöcherne Vorderbeine aus der Kuh heraus. Alles ist voll Blut, auch Opa. In der Zwischenzeit hat Opa Emil auf dem Boden ein Laken ausgebreitet. Sein linker Arm steckt bis über den Ellenbogen in der Kuh. Papa, Mama, Omi und Uropa im Rollstuhl treffen bei uns ein. Opa und Omi wissen genau, was zu tun ist. Omi hat auch Handschuhe und einen Kittel an. Jeder Handgriff sitzt, sodass schon bald ein Kalb aus der Kuh herausflutscht und vor uns auf dem Boden liegt.

„Ist schon immer wieder aufregend, so eine Geburt!“, schnauft Opa beim Ausziehen von Kittel und Handschuhen.

„Aber“, blicke ich Opa Emil ganz verwirrt an, als ich mich zu ihm auf einen Strohballen setze, „wie bringen wir die Kuh da jetzt wieder rein?“

„Ach, meine kleine Prinzessin, das Kälbchen bleibt jetzt bei uns und wird irgendwann auch eine große Kuh sein“, erwidert Opa und nimmt mich dabei lächelnd in den Arm.

Omi hatte wohl gleich den Tierarzt angerufen, denn dieser kommt schon zur Stalltüre herein. Er hantiert mit verschiedenen Geräten, wobei ihm ein länglicher Stab abbricht.

„So a Glump!“, pflichtet ihm der Uropa bei. Nach seinen Untersuchungen meint der Tierarzt zum Glück, dass bei unserem neuen Kälbchen alles in Ordnung sei.

Draußen wird es schon dunkel, als wir den Stall verlassen. Von dem freudigen und berauschenden Ereignis sind alle ganz erschöpft. Gemeinsam räumen wir unsere Sachen aus dem Auto und beziehen unsere Zimmer. Papa und Mama schlafen in Mamas altem Kinderzimmer, Ben und ich bekommen das gemütliche kleine Zimmer am Ende des Flurs. Dort tollen wir fröhlich umher, bis wir von unten „Brotzeit“ vernehmen. Wie der Blitz beeilen wir uns zum Tisch zu kommen, sind die besten Plätze doch die auf der Eckbank. Geschafft! Ben und ich sitzen.

„Mit dem Helfen habt ihr’s heute nicht besonders“, bemerkt Papa etwas vorwurfsvoll. Alle genießen in Ruhe die reichhaltige und liebevoll zubereitete Brotzeit.

Beim Abräumen fragt Opa Emil uns, was wir uns denn alles so wünschen. Er zieht einen dicken Spielzeugkatalog unterm Tisch hervor und beginnt zu blättern. Mamas Blick entnehmen wir, dass sie über dieses Thema nicht besonders erfreut ist.

„Ich hab dir schon so oft gesagt, dass dich die Kinder genauso gerne haben, auch wenn sie nur wenige Geschenke bekommen“, sagt Mama zu Opa energisch.

„Wenn ich ihnen aber so gerne etwas schenke, solange ich noch kann!“, reagiert Opa ebenfalls etwas genervt, da dieses Thema oft ein Streitpunkt zwischen den beiden ist.

Von Opa Emil bekommen wir immer irgendetwas. Manchmal war er zuvor auf einem Flohmarkt und hat dort viele tolle Sachen für uns gekauft. Im Moment trauen wir uns allerdings gar nicht mehr so richtig in dem Katalog weiterzublättern. In Zeitlupe machen wir es doch.

„Wow, da ist ja ein Handy. Ist das ein Richtiges?“, frage ich ganz begeistert. Papa und Mama verdrehen gleichzeitig die Augen.

„Jetzt hast du es wieder geschafft! Mit Ben haben wir endlich eine Vereinbarung ausgehandelt, und nun bringst du Lena auf den Geschmack. Denk gar nicht daran, ihr so etwas zu kaufen!“, schnauzt Mama Opa an und geht zur Küchentüre hinaus.

„Vielleicht reden wir ein anderes Mal über eure Wünsche. Ich glaube, es ist eh schon Bettgehzeit“, meint Opa daraufhin etwas enttäuscht.

Im Bett erzählt uns Omi noch eine schöne Geschichte über Murmeltiere. Ich liebe Omis Geschichten vor dem Einschlafen. Manchmal waren sie allerdings auch ein bisschen gruselig.

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