Seidenkinder

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Christina Brudereck

Seidenkinder

Roman


Impressum

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

ISBN 9783865064417

1. Auflage 2008

© 2006 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Miriam Gamper, www.dko-design.de

Titelfoto: Getty Images

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Die Namen und ihre Bedeutung

Danksagung

Für die,

von denen diese Geschichte handelt.

Für Katharina und Stefan,

die mich mit ihrer Liebe zu Indien beschenkten.

Für Jaya,

der handelt, liebt und schenkt.

grace

a thought, that changed the world

(Bono)


Kapitel 1

Trockenheit und Hitze. Ihr war, als würde sie Staub atmen. Sie rieb sich gedankenverloren ihre alten Hände. Die dunkle Haut war spröde. Der Palar war jetzt seit Wochen ein Fluss ohne Wasser. Heute fühlte sie sich sehr müde. Ein Fluss ohne Wasser ist etwas sehr Trauriges, dachte sie. Wie ein Lied ohne Melodie; ein Lied, das niemand singen kann. Sinnlos. Wie ein Mensch, der nicht liebt und nichts zu schenken hat. Ohne Wasser kein Fluss.

In Gedanken wanderte sie wieder am Palar entlang. Seit ihrer Kindheit hatte der Wasserstand über Glück und Unglück entschieden. In der Regenzeit hatte der Monsun den Fluss immer über die Ufer treten lassen, im trockenen Winter dagegen konnte aus dem großen Fluss ein kleiner Bach werden. Sie konnte sich aber nicht daran erinnern, dass er früher jemals so vollkommen ausgetrocknet gewesen war wie heute. Irgendwie schien dieses Land mit seinen Flüssen, Bergen und Wäldern noch mehr aus dem Gleichgewicht geraten zu sein. Sie wusste nicht, warum. Als kleines Mädchen hatte sie Hochwasser und Trockenheit, Regen und Sonne einfach so hingenommen, irgendwie sicher von den Göttern gelenkt. Heute ahnte sie zumindest, dass es für einige dieser Phänomene, Überflutung und totale Dürre, sehr menschliche Erklärungen gab - aber das war nur eine Ahnung, sie durchschaute die Zusammenhänge nicht. Aber sie könnte ihren Sohn danach fragen.

Sie hatte hier schon als ganz junges Mädchen Wäsche gewaschen, um sie dann gleich auf den großen Wiesen trocknen zu lassen. Unter Indiens Himmel brauchte ein Sari nicht einmal eine halbe Stunde und alles Wasser war in der heißen Sonne verdampft. Sie dachte an die bunten Farben und an die flinken Hände ihrer Tante, an die anderen Kinder, mit denen sie gespielt hatte. In ihrer Erinnerung verschwammen die Kleider, die Hitze, das Wasser und die Nähe ihrer Freundinnen zu einem vagen Gefühl von Geborgenheit. Das alles war lange her. Wieder einmal wunderte sie sich, dass auch aus schweren Zeiten leichte Bilder und Eindrücke für eine Seele zurückbleiben konnten.

Sie musste wohl eingenickt sein und als sie jetzt aufwachte, war sie kurz verwirrt. Ihre Erinnerungen waren weiter bis in ihre Träume mitgegangen und hatten dort Gefühle wachgerufen, die doch eigentlich für immer schlafen sollten. Sie blieb noch für einen Moment in ihrem Schaukelstuhl sitzen, schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu verjagen wie eine lästige Fliege. Dann stand sie für einen Moment da, sah sich um und machte sich an die Arbeit, die Reste des gestrigen Abends zu beseitigen.

Gestern Abend. Sie hatten Gäste gehabt. Vier Amerikaner. Hier in ihrem kleinen Haus. Sie arbeitete heute langsam und erlaubte den Gedanken, sie zu unterbrechen.

„Priya, dies ist dein Zuhause“, sagte sie beruhigend zu sich selbst. Wenn man bedachte, wo sie herkam und dass sie lange überhaupt kein Zuhause gehabt hatte, konnte sie nur staunen. Ihr kleines Haus war ein sauberes Haus, in dem es kühl war. Der Steinboden hatte bunte Kacheln, die sie sehr mochte. Die Wände waren weiß. Im kleinen Vorhof zur Straße stand ein Mangobaum, der sogar Früchte trug, weil er von ihrem Sohn gut gepflegt wurde. Drei Stufen führten zur Haustür - eine Hütte hatte niemals eine Treppe - und sie mochte es, dort zu sitzen, am frühen Abend, wenn die Steine noch warm waren von der Sonne und ihr Sohn gleich nach Hause kommen würde. In ihren Augen war das alles hier wunderbar.

Gestern hatte sie den Gästen ein Festessen serviert, mit Gemüse, Fisch, Fleisch und Curry und verschiedenen Sorten Nan. Sie hatte den ganzen Tag in der Küche gearbeitet und die Speisen so zubereitet, wie sie es gelernt hatte. Nicht wie andere junge Mädchen von ihrer Mutter, sondern später, als Haushälterin, mühsam und mit vielen Nachfragen. Sofort hatte sie die Küche vor Augen, in der sie so lange Jahre Stunden um Stunden gearbeitet und allmählich ihr Glück gefunden hatte.

Sie reiste in letzter Zeit oft in die Vergangenheit, hatte sie festgestellt. Erinnerungen holten sie ein. Vielleicht war das so, wenn man alt wurde? Ließen dann alle ihr Leben noch einmal an sich vorbeiziehen? Gehörte das dazu - wie eine Vorbereitung auf den nächsten Schritt? Sie stand da, in ihrer eigenen Küche jetzt, eine der Schüsseln von gestern Abend in der Hand, und wie im Traum ging sie mit ihrem Zeigefinger den Schüsselrand entlang, führte ihn zum Mund und schmeckte genussvoll die Mischung aus Linsen, Knoblauch, Safran und Öl. Ein Rezept, das der Junge, der bei ihnen lebte, Ganesh, erst kürzlich mit in ihr Leben gebracht hatte.

Noch einmal ging sie mit dem Finger durch die Schüssel. Naschen, dachte sie kurz, das war auch so eine kleine Regung, die es nur dann gab, wenn genug zu essen da war. Arme hatten nichts zu naschen, sie wusste es noch. Bevor die Erinnerung sie wieder mitreißen konnte, zwang sie sich, mit ihren Gedanken zum gestrigen Abend zurückzukehren. Es erschien ihr wichtig, zu verstehen, was in ihrem Haus geschehen war, ausgesprochen und zwischen den Zeilen.

 

Zufrieden hatte sie zugesehen, wie die Gäste jede ihrer Spezialitäten genossen. Ungewohnt, das wusste sie, weil man ihnen kein Besteck, nicht einmal einen Löffel gegeben hatte, sondern sie nötigte, mit der Hand zu essen. Ja, sie waren zu Gast in Indien und wurden deshalb großzügig bewirtet. Es war immer eine Ehre, einen Gast zu haben. So hatte sie es gelernt und so vermittelte sie es Ganesh. So war es richtig. Aber von Gästen wurde gleichzeitig auch erwartet, dass sie einige ihrer indischen Bräuche mitmachten. Es war wie ein kleiner Scherz, eine Art freundlicher Seitenhieb gegen die sogenannte Zivilisation. Bei dem Gedanken musste sie lächeln und das Bild von den weißen Händen, die unerfahren ihr Essen zum Mund führten und sich danach zu sehnen schienen, einen Löffel zu halten, entlockte ihr sogar kurz ein richtiges Lachen, ein Glucksen von tief innen.

Früher war sie schüchtern gewesen, wenn Gäste kamen. Geschäftsleute, Missionare, Gelehrte waren Menschen, die weit gereist waren und viel von der Welt gesehen hatten. Wer war da sie? Priya, Mutter, Haushälterin, Köchin, Inderin, lebenslang? Eine alte Frau in einem Sari. Sie zupfte den Stoff zurecht, Seide, hellgelb, von feinen Goldfäden durchzogen und mit einer aufwendig verzierten Schmuckborte am Saum. Eine Bahn feinstes Tuch, geschickt gewickelt, einmal um die Hüften gedreht, über die eine Schulter gelegt, gewickelt, über der Choli, der engen Bluse. Noch einmal strich sie mit ihren trockenen Händen über die Seide. Eine fünf Meter lange Stoffbahn, die ganz ohne Nähte, Knöpfe und Reißverschluss auskam und einfach, aber gekonnt um einen Körper gehüllt wurde. Zusammengehalten höchstens von ein paar Sicherheitsnadeln, versteckten kleinen Helferinnen. Ein Sari verlieh Würde, jede Frau wusste das. Auf geheimnisvolle Weise sagte dieses Kleidungsstück jeder, die es trug, dass sie selber einzigartig sei. Das war der Zauber der Farben, der Seide, der Stickereien. Sie atmete tief durch. Seide, sie war fein und stark gleichzeitig, so wie ein Mensch sein sollte. Indien steckte voller Schätze und es war richtig, sie zu zeigen, andere damit zu beschenken, sie selber immer wieder für sich zu entdecken.

Über die Jahre hatte sie sich immer häufiger von ihrem Sohn überreden lassen, sich nicht in der Küche zu verstecken oder sich in ihr Zimmer zurückzuziehen, sondern auf ihre Weise Teil der Gemeinschaft zu sein.

Früher hatte es diese Möglichkeit zum Rückzug gar nicht gegeben, keinen solchen Schutz der Privatsphäre. Aber hier hatte sie ein eigenes Zimmer. Sie konnte sich noch genau an die erste Nacht darin erinnern, als sie vor etwa zehn Jahren hier eingezogen waren. Am Tag hatte sie die Küche eingeräumt und war dann zwischendurch immer wieder den kleinen Flur entlang zu ihrem Zimmer gelaufen, hatte die Tür geöffnet, vorsichtig in den Raum geschaut und war dann zufrieden wieder zurück in die Küche gegangen. Über die Schwelle wollte sie erst am Abend gehen. Feierlich. Und bis dahin würde sie sicher noch ein paar Mal hinlaufen, wie um zu sehen, ob es noch da war und nicht nur ein Traum.

Damals, vor Jahren, an jenem ersten Abend hier in ihrem neuen Haus, hatte sie den Moment, schlafen zu gehen, noch eine Weile hinausgezögert, hatte dann schließlich ihrem Sohn eine gute Nacht gewünscht und war in ihren Saal getreten. Ja, so fühlte es sich immer noch an: groß und prächtig und sicher. An der einen Wand stand ein Bett mit einer Matratze, einem hellen Laken und einer gewebten grünen Decke. Darüber hingen ein Bild von Teresa und eine Ikone, die eine schwarze indische Maria mit ihrem Baby zeigte. In einer Ecke stand ein Stuhl. In einem Regal lagen ihre Kleider und ihre Habseligkeiten: einige sorgfältig gefaltete Saris, ein zweites Paar Sandalen, ein paar Bänder fürs Haar, ihre alte Brille, ein Stück Seife, eine Bibel. Unter dem Bett konnte sie ihren Koffer erkennen. Das war ihr Reich. Sie hatte es an jenem Abend nicht begreifen können und verstand es immer nicht so recht. Sie konnte jetzt eine Tür schließen und man würde anklopfen, wenn man etwas von ihr wollte. Sie würde so etwas sagen wie „Ja, bitte, gerne, herein, willkommen“ und sich freuen, dass jemand zu ihr kam.

Sie hatte sich damals in der ersten Nacht zuerst einmal vor ihr Bett gekniet und ihre Gebete gesprochen. Eine ganze Weile. Dann hatte sie sich in ihr Bett gelegt, aber ihre Augen konnten nicht schlafen und waren nicht zu überreden, sich zu schließen. Sie mussten schauen und durch ihren Saal wandern, streifen, ja schreiten. Das kleine Fenster, das ein bisschen Licht und Geräusche von der Straße hereinließ, die Tür mit dem Spalt, der ihr zeigte, dass noch Licht im Wohnzimmer war und ihr Sohn also noch wach, der Kleiderhaken mit dem Bügel und ihrem Sari, den sie heute getragen hatte. Das alles war ihres. Immer wieder schüttelte sie ungläubig den Kopf. Sie hatte kaum geschlafen in dieser Nacht und am nächsten Morgen wieder gedacht: Was für ein Luxus! Ein ganzes großes Zimmer für ein paar Stunden in der Nacht und wenige kleine Momente während des Tages. Ein Schlafzimmer für eine alte Frau und dann hatte sie noch nicht einmal darin geschlafen, sondern hatte wach gelegen. Ob sie das Zimmer wirklich brauchte, war eine andere Frage, aber sie wollte es würdigen und dankbar dafür sein; zurückziehen aber würde sie sich hierhin selten, das wusste sie schon. Je älter sie wurde, desto mehr liebte sie es, mit anderen zusammen zu sein.

Gestern Abend also hatte sie sich nicht zurückgezogen, sondern war dazugekommen. Sie hatte wie selbstverständlich in ihrem Sessel Platz genommen und von hier aus den restlichen Abend über die ganze Szene beobachtet. Ihrem Sohn zuliebe, sagte sie sich zwischendurch ein paar Mal, wie zur Vergewisserung, dass es richtig war. Wenn sie ehrlich war, wusste sie aber, dass sie inzwischen selber sehr gerne Teil dieser Gastrunden war.

Ein undeutliches Bild entstand vor ihren Augen. Es war der Moment, als sie die Mangos serviert hatte. Die Gäste hatten die sorgfältig in kleine Stücke zerlegten, zuckersüßen Früchte ganz andächtig gegessen. Ein fast heiliger Moment. Voller Staunen. Sie nickte innerlich und dachte: Ja, es gibt viele Arten zu beten. Das Sprechen mit dem ganz anderen ist manchmal ein Reden, dann wieder ein mehr schweigendes Hören, es kann auch ein Aufschrei sein oder ein abgrundtiefer Seufzer. Mancher kniet sich hin, so wie sie selbst, andere liegen abends in ihrem Bett, wieder andere gehen nach draußen vor die Tür, vielleicht weil der Himmel dort nicht so versperrt wirkt. Es gibt viele Arten, zu beten, oh ja. Gestern Abend hatten ein paar Gäste sorgfältig zerlegte zuckersüße Mangos gegessen. So konzentriert, aufmerksam, genießerisch, in sich versunken, abwesend, andächtig, einige schlossen sogar für einen Moment die Augen. Sie schmunzelte. Noch einmal dachte sie, berührt von dieser kleinen Entdeckung, die ihr sofort heilig wurde: Es gibt viele Arten zu beten, aber so, Mangos genießend, hatte sie es gestern Abend zum ersten Mal gesehen.

Dem Gespräch hatte sie nicht folgen können, die schnellen englischen Wörter flogen an ihr vorbei wie bunte kleine Vögel. Gezwitscher.Sie wusste, wenn sie wollte, konnte sie sich trotzdem jederzeit in das Gespräch einmischen, überraschend, aus dem Sessel in der Ecke. Sie war alt und genoss Respekt. Schließlich, auch das durfte man nicht vergessen, war sie ja seine Mutter. Priya, wie ihr Name sagte, geliebt. Und so erzählte sie manchmal eine ihrer Lieblingsgeschichten, wohl wissend, dass ihr Sohn die Geschichte schon kannte und die Gäste ihrer Muttersprache, Tamil, so wenig folgen konnten wie sie ihren englischen Worten. Aber keiner hatte es jemals gewagt, sie zu unterbrechen. Man sah sie in diesen Momenten dann interessiert an, nickte sogar zu ihren Worten und sie plauderte eine Weile. Bis sie die Lust verließ, ihr kleines Spiel zu spielen und sie ihre Hände über dem Bauch faltete, sich zurücklehnte und wieder schweigend in ihrem Sessel saß. Sie tat es mit einem Lächeln. Und ihr Sohn hatte ihr einmal gesagt, dass man dieses Lächeln „wissend“ nenne. Das hatte ihr gefallen. Denn es wirkte dann so, als würde sie ein Geheimnis kennen. Und vielleicht war das ja gar nicht so falsch.

An die Spüle gelehnt, stand sie da und sah aus dem Fenster. Sie füllte ein Glas mit Wasser und trank ein paar kleine Schlucke. Sie dachte an ihre Kinder. Sie alle waren erwachsen geworden und hatten etwas gelernt. Sie fühlte sich kurz wie eine Heldin. Ihr Ältester, Jaya, war sehr dunkel. Dunkler als sie, das war das, was wohl jeder als Erstes wahrnahm. Seine Haut war schwarzbraun und glatt. Sie sah ihn vor sich: Er war immer sorgfältig rasiert und trug sein Haar, das an den Schläfen ganz allmählich weiß wurde, kurz - ein interessanter Kontrast zu seinem Gesicht. Er wirkte schmal und klein, besonders heute im Verhältnis zu den ausländischen Gästen. Sein hellblaues Hemd ließ ihn frisch aussehen und fiel großzügig über den kleinen Bauchansatz. Aber das Auffälligste blieb sein Gesicht: Sein kräftiges Kinn zeigte seine Willensstärke, seine klugen Augen, wie wach er war. Er hatte immer viel gearbeitet, als Kind schon, und er liebte Menschen.

Als sie gestern Abend schließlich müde vor ihrem Bett kniete, ihren Knien sah man dieses Ritual nach den vielen Lebensjahren an, hatte sie den Gott, dem sie vertraute, wieder einmal darum gebeten, er möge ganz besonders gut auf das Herz ihres Sohnes aufpassen und ihm göttliches Licht und Leichtigkeit schenken.

Sie dachte an die Zeit zurück, als er zur Welt gekommen war. Wie schwierig alles war, weil ihr Mann in den ersten Jahren monatelang weit weg in Sri Lanka gearbeitet hatte und trotzdem nur sehr wenig Geld für sie zu Hause erübrigen konnte. Sie war Mutter von vier Kindern und dann Witwe und Mutter und eigentlich die ganze Zeit über immer schon vollkommen auf sich gestellt gewesen. Aber sie hatte großes Glück gehabt, hatte Arbeit gefunden und ihre Kinder hatten alle zur Schule gehen können, das Mädchen und die Jungen. Sie waren alle lebhaft und fleißig und man hatte sie unterstützt. Sie hatten ihre Chance erkannt und wahrgenommen, ja wahrhaft ausgeschöpft.

Als sie heute Morgen aufwachte, war Jaya schon weg gewesen. Sie merkte beim Aufräumen bald, dass es dabei nicht um die paar Teller und Schüsseln ging, sondern vor allem um die verschiedenen Eindrücke, die diese Gäste in ihrer Seele hinterlassen hatten.

Wieder schüttelte sie den Kopf, aber die Gedanken ließen sich nicht verjagen. Die Mischung aus Fremdheit und Dankbarkeit, die sie gegenüber dieser Art von Gästen jedes Mal empfand, brachte Unruhe in ihren Kopf. Ein irritierendes Durcheinander von Gefühlen, Erinnerungen und Verpflichtungen. Die Gewissheit, dass sie die größte Verbundenheit immer ihrem Sohn entgegenbringen würde, schenkte ihr vorläufig Frieden.

Um sich abzulenken, stellte sie den Fernseher an. Er brachte Bilder und Worte in ihr kleines Haus, er brachte die Welt zu ihr. Ein Freund kam manchmal abends vorbei, um mit Jaya die Nachrichten anzusehen, und meinte dann oft kopfschüttelnd, so ein Fernseher sei doch ein Wunder. Aber da hatte sie nur jedes Mal entschieden widersprechen können. Ein Fernseher zählte zu den Phänomenen, die dieser Freund und sie selber nicht erklären konnten, aber sie wusste, es gab Menschen, die diese Dinge sehr gut begreifen, verstehen und sogar weiterentwickeln konnten. Ein Wunder aber war etwas vollkommen anderes. Und das sollte er eigentlich auch wissen. Ein Wunder war ein Ereignis einer ganz anderen Dimension.

Die aktuelle Sendung zeigte, dass mehrere Tausend Reisbauern in Chattisgarh verhaftet worden waren. Das weckte ihr Interesse. Die Männer, Frauen und Kinder hatten das Demonstrationsverbot missachtet, waren in den Bus der Polizei gesetzt und zur Polizeistation gebracht worden, wo man wohl ihre Namen aufgeschrieben und sie dann wieder hatte gehen lassen. So etwas kam immer mal wieder vor. „Saatgut-Satyagraha“ nannten sie ihre Aktion.

Sie musste lachen, ein feines Kichern jetzt, das Einverständnis ausdrückte und Zufriedenheit, weil ihr klar wurde, dass diese mutigen Bäuerinnen und Bauern eigentlich nur taten, was sie im Geschichtsunterricht gelernt hatten, falls sie zur Schule gegangen waren. „Satyagraha“, das war ziviler Ungehorsam. Satyagraha war die gewaltlose Bewegung für die Wahrheit, für die Freiheit Indiens, gegen die Fremdherrschaft durch die Kolonialmacht, gelernt aus den Büchern oder, wie man auch sagen könnte, vererbt von Gandhi, einem ihrer wirklich Großen. Und diese Methode hatte nicht nur politische Freiheit durchgesetzt, sie überzeugte bis heute als Mittel, um politische Ziele zu erreichen. Aber sie verstand nicht genug von den Zusammenhängen, um wirklich zu erkennen, wofür diese Bauern kämpften. Intuitiv aber war sie auf ihrer Seite und stimmte ihrem Anliegen innerlich zu.

 

Auch danach würde sie ihren Sohn heute Abend fragen. Worum ging es bei dieser Satyagraha der Reisbauern? Sie wollte es wissen. Sie mochte alt sein, aber noch lebte sie schließlich in dieser Welt.