Yasemins Kiosk – Eine bunte Tüte voller Lügen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Yasemins Kiosk – Eine bunte Tüte voller Lügen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Christiane Antons




Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek



Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de

 abrufbar.



© 2020 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH



Cäcilienstraße 48, D-50667 Köln



Internet:

http://www.grafit.de



E-Mail: info@grafit.de



Alle Rechte vorbehalten



Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Shebeko (Lakritzschnecke), supawat bursuk (Pistole), alazur (Krone), Alexandra Lande (Palmenfruchtgummi), elbud (Kronenkorken), Suti Stock Photo (Holzplatte), Alejo Miranda (Fruchtgummi, herzförmig), Nataly Studio (Gummibärchen)



Gestaltung Innenteil: César Satz & Grafik GmbH, Köln



Lektorat: Ulrike Rodi



E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck



eISBN 978-3-89425-680-7



1. Auflage 2020




Christiane Antons, geboren 1979 in Bielefeld, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Bielefeld. Sie absolvierte in Herford ein Hörfunkvolontariat beim Lokalradio und arbeitete mehrere Jahre als freie Mitarbeiterin für verschiedene Sender. Seit 2008 ist sie beim Westfälischen Literaturbüro in Unna e. V. tätig. Nach Stationen im Ruhrgebiet und Rheinland lebt sie heute wieder in Ostwestfalen.





www.christianeantons.de






Wer auf den Zehen steht, steht nicht fest.

Wer mit gespreizten Beinen geht,

kommt nicht voran.

Wer selber scheinen will,

wird nicht erleuchtet.

Wer selber etwas sein will,

wird nicht herrlich.





aus: Lăozĭ, Dàodéjīng




Prolog



Vor einem Jahr war sie vierzig geworden. Und seine Welt war noch in Ordnung gewesen. Er liebte den Blick von hier oben, er liebte die Plattenbauten von Marzahn. Makellose Schönheit hatte ihn schon immer gelangweilt. Anlässlich der internationalen Gartenausstellung hatte er mit seinen Studenten einen Rundgang durch den Bezirk konzipiert, der die Besucher über die Geschichte der einst größten Plattenbausiedlung Europas informierte. Über den ersten Spatenstich unter dem DDR-Regime im Jahr 1977. Über die Gegenwart, die blumiger war, als manche es glauben mochten: Marzahn war eine der grünsten Ecken in der Hauptstadt. Und über die Zukunft, denn es entstanden neue Plattenbauten. Die einhundertfünfundsechzig schicken Wohnungen würden im kommenden Jahr fertiggestellt sein.



Das würde er allerdings nicht mehr erleben. Er schaute kurz in die Tiefe, doch das war keine gute Idee, das ließ den nächsten Schritt nur schwerer erscheinen. Deshalb konzentrierte er sich wieder auf den Horizont.



Die Rede zur Einweihung des neuen Wohnkomplexes, die er bereits als Rohfassung auf seinem Computer abgespeichert hatte, würde nun jemand anderes halten müssen. Das war ein Jammer. Aber spätestens in ein paar Tagen hätte ihn sowieso die Bezirksbürgermeisterin angerufen und ihm mitgeteilt, dass sie sich unter diesen Umständen leider um einen anderen Redner würde bemühen müssen.



So wie ihm auch der Dekan vergangene Woche mitgeteilt hatte, dass er unter diesen Umständen keinesfalls weiter lehren durfte. Ja, er wüsste natürlich um seine Verdienste für die Fakultät. Und ja, er war ebenfalls davon überzeugt, dass die Vorwürfe haltlos seien. Aber sie waren nun mal in der Welt und allein das Gerücht – ein Professor, der des sexuellen Missbrauchs beschuldigt wurde – sei für die Uni untragbar. Zudem stünde die unangenehme Sache mit der Doktorarbeit noch aus. Selbst wenn am Ende alles zu seinen Gunsten ausginge – ein Makel würde bleiben, da dürfte man sich nichts vormachen. Er als Dekan habe ja auch Verantwortung zu tragen. »Versuch es doch positiv zu sehen«, hatte der langjährige Weggefährte ihn aufbauen wollen. »Mein Ratschlag: Du hast das Pensionsalter fast erreicht. Begib dich etwas früher in den Ruhestand und genieße ab jetzt die schönen Dinge des Lebens.«



Doch sein Lebensinhalt war einzig die Lehre und Forschung. Alles, was ihm lieb und teuer gewesen war, lag nun in Schutt und Asche.



Mit einer Ohrfeige am vergangenen Freitag hatte es begonnen. Die Mutter einer Studentin war in seine Sprechstunde gestürzt und hatte ihm eine geknallt. In diesen Zeiten erledigten selbst das die Eltern für ihre erwachsenen Kinder. Er verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln.



Was für eine Bestie er sei, hatte die Mutter ihn angezischt, bevor sie das Büro wieder verlassen hatte. Das war nicht als Frage formuliert, das war eine Feststellung gewesen. Die Fotos, die von ihm im Internet veröffentlicht worden waren, ließen ihn in der Tat als Bestie dastehen. Allein: Sie waren allesamt gefälscht – verdammt gut gefälscht – und der Höhepunkt einer Reihe von Anschuldigungen, die ihn, sein Leben und seine bisherige Arbeit in Misskredit gebracht hatten.



Er schaute auf den Plattenbau direkt gegenüber. Im Erdgeschoss befand sich seine Wohnung. Aus purer Gewohnheit hatte er auch dieses Mal das Licht in der Küche brennen lassen, bevor er sie verlassen hatte. Der gesamte Komplex gehörte zur Wohnungsbauserie WBS 70, das meistverbreitete Plattenbausystem der DDR ab 1970, und bestand aus elf Stockwerken. Die Höhe war mehr als ausreichend.



Als er des Plagiats beschuldigt worden war, war er zunächst gelassen geblieben. Das war schon ganz anderen auf weitaus wichtigeren Posten passiert. Er war sich sicher gewesen, dass ihn die Überprüfung seiner Doktorarbeit entlasten würde. Doch dann hatte er irgendwann begonnen, an sich selbst zu zweifeln. Hatte er damals vielleicht doch vergessen, Quellen zu nennen? Hatte er in der Endphase, als das Geld knapp war und die Arbeit fertig werden musste, vielleicht doch hier und da Fünfe gerade sein lassen? Gott, es war schon so lange her, er war noch so jung gewesen. Seine Gedanken verfingen sich in der Vergangenheit. Es hatte ihn schon so viele schlaflose Nächte gekostet. Zu viele. Er hatte aufgehört, sich selbst zu trauen.



Doch die Sache mit dem sexuellen Missbrauch würde sich bestimmt aufklären. Allein, der Dekan hatte recht: Ein Makel würde bleiben. Sein Ruf war ruiniert, er würde nicht mehr lehren können. Und selbst wenn er in einer anderen Stadt an einer anderen Uni noch einmal Fuß fassen könnte, würde ihm das Gerücht stets hinterhereilen. Wie gut, dass seine Eltern dies nicht mehr erleben mussten.



Auf eine eigene Familie hatte er zugunsten der Wissenschaft verzichtet. Und seine letzte kurze Liebe – ja jung, aber bei Weitem nicht verboten jung – war eine große Enttäuschung gewesen. Zunächst hatte er sich gegen ihre Avancen gewehrt, doch sie war beharrlich und geschickt gewesen und hatte ihm versichert, dass sie mit Gleichaltrigen noch nie etwas habe anfangen können. Schließlich hatte er es geschehen lassen, hatte ihren Anblick, ihr offenes Lachen und ihre anregenden Gespräche genossen. »Intelligenz ist das neue Sexy«, hatte sie ihm ins Ohr geraunt.



Vor einigen Monaten hatte sie dann nicht nur sein Herz herausgerissen, sondern auch sein Konto leer geräumt. Wie naiv er gewesen war!



Ihn würden nicht viele Menschen vermissen. Niemand, wenn er ehrlich war. Einer Handvoll Studenten würde es höchstens lästig sein, einen neuen Doktorvater zu suchen.



Sein Vermächtnis war seine Arbeit. Irgendwann, wenn alles aufgeklärt war, würden sie diese in Ehre halten und darauf aufbauen. Zumindest wollte er das glauben. Einmal am Ende noch an etwas glauben.



Er ließ seinen Blick stur am Horizont und ging nach vorn. Beim dritten Schritt trat er ins Leere.




1



»Wasch ihn ab!«



»Er ist doch nur auf den Teppich gefallen und der ist ganz sauber. Schau, nicht eine Fluse!« Nina Gruber hielt den Schnuller der kleinen Ela in der Hand und sah ihre Freundin prüfend an. »Entspann dich doch mal ein bisschen.«



»Senin için söylesimi kolay, du hast leicht reden«, antwortete Yasemin aufgebracht. »Es ist ja nicht dein Kind! Ich trag doch die ganze Verantwortung!« Mit geröteten Augen saß sie auf ihrem Sofa und versuchte halbherzig, mit einem Küchentuch die aufgeweichten Reste einer Maisstange von ihrer Jogginghose zu entfernen.



Nina schloss für einen Moment die Augen und träumte sich in eine atemberaubend schöne Schneelandschaft. Sie war froh, dass sie vor einigen Jahren mit ihrer Therapeutin diese Entspannungstechnik erarbeitet hatte. Die half ihr nicht nur in Gesprächen mit ihrer Mutter Hetta, sondern neuerdings auch im Umgang mit Yasemin. Als die kleine Ela vor acht Monaten auf die Welt gekommen war, hatte Yasemin ihren gesunden Menschenverstand offensichtlich im Kreißsaal abgegeben und nur den Säugling wieder mit nach Hause genommen.



»Du weißt, wie lieb ich Ela habe. Mensch, ich war mit im Krankenhaus und hab die Nabelschnur durchgeschnitten, schon vergessen?« Nina hob zum zehnten Mal den Löffel vom Boden auf und reichte ihn dem Kind, das zum Dank vergnüglich quietschte. »Ich weiß, du willst nur das Beste für deine Kleine, aber du schießt übers Ziel hinaus. Du bist todmüde – da wird man komisch.«



Nun brach Yasemin endgültig in Tränen aus. »Was ist, wenn ich nicht reiche?«, platzte es aus ihr heraus. »Sie hat doch nur mich, also muss ich alles doppelt gut machen.«



Nina setzte sich zu Yasemin auf das Sofa und nahm sie in den Arm. »So ein Quatsch«, entgegnete sie in einem ruhigen Tonfall und betonte dabei jedes einzelne Wort. »Sie hat auch mich und vor allem Dorothee. Eine bessere Ersatzoma kann man sich ja wohl nicht vorstellen.«

 



Als es an der Wohnungstür klingelte, fiel Nina ein Stein vom Herzen. »Guck mal, wenn man vom Teufel spricht!« Rasch öffnete sie die Tür. »Du kommst genau richtig«, flüsterte sie der Hauseigentümerin Dorothee Klasbrummel zu, die ihr fröhlich lächelnd einen Schokoladenkuchen entgegenstreckte. »Wir haben da mal wieder eine kleine Krise. Schlafmangel richtet wirklich schreckliche Dinge mit Menschen an«, erklärte Nina.



»Keine Sorge, ich bringe erste Hilfe«, sagte Doro leise, um dann laut: »Wo ist denn mein kleiner Engel?«, hinterherzuschieben, während sie ins Wohnzimmer lief. »Da ist er ja!«



Doro stellte den Kuchen auf dem Tisch ab, nahm Ela hoch und drückte ihr zur Begrüßung einen dicken Kuss auf die Wange. »Hallo, Yasemin, Liebes«, wandte sie sich schließlich an Elas Mutter. »Mach dich doch mal nützlich und koch uns einen Kaffee zum Kuchen, hm?«



Immer noch leise schluchzend nickte die und erhob sich müde vom Sofa.



»Ela zahnt und Yasemin hat heute Nacht mal wieder kein Auge zugetan«, erläuterte Nina die aktuelle Lage. »Außerdem hat sie einen Lagerkoller.«



»Ja, sie muss hier mal raus. Wir sollten sie ermutigen, auch wieder selbst im Kiosk zu arbeiten«, schlug Doro vor.



»Das ist eine gute Idee«, stimmte Nina zu, bevor Yasemin mit drei Kuchentellern aus der Küche zurückkehrte.



Die junge Mutter nahm die kleine Ela von Doros Schoß und machte es sich mit ihr auf dem Sofa bequem. Doro verteilte die süße Nervennahrung derweil und räusperte sich. »Yasemin, ich habe einen neuen Auftrag vom Verlag erhalten. Ich soll einen Krimi aus dem Französischen ins Deutsche übersetzen.«



»Cool, freut mich für dich«, entgegnete Yasemin abwesend und verharrte mit ihrem Blick auf Ela, die ihrerseits interessiert ihren Schnuller betrachtete.



»Ja, das bedeutet aber auch, dass ich nicht mehr so häufig im Kiosk aushelfen kann. Und du weißt, dass Berkan gerade in den letzten Prüfungen für sein Studium steckt. Deshalb wäre es am besten, du übernimmst selbst wieder an zwei Tagen für ein paar Stunden den Kiosk. Ela kannst du ja entweder mitnehmen oder eine von uns«, sie zeigte auf Nina und sich, »passt auf sie auf. Wenn sie zum Beispiel Mittagsschlaf hält, kann ich prima im Nebenraum übersetzen.« Als Doro sah, wie Yasemin innerlich mit sich kämpfte, legte sie eine Hand auf das Knie der jungen Mutter. »Die Kunden vermissen dich. Alle fragen nach dir. Und niemand von uns kann ihnen die Haare schneiden. Die Friseurausbildung hast nur du und dein kleiner Salon im Hinterzimmer setzt langsam Staub an.«



Yasemin atmete hörbar aus. Sie setzte ihre kleine Tochter auf den Boden, die sogleich zu Doros Stuhl krabbelte und versuchte, sich an ihm hochzuziehen.



»Wenn ich ehrlich bin, würde ich echt gern wieder ein paar Stunden im Kiosk arbeiten. Ich vermisse meine Kunden, ne yapıyım? Aber meint ihr nicht, dass ich damit Ela vernachlässige?«



»Nein!«, entgegneten Nina und Doro wie aus einem Mund. »Es geht doch nur um ein paar Stunden in der Woche, die dir bestimmt guttun werden! Wenn du möchtest, bin ich in den ersten Tagen mit Ela einfach immer dabei. Wir kriegen das hin«, ermutigte Nina ihre Freundin.



»Hm«, entgegnete Yasemin zögerlich. »Ich denk drüber nach.«



Die Kaffeemaschine gab ihren letzten röchelnden Laut von sich und Yasemin trug wenig später mit einem zufriedenen Lächeln die Kanne in das Wohnzimmer. »Also gut. Unter einer Bedingung arbeite ich wieder«, sagte sie, während sie den Kaffee in die Tassen füllte. »Nina macht ein Date mit ihrem Superbullen Brüggendings klar und erfindet nicht länger bekloppte Ausreden, warum sie sich nicht mit ihm treffen kann. Anlaştık mı, einverstanden?« Yasemin, die sich zunächst Tim Brüggenthies’ Nachnamen nicht hatte merken können, machte sich mittlerweile einen Spaß daraus und nannte ihn konsequent Brüggendings. Der Kriminalbeamte ließ es stoisch über sich ergehen.



Doro lächelte und griff zu ihrer Tasse. »Das ist eine ausgezeichnete Idee und ein faires Angebot, findest du nicht, Nina?«



»Ich … Was hat das denn jetzt plötzlich mit mir zu tun?« Entrüstet schüttelte sie den Kopf. Nina wusste, dass ihre beiden Freundinnen einen Narren an Tim gefressen hatten. Ständig lagen sie ihr in den Ohren, dass sie die Beziehung zu ihm nicht vergeigen sollte. Dabei hatten Tim und sie tatsächlich nie richtig darüber gesprochen, ob sie ein Paar waren, und Nina war das ganz recht so.



Sie blickte von ihrem Kuchenteller hoch, auf dem sie die Krümel von links nach rechts geschoben hatte. Die Frauen und selbst Ela, so bildete sie sich ein, schauten sie erwartungsvoll an. Yasemin verschränkte demonstrativ ihre Arme. Nina seufzte schließlich und gab sich geschlagen. »Bitte schön. Zwischen Tim und mir ist alles bestens. Klar gehe ich mit ihm aus. Ich schreibe ihm gleich eine Nachricht. Seht ihr?« Sie nahm ihr Handy vom Tisch und tippte. »So. Erledigt. Und morgen«, sie deutete mit ihrem Zeigefinger auf Yasemin, »sehe ich dich im Kiosk hinterm Tresen.« Nina erhob sich. »Ich fahre jetzt zu Hetta. Gegen euch ist meine Mutter geradezu eine Erholung!«



Yasemin und Doro lachten, als die Polizistin die Wohnung verließ, und Ela quietschte vergnüglich in den höchsten Tönen.




2



Sie rieb sich ihre schmerzenden Waden mit Franzbranntwein ein. Sie hatte zu viel trainiert und zu schwer gehoben. Aber was sein musste, musste sein. Sechs Wochen lang hatte sie die Tagesabläufe dieser Frau studiert, nun stand sie kurz vor ihrem ersten Etappenziel. Jeden Morgen gegen halb acht verließ das miese kleine Stück ihre Wohnung und fuhr mit der Stadtbahn zu ihrer Arbeitsstelle. Zwischen siebzehn Uhr dreißig und achtzehn Uhr machte sie Feierabend. Jeden Dienstag und Donnerstag besuchte sie das Fitnessstudio. Freunde schien sie nur wenige oder keine zu haben. In der ganzen Zeit hatte sie sich mit niemandem getroffen. Zweimal hatte sie ihre Mutter im Pflegeheim besucht. Einmal hatte sie den Donnerstagstermin im Fitnessstudio geschwänzt und stattdessen allein den Abendmarkt auf dem Klosterplatz besucht.



In der dritten Woche hatte sie also eine Probemitgliedschaft abgeschlossen und dieselben Kurse wie ihre Zielperson besucht, Spinning und Body Pump. Anschließend war sie dem Miststück in die Sauna gefolgt und hatte beim zweiten Treffen, als sie günstigerweise allein schwitzten, mit ihr ein Gespräch angefangen. Menschen zu umgarnen, Interesse zu heucheln, das waren ihre Stärken.



Schließlich hatte sie sich mit einem gefakten Profil auf Facebook und Instagram mit dem Miststück angefreundet. Deren Fotos sprachen Bände. Null Farbgefühl, schreckliche Klamotten. Für die war Stil nur das Ende eines Besens. Folgerichtig reagierte kaum jemand auf ihre Postings. Hier ein Daumen hoch, dort ein Wow, nie ein Herz. Die wenigen sozialen Kontakte spielten ihr in die Hände. So hatte das Miststück beim neuerlichen Treffen im Fitnessstudio sofort zugestimmt, als sie sie gefragt hatte, ob sie nach dem nächsten Work-out nicht Lust hätte, etwas mit ihr zu unternehmen.



»Ich war schon so lange nicht mehr im Kino«, hatte sie gesagt. Also hatten sie beschlossen, sich einen Film anzuschauen und anschließend etwas trinken zu gehen. Wie es aussah, gierte ihre Zielperson nach Kontakten, die sie von ihrem Loser-Leben ablenkten.



Ihr blieben noch drei Tage Zeit. Bis dahin würde sie alles vorbereitet haben.




3



Nina schüttelte noch immer den Kopf, während sie das Treppenhaus hinunterlief. Das hatten sich die Freundinnen fein ausgedacht. Vor dem Haus winkte sie Yasemins Cousin Berkan zu, der die Tagesschicht in dem Kiosk übernommen hatte, und stieg in ihren alten Golf.



Manchmal zweifelte sie, ob das eine wirklich so gute Idee gewesen war, dass sie nun alle drei unter einem Dach lebten. Sie würden die Balance finden müssen, sich nicht gegenseitig zu viel in ihre Leben einmischen zu wollen. Doch für Yasemin war das damals die klügste Lösung gewesen. Kurz nachdem sie schwanger geworden war, war eine Wohnung in dem Mehrparteienhaus frei geworden und Doro hatte Yasemin angeboten, dort einzuziehen. Die hatte nicht lange gezögert. So musste sie, um in ihrem Kiosk zu arbeiten, nur eine Treppe hinuntersteigen und mit Doro und Nina waren zwei Babysitter für Ela zur Hand. Yasemins Mutter, die in zweiter Ehe mit einem Polen verheiratet war, freute sich zwar außerordentlich über ihre Enkelin. Doch sie wohnte weit weg, genoss in ihrem Haus in Sopot ihren Ruhestand.



Nina nahm die linke Hand vom Lenkrad und tastete in ihrer Jackentasche nach dem Briefumschlag. Wenn sie länger darüber nachdachte, war es schon gut so, wie es war. Ihre Freundinnen und sie bildeten ein Team und konnten sich aufeinander verlassen. Yasemin und Doro hatten ihr in den vergangenen Monaten viel Zuspruch geschenkt, während sie ihr Berufungsverfahren hatte durchstehen müssen. Ihrer Mutter Hetta hatte sie noch gar nichts von ihrem Erfolg erzählt, den sie errungen hatte.



Links tauchte der Obersee auf und Nina bog in die Straße, die in die gegenüberliegende Siedlung führte, um wenig später vor dem Haus, in dem sich Hettas Wohnung befand, zu parken. Sie realisierte, dass sie von ihrer Mutter zwei Wochen lang nichts gehört hatte, und hoffte, dass alles in Ordnung war.



»Wer da?«, schallte Hettas kratzige Stimme gewohnt uncharmant durch die Gegensprechanlage.



»Ich bin’s, Nina.«



»Oh, die verlorene Tochter!«



Der Türöffner summte und Nina trat in den kühlen Flur. Ihre Mutter wartete in der zweiten Etage an der Wohnungstür auf sie und sah erstaunlich frisch aus.



»Hallo, Hetta, gut siehst du aus.« Sie umarmte ihre Mutter flüchtig, bevor sie die Wohnung betrat und sich kritisch umschaute. Nicht sonderlich aufgeräumt, doch es herrschte auch kein Chaos.



»Willst du einen Kaffee?«, fragte ihre Mutter und ging in die Küche, ohne die Antwort abzuwarten. »Kuchen habe ich nicht da, du hast deinen Besuch ja nicht angekündigt.«



Nina hörte das Geräusch eines Feuerzeugs. Das Rauchen würde ihre Mutter wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage nicht aufgeben.



»Ach, Mist, jetzt weiß ich, was ich vergessen habe.« Nina grinste ihre Mutter an, als die ihr im Wohnzimmer eine Tasse reichte und sich zu ihr setzte. »Ich wollte beim Bäcker halten und uns ein paar Teilchen mitbringen.«



»Soso.« Hetta aschte in die Zimmerpflanze rechts von ihr.



»Von wem habe ich eigentlich meine guten Manieren? Von dir ja offensichtlich nicht.«



»Was denn? Das ersetzt den Dünger! Guck doch, wie prächtig die Pflanze wächst«, entgegnete Hetta ungerührt. »Aber du bist doch nicht hier, um über meine Manieren zu reden. Was verschafft mir die Ehre?«



»Muss ich einen Grund haben, um meine Mutter zu besuchen?«



»In der Regel hast du den. Meistens kontrollierst du, ob ich meine Pillen nehme und bei Verstand bin.«



»Und?« Nina schaute Hetta von der Seite an. »Bist du?« Ihre Mutter war bipolar und hatte sich in der Vergangenheit häufiger geweigert, regelmäßig ihre Medikamente einzunehmen. Seit ihrem letzten stationären Aufenthalt lief es jedoch erstaunlich gut.



»Ja, ich habe mir gedacht, das ist das kleinere Übel. Die Alternative wäre gewesen, dass du mir ständig vorwurfsvoll in den Ohren hängst und ich im schlechtesten Fall wieder in die Klapse komme.«



Die beiden lächelten sich für einen Augenblick an und Nina spürte eine Entspanntheit zwischen ihnen, die sie seit ihrer Kindheit nicht gefühlt hatte. Seit sie vor knapp zwei Jahren aus Wuppertal in ihre Heimatstadt Bielefeld zurückgekehrt war, hatte sich das Verhältnis zu ihrer Mutter gebessert.



Sie griff in ihre Jackentasche und zog den Brief des Landgerichts heraus. »Ich bin hergekommen, um dir das hier zu zeigen und Freude zu teilen.« Nina reichte Hetta das Schreiben.



Die nahm es in ihre nikotingelben Finger. »Das«, sagte sie, nachdem sie den Inhalt gelesen hatte, »ist in der Tat erfreulich.«



Dafür, dass ihre Mutter durch und durch Ostwestfälin war, war das eine nahezu euphorische Reaktion.



»Was planst du jetzt? Gehst du zurück zu den Bullen nach Wuppertal?«, fragte Hetta.



Nina schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Die Sozialstunden, die mit meiner Bewährungsstrafe verbunden sind«, sie tippte mit ihrem Finger auf das Schreiben, »werde ich hier ableisten. Ob ich wieder in den Polizeidienst zurückkehren kann, weiß ich erst nach meinem Disziplinarverfahren. Angeblich stehen die Chancen gut, meint meine Anwältin.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß aber nicht, ob ich überhaupt wieder als Polizistin arbeiten will.«



»Du könntest dann ja erst mal ein Sabbatjahr einreichen.«

 



»Du meinst, so ganz in echt?« Die beiden lachten.



Nach ihrer Freistellung damals hatte Nina allen erzählt, sie habe ein Sabbatjahr eingereicht. Die Wahrheit, dass man sie vom Dienst suspendiert hatte, weil sie bei einem Einsatz in Wuppertal einem prügelnden Familienvater an den Kragen gegangen war, hatte sie erst nach und nach preisgegeben. In erster Instanz war sie zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Ihre Anwältin war jedoch in Berufung gegangen. Das Ergebnis lag nun schriftlich zwischen Hettas überquellendem Aschenbecher und ihrer Kaffeetasse: In zweiter Instanz war sie zu einer zehnmonatigen Bewährungsstrafe sowie Sozialstunden verurteilt worden.