Zum ersten Mal tot

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Zum ersten Mal tot
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Christian Y. Schmidt

Zum ersten Mal tot

Achtzehn Premieren

FUEGO

»Uns alle zieht eine Garnitur von faden flachen Tagen wie von Glasperlen ins Grab, die nur zuweilen eine orientalische wie ein Knoten abteilt.«

Jean Paul, 1796

»Your life is just a carrier bag / Over-fill it and the straps will snap.«

Jarvis Cocker, 2009

»Life‘s a gas.«

Marc Bolan, 1971

Vorwort

Dieses Buch sollte eigentlich »So schön war’s bei der RAF« heißen. Ich dachte, das sei ein ausgezeichneter Titel. Dann fand ich in mühsamer Recherche heraus, dass es bei der Roten Armee Fraktion gar nicht so toll war, wie man gemeinhin denkt. Also heisst das Buch jetzt »Zum ersten Mal tot«. Auch ein guter Titel; Untote flüsterten ihn mir ein. Anders als er suggeriert, geht es im Buch aber nur vordergründig um Premieren. In erster Linie geht es um mich. Im Zuge meiner RAF-Recherchen habe ich nämlich auch festgestellt, dass es unglaublich viele Bücher über andere Leute gibt, über manche sogar mehrere. Über mich aber gibt es keines. Das ist um so bedauerlicher, als ich der Mensch bin, der mich am meisten interessiert. Zudem bin ich schon um einiges älter als dieses Jahrhundert, und habe Dinge erlebt, von denen junge Menschen heutzutage nur träumen können. Trotzdem hat bisher niemand über mich ein Buch geschrieben. Also muss ich auch das wohl selber tun. Das mag mancher für übertrieben egozentrisch halten. Aber besser, ich schreibe über mich, als über Vampire, Helium-3, Kinderkriegen, entlaufene Pferde oder anderes Zeug, von dem ich keine Ahnung habe. Ahnungslose Schriftsteller gibt es schon genug.

In zweiter Linie handelt das Buch wirklich von Premieren. Das heißt, es geht darum, wann ich etwas zum ersten Mal im Leben tat oder dachte. Das zu erkunden, so sagt die Erste-Mal-Forschung, ist interessant, weil es uns viel über eine Person verrät. Wer schon mit drei Jahren erstmals den Film »Hostel« sieht, der kriegt sicher später ein tolles Trauma. Wer aber erst mit dreißig seine erste Zigarette raucht, der wird kein guter Kettenraucher. Und sprechen wir erst auf dem Sterbebett unseren ersten chinesischen Satz, wird aus uns wahrscheinlich kein Chinesisch-Deutsch-Simultandolmetscher mehr.

So sind denn auch die hier von mir vorgelegten Forschungsergebnisse für den Leser äußerst lehrreich. Ich jedenfalls habe einiges gelernt, als ich dieses Buch nach dem Schreiben zum ersten Mal las. Es gab auch Überraschungen. Ich war zum Beispiel höchst erstaunt, dass bei rund der Hälfte meiner Ersten-Mal-Erfahrungen Alkohol und Drogen eine Rolle spielen. Das ist eine Seite, die ich an mir noch nicht kannte. Ich hatte eher das Bild eines strikten Abstinenzlers von mir, der sich hin und wieder ein Glas erlaubt. So kann man sich irren.

Dieses Buch ist allerdings keine Autobiographie. Schließlich gibt es nicht mein ganzes Leben wieder. Es fehlen die langen Phasen des Rumsitzens, Rumlaufens, Schlafens, Essens und Überhauptnichtstuns, die den größten Teil meines Lebens ausmachen. Es fehlen sogar sehr wichtige Erste-Male: Meine erste Begegnung mit dem Hähnchenkönig Friedrich Jahn zum Beispiel, oder wie ich Karl Eduard von Schnitzler (»Der schwarze Kanal«) Anfang 1990 die erste Kolumne im Satiremagazin Titanic verschaffte. Selbst meine Erstdurchquerung der Taklamakanwüste, die erste Reise zu den Polisario-Rebellen in die Westsahara und der Erstaufenthalt in Nordkorea ohne Visum sind kein Thema. Diese Premieren werden vielleicht einmal nachgeliefert, in »Zum ersten Mal tot – Band 2«; es sei denn, ich gebe vorher wirklich mein Besteck an der großen Besteckabgabestelle ab.

Extrem aufmerksame Leser werden wahrscheinlich feststellen, dass sich in manchen der achtzehn Kapitel die eine oder andere Begebenheit wiederholt. Warum das so ist, ist einfach zu erklären: Die hier versammelten kurzen Geschichten sind über einen Zeitraum von zehn Jahren entstanden, und die meisten waren ursprünglich nicht für eine Veröffentlichung in einem Band gedacht. Bei der Bearbeitung wurden viele Dopplungen gestrichen. Die eine oder andere ließ sich trotzdem nicht vermeiden, wollte ich die jeweilige Geschichte nicht zerstören.

Auch die Chronologie des Buches scheint etwas durcheinander. Das nun liegt daran, dass die Reihenfolge der Geschichten von einem vierjährigen Kind festgelegt wurde, das dafür ein Eis bekam. Zudem wechseln Tempo, Farbe, Beleuchtung und Lautstärke öfter. Die Absicht war, auf diese Weise das Pendant zu einem Pop-Musik-Album zu schaffen. Vorbild war dabei die erste Platte der ultrafrühen Pink Floyd »The Piper At The Gates Of Dawn«, die zugleich die beste Platte aller Zeiten ist; da kann der Rolling Stone sie noch so oft auf einen schäbigen Platz 347 setzen. Ich bitte die Kritik herauszufinden, ob mir a) das Gegenstück gelungen ist und b) welche Geschichte »Interstellar Overdrive« sein könnte? Auf »The Piper At The Gates Of Dawn« sind allerdings nur elf Stücke. Dieses Buch verfügt dagegen über achtzehn prächtige Kapitel. Hier orientierte ich mich an den achtzehn Stufen der chinesischen Hölle, die die Hauptfigur des Buches durchwandern muss, bis sie schließlich ihr Ziel erreicht. Außerdem hat auch »Ulysses« von James Joyce achtzehn Kapitel. Aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu erzählen.

Dem extrem aufmerksamen Leser wird wahrscheinlich auch die eine oder andere Geschichte bekannt vorkommen. Das liegt dann daran, dass er sie schon mal so ähnlich gelesen hat. Ältere Versionen einiger Geschichten sind zum Beispiel in den schönen Städtebüchern des Verbrecher Verlags erschienen. Manche standen in anderer Form im Feuilleton der Berliner Zeitung oder aber im Schlaumeierforum Wir höflichen Paparazzi. Sämtliche Texte wurden für dieses Buch komplett überarbeitet, erweitert, gekürzt, verschönert, aufgemotzt und angemalt. Etwa ein Drittel sind Erstveröffentlichungen.

Inspiriert wurde das Buch auch von einem Vorschlag Max Goldts, der lautet: »Um dem weitverbreiteten Mangel an Bereitschaft entgegenzutreten, das eigene Leben als einzigartiges Erlebnis aufzufassen, gibt es kostengünstige Alternativen zu Flucht in Rafting und Felsenkletterei: Man kann sich z.B. allabendlich hinsetzen und sich überlegen: Was habe ich heute zum ersten Mal gemacht?« Bereits vor zehn Jahren veranlasste dieses Zitat Heiko Arntz und Tex Rubinowitz zur Herausgabe einer Ausgabe des leider längst verblichenen Literaturmagazins Der Rabe. Dieser »Erste Mal Rabe« gilt heute als eines der grundlegenden Werke der Premierenforschung. In dem Kompendium bin auch ich mit einer Geschichte vertreten. Die aber ist nicht gelungen, weshalb sie auch in diesem Buch nicht vorkommt. Der Text »Der Kippenberger« des hoffnungsvollen Nachwuchsschriftstellers Joachim Lottmann im selben Band ist um Lichtjahre besser. Schon wegen ihm lohnt sich die Anschaffung des kleinen, antiquarischen Buchs auch heute noch.

Martin Kippenberger habe ich zwar auch irgendwann das erste Mal getroffen – und zwar 1991 oder 1992 in einer Toilette in Kassel –, doch tritt er in diesem Buch nicht auf. Statt dessen kommen vor: Joseph Beuys, Novalis, Verona F., Theodor Heuss, Marburg, Martin Walser, Gina W. und ein gewisser DJ Bim Bam. Ansonsten geht es um tödliche Krankheiten, die Bundeswehr, Star Trek, Epileptiker, prügelnde Polizisten, Neandertaler, LSD, Religion, die Stasi und den Maoismus. Auch der Teufel, die Stadt Bielefeld und die Hölle werden überraschend häufig erwähnt. Und es tauchen immer wieder Liliputaner auf. Es ist also die Frage, ob sich dieses Buch wirklich nur um mich dreht. Vielleicht handelt es ja auch von Ihnen?

Schleimhaut Rock
Zum ersten Mal tot
(8 Jahre)

Zum ersten Mal starb ich mit acht Jahren. Ich lief sehr schnell über große Abwasserrohre, die am Straßenrand darauf warteten, unter die Erde verlegt zu werden. Ich rutschte ab und fiel mit dem Rücken auf eine frischverlegte Bordsteinkante. Das Blut schoss mir in den Schädel. Ich sah rot und schwarz, der Atem blieb mir weg, mir wurde heiß und es blitzte. Dann brach meine Wirbelsäule und ich war tot. Ich spürte es ganz deutlich.

Das nächste Mal starb ich auf einer Müllkippe, auf der ich gerne zwischen Haus- und Klinikmüll nach Sachen suchte, die ich gebrauchen konnte. Ich wühlte gerade in einem Haufen abgelaufener Psychopharmaka und weggeworfener Spritzen und merkte dabei nicht, wie ich auf einen Berg von Kunststofffolien geriet. Der Berg setzte sich plötzlich in Bewegung und rutschte ganz langsam dem stinkenden Teich entgegen, der sich am Grund der Müllkippe gebildet hatte. Sein Wasser war wie Rohöl und von einer Schwärze, wie ich sie noch nie gesehen hatte, und mittendrin lag ein verrosteter Kran.

Ich hatte große Angst, denn ich konnte noch nicht schwimmen. Es war auch überhaupt nicht klar, ob Schwimmen in dem öligen Pfuhl was nutzen würde. Also hielt ich still. Ich war so ruhig, wie es irgend ging, damit die Plastiklawine zum Halten kommen konnte. Ich starrte krampfhaft auf die Folien. Es waren ausgestanzte Verpackungen für Margarine. Die Aufschriften brannten sich in mein Hirn: »Homa Gold« und »Fritz Homann, Dissen am Teutoburger Wald«. Ich musste diesen Plastikberg irgendwie zum Stoppen bringen. Doch das Starren nutzte nichts. Der Berg und ich rutschten weiter, ganz langsam zwar, aber unaufhörlich. Bald war ich nur noch dreißig Zentimeter von der Brühe entfernt. Ich begann zu beten und dachte daran, wie ich einmal auf meinem Kassettenrecorder so oft »Spirit in the sky« von Norman Greenbaum gehört hatte, bis mich ein namenloser Schrecken überkam, der mich zugleich freudig erregte. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, ganz leicht zu werden, als würde ich tatsächlich gleich in den Himmel fliegen. So ungefähr fühlte ich mich jetzt wieder.

 

Als meine Schuhe das Wasser praktisch schon berührten, stoppte der Plastikberg mit einem Mal. Ganz vorsichtig bewegte ich mich zur Seite und rettete mich auf eine demolierte Waschmaschine, die auf festem Grund stand. Seit diesem Tag mochte ich keine Homa Magarine mehr, und griff auch später im Supermarkt nur noch zu Rama oder Lätta.

Ich bin auch einmal verblutet. Das war Jahre später, als ich mit Lydia und Matz in Portugal zelten war. Ich hatte mit Matz in einem Dorf Rotwein getrunken und wankte mit ihm zurück zu unseren Zelten. Die standen weit weg vom Dorf auf einer kleinen Halbinsel, die in einen Stausee ragte. Der Weg dorthin war ein schmaler Trampelpfad, der sich in ein paar Meter Höhe an dem Stausee entlangschlängelte. Jeder von uns hatte zwei Weinflaschen dabei, und weil wir keine Taschen hatten, trugen wir sie in den Händen. Es waren noch gut fünfhundert Meter bis zu den Zelten, als ich plötzlich ausrutsche und zu Boden ging. Die Flasche in der linken Hand zerschellte und eine Scherbe zerschnitt mir den Unterarm kurz unter dem Handgelenk. Ich starrte auf den kreideweissen Lappen Haut, den die Flaschenscherbe herausgeschnitten hatte und der jetzt am Arm hing. Die Stelle verfärbte sich sehr schnell rot und Sekunden später spritzte Blut in hohem Bogen aus mir raus.

»Ach du Scheiße«, dachte ich. »Die Vene.« Und mir fiel ein, dass es im Umkreis von mehreren Kilometern keinen Arzt, kein Haus und keine Straße gab, also auch keinen Rettungswagen. Meine Lage war ziemlich aussichtslos. Trotzdem begann ich zu laufen. Dabei versuchte ich die Blutung mit der rechten Hand zu stoppen. Das Blut aber pulste schön rhythmisch weiter, wie in einem Zombiefilm, wenn einem irgendwelche Gliedmaßen abgerissen werden. Wie warm doch das eigene Blut ist, wenn es einem über den Arm läuft, und wie flau einem dabei wird. Und irre, wie lange ich so laufen kann. Das ist ja ganz erstaunlich. Das ungefähr ging mir durch den Kopf. Bei meinem Zelt angekommen, nahm ich eine Unterhose und wickelte sie mir ganz fest um den Arm. Dann verkroch ich mich erschöpft ins Zelt. Am nächsten Morgen war die Unterhose schwarz verkrustet und ganz steif. Ich fühlte mich schwach, war aber noch da. Ich wunderte mich ein bisschen.

Heute erinnert mich eine Narbe in Form eines Hufeisens an diese Geschichte. Es sieht so aus, als wäre der Teufel über meinen Arm gelaufen oder als hätte er mir ein Brandzeichen verpasst. Dieses Mal erinnert mich auch daran, dass ich nach der Sache mit der Weinflasche begann, an der Entschlossenheit von Gevatter Tod zu zweifeln. Egal welche Katastrophen mir auch passierten, ich starb nicht. Vielleicht gilt ja der Satz, dass alle Menschen sterblich sind, nicht für mich. Vielleicht bin ich die Ausnahme von der Regel.

Der Tod versuchte immer wieder, mir das Gegenteil zu beweisen. Nachdem es mit den Unfällen nicht geklappt hatte, probierte er es mit Infektionen. Mit fünfunddreißig Jahren bekam ich AIDS. Ich hatte mich in einer Kneipe betrunken zu einer blonden Frau an den Tisch gesetzt, sie zunächst einfach nur angestarrt und als sie zurückstarrte, irgendwas geredet. Ohne es zu wollen, folgte ich der Frau später in ihre Wohnung. Dort schloss sie mich ein, zog mich aus und zwang mich, mehrmals mit ihr zu schlafen. Da entdeckte ich, dass ihr Rücken mit kleinen Knötchen bedeckt war. Das Kaposi-Syndrom, ganz klar!

Natürlich hatte ich ein Kondom benutzt. Trotzdem hatte mich Freund Hein jetzt ordentlich am Wickel. Jeden Morgen schüttelte und rüttelte er mich, bis meine Zähne klapperten, und abends wiegte er mich in den Schlaf. Dabei summte er Schlummerlieder wie »Schleimhaut Rock« oder »Kondome haben Löcher«. Ich rief mehrmals die AIDS-Hotline an, doch diese Gespräche konnten mich nur für eine halbe Stunde beruhigen. Immer wieder rechnete ich den Zeitpunkt aus, an dem ich sterben würde: Mal gab ich mir zwanzig Jahre, mal nur ein paar Monate, ganz nach Laune. Nach drei Wochen ging ich endlich zum AIDS-Test. In den fünf Tagen, in denen ich auf das Ergebnis warten musste, schrieb ich mehrere interessante Testamente. Dann kam der Bescheid. Der Doktor übergab ihn mir in einem Umschlag. Ich riss ihn auf: Negativ. Der Tod konnte mal wieder seine Sense packen und nach Hause gehen, wo immer das auch sein mag.

Ich weiß nicht, was es ist, aber der alte Gleichmacher kommt offenbar nicht gegen mich an. Sogar meine Mitmenschen meidet er, bin ich bloß in ihrer Nähe. Deshalb habe ich trotz meines fortgeschrittenen Alters im wirklichen Leben noch keinen Toten gesehen. Es ist natürlich nicht so, dass keine Leute sterben, die ich kenne. Immer wieder wird mir von Todesfällen berichtet, und diese Leute tauchen dann auch tatsächlich nirgendwo mehr auf. Aber jedes Mal, wenn es passiert, bin ich gerade woanders. Dabei gehe ich den Todeskandidaten nicht aus dem Weg. Einmal besuchte ich einen Freund, der mit einem Hirntumor im Krankenhaus lag. Er war vom Tod gezeichnet. Wir redeten über das Sterben und am Schluss versprach ich ihm, zu seiner Beerdigung zu kommen, um dort ein paar Worte zu sagen. Ich konnte das Versprechen nicht halten, denn als der Freund schließlich starb, war ich gerade auf einer Forschungsreise im Norden Englands. Auch bei der Beerdigung meines Großvaters war ich nicht dabei, sondern sehr weit weg und unerreichbar.

Zu mir selbst kam Hein Klapperbein nur noch dann, wenn ich absolut nicht mit ihm rechnete. Einmal fiel ich ausgerechnet in einem Fernsehstudio fast vier Meter tief in einen Schacht, der an Betontreppenstufen endete. Ich kann mich noch daran erinnern, wie sehr ich staunte, als ich in das dunkle Loch hinuntersegelte: »Das war es also jetzt. Das war dein ganzes Leben.« Dann knallte ich auch schon auf den Beton. Mein linker Oberschenkel zerbrach in kieselsteingroße Stücke, aber ich verlor noch nicht einmal das Bewusstsein. Ich lag dort auf dem Grund des düsteren Schachts, und während ich laut um Hilfe schrie, dachte ich: »Siehste, Gevatter. Ich bin nicht kaputt zu kriegen.« Allerdings waren die Schmerzen, die ich spürte, nicht von schlechten Eltern. Im Krankenhaus durfte ich sie deshalb mit einer Schmerzpumpe bekämpfen, die direkt über meinem Bett hing. Damit jagte ich mir bei Bedarf Morphium in die Venen. Ein paar Minuten später hatte sich mein Krankenzimmer in einen Hippietraum verwandelt. An der Wand mir gegenüber bewegten sich Farben in Spiralen, dazwischen krabbelten rote Käfer. Und manchmal stand der Tod an meinem Bett, mit betrübter Miene. Er trug einen blauen Overall und sah aus wie Gerhard Schröder.

Nach diesem Misserfolg ließ mich der Tod ein paar Jahre in Ruhe. Er meldete sich zurück, als ich die Fünfzig gerade überschritt. Ich glaube, unser grauer Betreuer liebt die Dekade zwischen Fünfzig und Sechzig ganz besonders. Da geht es ja auch langsam mit dem großen Sterben los. Ich bekam einen Hirntumor, der aber verschwand, nachdem man mich dreimal in die MRT-Röhre gesteckt hatte. Der Tumor verwandelte sich in amyotrophe laterale Sklerose. Ich hatte alle Symptome dieser geheimnisvollen Krankheit, die fast immer innerhalb weniger Jahre zum Tode führt: Muskelschäche, Schwindel, Krämpfe und Kribbeln in den Beinen. Sie passte auch gut zu mir. Es waren bereits etliche andere Prominente an ihr gestorben. Der Schauspieler David Niven, Charlie Mingus oder der Kanzlermaler Jörg Immendorf. Auch Stephen Hawking leidet an der VIP-Krankheit. Ich las sofort ohne Unterbrechung alles über ALS, bis ich schließlich auch alles wusste, unter anderem, dass ich die Krankheit nicht haben konnte. Damit verschwanden sämtliche Symptome. So ähnlich war es auch bei meiner Lungenfibrose, dem Lupus oder dem Pankreastumor. Inzwischen glaube ich, je älter ich werde, desto unsterblicher werde ich.

Natürlich schmeckt das dem feinen Herrn Tod nicht. Und darum brütet er sicher schon die nächste Schweinerei aus. Ich vermute, er spekuliert darauf, dass er mich eines Tages überlistet. Doch das wird nicht passieren. Ich bin auf der Hut und merke jedes Mal, was er im Schilde führt. Ich weiß, er hofft darauf, dass ich unaufmerksam werde, um dann plötzlich richtig zuzuschlagen. Aber ich habe keine Angst. Denn selbst, wenn es ihm irgendwann gelingen sollte, was sollte das schon für ein Sterben sein? In ein paar hundert Jahren gehe ich eines Abends mit einem leichten Zittern zu Bett. Und am nächsten Morgen wache ich einfach nicht mehr auf. Vollkommen unspektakulär. Es wird für mich Routine sein, ein alter Hut, so langweilig wie die Reden deutscher Bundespräsidenten. Was aber ist wohl mein letzter Gedanke? Ich glaube, so etwas wie: Ach, könnte ich doch nur so sterben wie beim allerersten Mal. So aufregend und gesund.

Epileptikeradel und schwarze Schwestern
Zum ersten Mal draußen
(33 Jahre)

Ich bin zwischen den grünen Bergen von Garizim und Morija aufgewachsen. Seitdem ich denken konnte, blickte ich aus dem Fenster unserer Küche auf Bethanien, dem »Haus der Armen«, einem Flecken bei Jerusalem. Wir spielten in den Gärten Magdalas am See Genezareth, und auf dem Weg zur Schule überwand ich täglich den Berg Nebo, auf dem Moses starb, nachdem ihm Gott das Land der Verheißung gezeigt hatte. Passend zu dieser Geschichte stand hier oben eine Kapelle, aus der es immer süßlich roch, weil in ihrem kühlen Keller die Leichen aufgebahrt wurden, die auf ihre Bestattung warteten. An manchen Sommerwochenenden zogen wir mit unserer Mutter Richtung Enon und pflückten schwarze Brombeeren. In dieser Gegend taufte einst Johannes, denn es gab viel Wasser hier. Bei Enon stand auch das Haus Arafnas. Auf dessen Tenne hatte König David vor Zeiten einen Altar errichtet, aus dem dann später der große Tempel wurde. Ganz hinten im Wald, hinter den drei grünen Gaskugeln, erhob sich hoch auf einem Berg Salem. Das war das Ende unserer Welt.

Diese Welt trägt den Namen Bethel, was auf Hebräisch so viel wie das »Haus Gottes« heißt. Dieses Bethel aber liegt nicht, wie man meinen könnte, in Israel, sondern ist heute ein Teil von Bielefeld. Damals gehörte es noch nicht zur Stadt, sondern war eine fast selbstständige Anstalt, die etwa 8.000 Epileptiker und ein paar Tausend Geisteskranke beherbergte. Die Bezeichnung »Anstalt« führt allerdings in die Irre, da man sich darunter ja gemeinhin ein klar begrenztes, ja ummauertes Gelände vorstellt. Doch diese Grenzen fehlten.

Bethel war eine protestantische Einrichtung, was die biblischen Namen aller hier errichteten Häuser und Landschaftselemente erklärt. Auch alle Menschen, die in den beiden Betheltälern lebten, waren stark vom Protestantismus geprägt. Wahrscheinlich gab es hier keine fünf Katholiken. Bethel war so etwas wie der protestantische Vatikan. An der Spitze der gesellschaftlichen Ordnung stand eine ganze Schar von Pfarrern, denen ein kleines Bataillon von Diakonen zuarbeitete. Zu denen zählte mein Vater. Die Pfarrer und Diakone waren Angehörige einer Bruderschaft. Uns Kindern erschlossen sich die Hierarchien erst langsam. Wir fragten immer, ob jemand, der uns besuchte oder den wir auf der Straße trafen, auch ein »Bruder« war oder aber bloß ein »Herr«. »Ist ein Bruder was Besseres?«, fragte ich irgendwann meine Mutter. Die verneinte. Doch das stimmte nicht. Die Herren waren so etwas wie die zivilen Angestellten Bethels und hatten fast immer Vorgesetzte, die sich untereinander mit Bruder ansprachen.

Auch die Frauen in Bethel gehörten unterschiedlichen Klassen an. Es gab welche wie meine Mutter, die mit Männern verheiratet waren. Und es gab Frauen, die das nicht durften. Das waren die Diakonissen. Sie trugen eine pechschwarze Tracht und weiße gestärkte Hauben, unter denen sich eine einheitliche Mittelscheitelfrisur verbarg. Diese Frauen, die niemals Mütter werden würden, gehörten absurderweise einem Mutterhaus an. Sie wurden mit Schwester angeredet und arbeiteten in den Pflegehäusern Bethels. Vor den Schwestern hatte ich Angst. Sie hatten etwas Steifes, Soldatisches an sich, ja manche schienen mir von Grund auf böse. Ob sie über oder unter den verheirateten Frauen standen, war schwer zu sagen. Eher bildeten sie eine Parallelgesellschaft in der Anstalt. Letztlich aber waren auch sie den Pfarrern Untertan. Einer stand an der Spitze des Mutterhauses und wurde von den Schwestern Vater genannt.

Am unteren Ende der gesellschaftlichen Skala befanden sich die Epileptiker und Geisteskranken. Sie hießen einfach: die Patienten oder Kranke. Sie mussten sogar in der Kirche auf getrennten Bänken sitzen, so wie die Schwarzen zur Zeit der so genannten Rassentrennung in den USA. Die Kränksten bekam man gar nicht zu sehen. Sie lagen auf Torfbetten in dunklen, vor über hundert Jahren gebauten Pflegehäusern, in denen es nach Scheiße, Pisse und Großküchenessen roch und aus denen manchmal fürchterliche Schreie drangen. Nur einmal betrat ich das Innerste eines solchen Hauses. Es war bei einem Martinssingen. Die Schwestern hatten uns Kinder hineingelassen und dann das Licht gelöscht, damit unsere Laternen besser zur Geltung kamen. Ich stand am Ende eines Bettes und sah im flackernden Licht ein stöhnendes Wesen mit aufgerissenem Mund und offenem Rücken vor mir liegen. Das Wesen hatte das Gesicht zu einem breiten Grinsen verzogen und ich sang tapfer: »Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen.«

 

Lustiger war der Patientenadel, den wir täglich auf der Straße trafen. Ernst von Tabor, der schöne Siegfried von Arafna oder Dieter von der Brockensammlung. Das jeweilige Pflegehaus, in dem sie wohnten, war Teil ihres Namens geworden; ihren echten Nachnamen kannte keiner. Dafür war jeder von ihnen etwas Besonderes. Ernst von Tabor trug immer einen Haufen Papiere mit sich herum und einen Dirigentenstab. Erklang irgendwo Musik, stellte er sich vor die Quelle und begann zu dirigieren, auch wenn es nur ein Radio war. Gegen Ernst war Karajan ein Amateur. Dieter von der Brockensammlung schob einen Handkarren durch die Anstaltsstraßen, mit dem er Pappkartons und anderes Verpackungsmaterial einsammelte. Am liebsten aber er hing er an einem Schulhof herum, um dort mit seiner immer zu lauten, kehligen Stimme blutjunge Mädchen anzusprechen. Und dann war da noch ein alter Mann mit wenigen grauen Haaren, den wir nur als »den Kater« kannten. Er begrüßte jeden auf der Straße mit einem lauten, lang gezogenen »Miau«. Er war bei den Erwachsenen sehr beliebt, weil er das absolute Gehör hatte. Für ein paar Mark stimmte er die Klaviere in der Anstalt, auch bei uns kam er dazu einmal im Jahr vorbei. Uns Kindern war der Graue suspekt. Er tätschelte uns die Wangen etwas zu lange und fasste uns auch anderen Stellen manchmal seltsam an.

Es gab auch echte Adelige unter den Patienten. Einer war Herr von Bismarck, aus der Familie des ehemaligen Reichskanzlers. Er wohnte im »Libanon«, hatte aber trotzdem seinen Nachnamen behalten. Er war hochgewachsen, ging in grünem Loden und schritt mehrmals in der Woche gravitätisch an unserem Haus vorbei. Mein Großvater war noch zu Lebzeiten des Kanzlers Bismarck geboren, und auch er war ein Diakon. Doch arbeitete mein Großvater im Garten, und stolzierte Bismarck vorbei, wurde er von meinem Großvater immer voller Hochachtung gegrüßt. Es gab noch einen anderen grüngekleideten Patienten, der in Bethel berühmt war. Das war der Polizist. Er trug eine knallgrüne, Orden geschmückte Uniform mit dazu passenden Reitstiefeln. Ab und zu machte er auch außerhalb der Anstalt kleine Ausflüge. Dann konnte man ihn irgendwo in Bielefeld auf einer Kreuzung sehen, wo er den Verkehr regelte.

Die epileptischen Patienten unterschieden sich von den Geisteskranken dadurch, dass sie von einem Moment auf den anderen mit einem großen Anfall zusammenbrechen konnten. Da es in meiner Kindheit noch keine besonders ausgeklügelten Antiepileptika gab, passierte das laufend. Mehrmals am Tag sahen wir Kinder Erwachsene, die zappelnd und zuckend auf der Straße lagen, mit Schaum vor dem Mund und verdrehten Augen. Besonders häufig schlug der epileptische Blitz ein, wenn sich ein Patient irgendwie erregte. So bekam bei einer schmissigen Predigt in den Anstaltskirchen fast jedes mal ein Patient einen Anfall. Pfleger und Mitpatienten schafften den Zuckenden dann möglichst schnell aus dem Kirchenschiff und trugen ihn auf eine Liege in einen Raum, der extra für die Anfälle gebaut war. Das war so normal, dass niemand weiter davon Notiz nahm. Nur für uns Kinder war so ein Anfall immer eine willkommene Abwechslung in den öden Gottesdiensten.

Viele Epileptiker trugen damals einen ledernen Sturzhelm, der sie vor Verletzungen bei einem Anfall bewahren sollte. Ein nicht besonders vorteilhaft wirkendes Kleidungsstück. Natürlich machten wir Kinder uns darüber lustig. Auch sonst amüsierten wir uns über die Patienten, obwohl uns das die Eltern streng verboten hatten: »Die Kranken sind Menschen wie wir. Man darf nicht über sie lachen.« Aber weil sich die Patienten eben so komisch benahmen und wir Kinder waren, hörten wir nicht auf sie. Wir äfften den Gang, die Anfälle und ihre seltsame Art zu sprechen nach, oder wir versteckten uns in Bethels kleinen Wäldern hinter Bäumen und sprangen dann hervor, um sie zu erschrecken. Besonders gerne ärgerten wir den liebestollen Dieter von Brockensammlung. Einmal regte er sich darüber so sehr auf, dass er neben seinem Karren zu Boden ging und krampfte. Da kriegten wir es doch mit der Angst zu tun und liefen schnell nach Hause. Ich machte mir den ganzen restlichen Tag große Sorgen. Doch am nächsten Tag stand Dieter wie gewohnt an der Schule und röhrte die kleinen Schulmädchen an. Er hatte offenbar vergessen, was passiert war.

Wir Kinder lebten gerne in Bethel. Da Kinder Geschenke Gottes waren, hatten die Brüder alle große Familien. Sechs oder sieben Kinder waren keine Seltenheit. Wir waren vier Geschwister, und das Haus, in dem wir wohnten, stand allen anderen Kindern immer offen. Wir tobten auch durch die Häuser und Gärten der anderen Familien. Uns gefiel auch, dass Bethel damals noch sehr ländlich war. Es gab mehrere Bauernhöfe, auf denen auch Patienten arbeiteten, die dazu in der Lage waren. Der schöne Siegfried und sein hässlicher Kumpel fuhren täglich mit einem Pferdefuhrwerk die Anstaltsstraßen ab, um in großen stinkenden Tonnen Essensreste einzusammeln, die an die Schweine Arafnas verfüttert wurden. Auch Enon war ein Bauernhof und den Schweinen von Arimathia warfen wir im Herbst Eicheln und Kastanien in ihre Koben, die direkt an unserem Schulweg lagen.

Patienten arbeiteten auch in der anstaltseigenen Bäckerei oder in der Ziegelei, von der eine kleine Schmalspurbahn zur anstaltseigenen Tongrube zuckelte. Das Ziel der Anstaltsgründer war es gewesen, Bethel so autark wie möglich zu machen. Deshalb hatte man nach und nach auch noch eine Schusterei gebaut, eine große Gärtnerei, ein Milchgeschäft, in der man lose Milch und Butter kaufen konnte, eine Schlosserei und eine Schmiede, die den Namen Gilgal trug. In der Bibel war das der Ort, an dem König Saul gesalbt wurde, später wurde er ein Hort der Abgötterei. Hier lungerte ich manchmal herum und beobachtete Hengste mit erigiertem Penis, die beschlagen wurden. Ich wunderte mich über den Schlauch, der aus ihnen herausragte, und ich dachte, diese Pferde seien irgendwie kaputt. Es schien aber weder sie selbst noch irgendeinen anderen zu stören, und als ich meiner Mutter das Problem erklären wollte, verstand sie es nicht.

In der Mitte der Anstalt stand das große Bethelkaufhaus. Es hieß Ophir nach dem sagenhaften Goldland, aus dem König Salomo Gold, Sandelholz und Elfenbein holen ließ, um seine Prachtbauten in Jerusalem zu errichten. Hier wie in den anderen Geschäften konnte man mit Bethelgeld bezahlen, einer Parallelwährung, die bis heute in ganz Deutschland einzigartig ist. Das Geld wurde nur an Patienten und in Bethel Beschäftigte ausgegeben, die es in der örtlichen Filiale der Sparkasse tauschen konnten. Es war ein guter Tausch, denn für 100 Mark Bundesgeld gab es 105 Mark Bethelgeld. Die Anstaltsleitung hatte diese eigene Währung eingeführt, damit der Lohn der Angestellten und das Taschengeld der Patienten in Bethel blieb; außerdem sollte wohl verhindert werden, dass sich Patienten und die auf dem Lindenhof verwahrten »Tippelbrüder« außerhalb der Anstalt mit Stoff versorgen konnten. Natürlich kamen sie trotzdem an ihren Schnaps, denn einige Geschäfte direkt an der Grenze Bethels nahmen auch die betheleigene Währung an. Offenbar gab es dunkle Kanäle, die benutzt wurden, um die Scheine zurückzutauschen.