Misericordia City Blues

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Misericordia City Blues
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Christian Urech

Misericordia City Blues

Die neuen Abenteuer des Don Quichotte und Sancho Pansa

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreissig

Epilog

Impressum neobooks

Prolog

Christian Urech

Misericordia City Blues

Die neuen Abenteuer des Don Quichotte und Sancho

Pansa

Die Nacht ist dick und schwarz und samtig warm. Ich habe die Ränder der Stadt hinter mir gelassen, bin den

Sicherheitskräften der Gesundheitsbehörden noch einmal entkommen. Ich befinde mich jetzt auf einer Wiese oder in einem Park. Ab und zu lassen sich die Umrisse von Büschen und Sträuchern erahnen. Vielleicht fünfzig Meter vor mir duckt sich eine Hütte, ein Schuppen oder ein Stall in eine Senke hinein. Mein Hirn ist ganz leer: Ich fühle keine Angst mehr und keine Wut. Nur diese lähmende Müdigkeit, die mich an allen Gliedern in die Erde hineinzuziehen versucht. Ich muss ein wenig schlafen, eine Stunde nur. Da kommt mir die Hütte wie gerufen. Steht da wie ein Geschenk Gottes und hat die ganze Zeit auf mich gewartet, fünfzig Jahre oder hundert Jahre, seit sie erbaut worden ist. Wie tröstlich. Jemanden oder etwas zu haben, das auf einen wartet, ist bei aller Reisegewandtheit, Weltbürgerlichkeit, Ungebundenheit doch etwas Schönes. Es müssen ja nicht immer die knast-ähnlichen Spitäler, die zellenähnlichen Krankenzimmer der Gesundheitsbehörden von Misericordia sein. Der Gott dieser Wiese wird es nicht zulassen, dass mein Schlaf vom Licht extrapotenter behördlicher Taschenlampen brutal entzweigerissen wird. Der Schlaf sei ewig, das Erwachen gewiss. Die Nebelfetzen wachsen in meinen Kopf hinein.

Ich taste mich an den Wänden der Hütte entlang, um die Tür zu finden. Ich lasse mein Feuerzeug an schnappen. Das Innere der Hütte ist im Schein der flackernden Flamme leer bis auf ein undefinierbares Bündel, das in der Mitte des Raumes auf dem Boden liegt.

Eine halbvolle Flasche, gefüllt mit einer irgendwie gearteten Flüssigkeit, rotem Wein zum Beispiel, wie das

rubinrote Aufblinken im Flammenschein nahelegt. Ein Kerzenstumpf. Ein paar Zeitungsblätter, die verstreut

herumliegen. Das wird nun also mein Bett sein in dieser Nacht, mein Prokrustesbett. Ich setze die Flamme an den Kerzendocht. Mache mich daran, Bündel und Flasche einer Prüfung zu unterziehen, denn im sonst leeren Raum sind liegendes Bündel und stehende, mit einer rot blinkenden Flüssigkeit gefüllte Flasche natürlich eine

Sensation. Ich berühre das Bündel und rieche an der Flasche. Ich rieche am Bündel und berühre die Flasche.

Ich lege an beides, Bündel und Flasche, mein Ohr. Das Bündel ist warm und bewegt sich jetzt. Ausserdem beginnt es zu sprechen, das heisst zu murmeln und undeutlich zu fluchen. Ich erstarre vor Schreck.

«Was willst du hier?» höre ich fragen. «Warum lässt du mich nicht schlafen?»

«Verzeihung», antworte ich, «aber der Zufall, ich schwöre es, hat mich zu dieser Hütte geführt. Oder die Versuchung. Es schien mir nämlich so, als würde die Hütte mich erwarten. Wunschvorstellung auf der Flucht, was soll’s.» Ich seufze.

Im Kerzenschein zeigt sich jetzt das ausgemergelte Gesicht eines jungen Mannes, der mich mit grossen Augen

betrachtet.

«So, hinter dir sind sie also auch her», sagt er befriedigt.

«Ach, bin ich kaputt», antworte ich.

«Da, nimm einen Schluck, das wird dir gut tun.»

Ich trinke gehorsam. Die rubinrote Flüssigkeit schmeckt tatsächlich wie roter Wein. Billiger roter Wein.

«Die Welt», sagte der junge Mann, der dem Bündel entstiegen ist, «ist komisch. Komisch im Sinn von seltsam und komisch im Sinn von lustig oder zum Lachen reizend. Und wir hocken auf ihr wie die Flöhe im Fell eines Affen. Oder vielmehr einer Äffin. Die Flöhe können der Äffin nichts anhaben: höchstens sind sie manchmal ein wenig lästig. Allerdings geben sie auch Anlass zu dem köstlichen Vergnügen, sich vom Lieblingsaffen lausen und flohen zu lassen. Oder selber den Lieblingsaffen zu lausen und zu flohen, wobei man als Dessert dann erst noch die Opfer der Jagd genussvoll verspeisen kann. Des einen Leid ist des andern Freud. Wobei ich natürlich nicht behaupten will, dass Läuse und Flöhe besonders gut schmecken.»

«Und wir», will ich wissen, «sollen die Läuse und Flöhe im Fell der Äffin sein? Aber ich bitte dich, das ist doch

lächerlich! Haben wir nicht die Naturgewalten gebändigt, das Atom gespalten, sind wir nicht in die Weiten des Alls gereist? Waren wir nicht wahrhaft biblisch und haben uns die Pflanzen und Tiere untertan gemacht, auf dass sie sich in – amerikanisch – saftige Steaks oder – französisch – ein Baron d’agneau de lait oder – indonesisch – ein Ayam campur verwandelten? Das ist Kultur, Mann! Dass am Schluss dann alles wieder zu Scheisse wird, liegt in der Natur der Sache. Das Fäkalische ist nun mal die Kehrseite des Kulinarischen.»

«Das hast du schön gesagt. Wir bleiben aber trotzdem die Flöhe und die Läuse im Pelz der Äffin, das lässt sich mit aller Kultur nicht ändern. Ist ja auch nicht weiter schlimm. Wir haben das Glück unserer Hormone. Und das Glück unserer Vergesslichkeit. Manchmal ist uns im Fell der Äffin auch ganz einfach warm. So richtig gemütlich. Dass uns dereinst der Lieblingsaffe lustvoll runterschmatzt – was solls? Das dient schliesslich auch dem Nahrungskreislauf.»

Es bleibt eine Weile still. Dann greifen wir beide gleichzeitig nach dem Hals der inzwischen nur noch zu einem

Viertel vollen Flasche. Der anerzogene Höflichkeitsreflex ist stärker als die Gier, beide ziehen wir die Hand zurück. Ein peinliches Spiel. Ich bemerke, wie ungewollt ein verlegenes Lächeln auf meinem Gesicht erscheint. Er lächelt gepeinigt zurück. Unsere Hände nähern sich in regelmässigem Rhythmus der Flasche, zucken vor ihrem Hals, als wäre der elektrisch geladen, zurück. Schliesslich geben wir es auf, die Flasche bleibt, noch einmal unbetrunken davongekommen, gewissermassen, stehen, wo sie ist.

Der Film zerfliesst, die Gegenwart ist kein Gefängnis mehr, dem man nicht entrinnen kann. Die Mauern der

Vergangenheit und der Zukunft öffnen sich, von meinem Bauch aus macht sich siedend heiss eine überwältigend

allgemeine, grundlose Trauer in mir breit, greift wie eine Welle über mich hinaus. Ich weiss, dass diese Hütte ein

Kastell ist; so muss es auf jeden Fall sein, wenn alles seine Ordnung haben soll. Dass ich Don Quichotte bin, obwohl ich keinen Bart und keine Rüstung und keine Bartschüssel als Helm trage, steht ausser Zweifel. Und jener dort ist Sancho Pansa, mein guter schlauer verfressener Sancho. Jeder weiss, wo er in dieser Geschichte hingehört. Das nenn ich Heimat, das nenn ich Glück.

 

Der Film beginnt wieder zu laufen, der andere Film, der mit den farbigen Bildern und mit Geräuschen, die jemand erzeugt, der hastig eine Flasche leer trinkt. Der junge, grossäugige Mann wirft die Flasche mit überraschender Kraft in eine dunkle Ecke der Hütte, die Tonspur gibt im passenden Moment ein ziemlich lautes, klirrendes Geräusch von sich. Der junge Mann streckt aggressiv seinen Zeigefinger in meine Richtung.

«Es geschieht dir übrigens recht, dass du in dieser elenden Hütte gelandet bist, ein Verfolgter der misericordianischen Behörde bei einem Verfolgten der misericordianischen Gesundheitsbehörde. Du bist an allem, was dir passiert, selber schuld.»

Ich mag darauf nicht antworten. Ich bin müde.

«Denn vielleicht», fährt er rücksichtslos weiter, «warst du ja in der so genannten Vergangenheit ein Monster: die

Verkörperung der Boshaftigkeit. Eine Drecksau. Ein Folterer, ein Massenmörder, ein Schlächter, ein Nazi, ein

Diktator, ein Verräter, ein Tyrann. Oder einfach nur ein mieser kleiner Ganove und Verbrecher, ein Helfershelfer

und Scharfrichter, ein Befehlsempfänger und Lakai, ein Feigling, ein Denunziant, ein Opportunist und Profiteur.

Und die stecken alle noch in dir wie die Puppen in der russischen Puppe. Ja, so wird es sein.»

Die grossen Augen des jungen Mannes glänzen befriedigt.

«Du denkst wohl, er werde einmal abgetragen sein, der Berg aus Schicksal, den du mit dir herumschleppst?

Weit gefehlt! Es gibt nämlich auch ein Karma, das aus der Zukunft in die Vergangenheit wirkt. Du leidest jetzt für Untaten, die du erst noch begehen wirst. Ziemlich gemein, oder? Zeit und Raum und wir, die wir in Zeit und

Raum geworfen sind, und Ursache und Wirkung, das alles bildet einen Klumpen, eine komplexe Einheit. Wir

meinen zu fliehen. Wir meinen, dem entgegenzurennen, was wir als Streifchen Horizont am Himmel interpretieren. Weil wir es so ersehnen und erhoffen. Oder vielmehr, weil wir die Hoffungslosigkeit nicht ertragen. Aber die Hoffnungslosigkeit ist genau so irreal wie die Hoffnung, ein reines Hirngespinst wie fast alles, was der Mensch als bare Münze zu nehmen sich herausnimmt.»

Ich bin müde, so müde. Die Reden des Irren erschrecken mich nicht, sie langweilen mich bloss und schläfern mich ein. Wie lange ist es jetzt schon her, seit ich die Grenzen Misericordias passiert habe und seither ganz ohne Schlaf auskommen musste? Natürlich, ich bin selbst schuld, an allem selbst schuld, von mir aus. Ist mir doch scheissegal.

Ich schliesse die Augen.

Vielleicht bin ich tatsächlich nur ein Gedanke im Hirn eines Gottes, oder ein Traumfetzen, aber was heisst da schon Gott, Hirn, Gedanke, Traum; und vielleicht ist dieser «Gott» auch wieder nur ein Gedanke oder Traumfetzen im Hirn eines anderen Gottes, oder vice versa. Und vielleicht werden auch aus meinen Traumfetzen und Gedanken Welten geboren, vielleicht sind auch sie wieder Götter, die neue Kinder gebären, ganz aus sich selbst heraus. Sie fallen aus dem weichen Mutterschoss ins leere All, ein Klümpchen Kraft in eine immensen Leere.

Ich lege mich nieder, flach auf den Boden, fröstelnd.

Meine Gedanken verselbstständigen sich, werden zu einer Musik, absichtslos, aber unendlich tröstlich, der Moment des Einschlafens ist wie Heimkommen, eine kleine Erlösung. Bevor das Licht der Kerze erlischt, sehe ich, wie der junge Mann wieder zu einem Bündel auf dem Boden wird. Ich wollte es erkunden mit meinen Sinnen, ertasten mit meinen Händen, erlauschen mit meinem Ohr. Doch da ist nur noch ein leeres Bündel, ein schwarzes Ding in einem schwarzen Ding…

Eins

Es ging schon gegen Morgen. Im Wachsaal war – so paradox das klingt – ein vielstimmiges Schnarchen, Murmeln, Seufzen und Schmatzen der chemisch betäubten Patienten zu vernehmen. In einer Ecke sass die Nachtschwester über einer «Gala» oder «Glückspost» zusammengesunken und schlummerte ebenfalls selig und süss. Nur zwei waren wach: Don Quichotte und Sancho Pansa. Denn sie wollten noch in dieser Nacht abhauen.

Eine Welt voller Abenteuer und Aufgaben erwartete sie.

Komm, die Zeit ist da! ¡Vamos! zischte Don Quichotte seinem Kumpel Sancho Pansa zu. Mit blossen Füssen und in ihren weissen Nachthemden erinnerten sie ein bisschen an Kindergespenster, als sie jetzt aus den Betten stiegen, der eine gross und hager, ein typischer Leptosome (paranoide Schizophrenie, wie der Psychiater befriedigt festgestellt hatte), der andere klein und kugelig, der typischer Pykniker mit einer für den Pykniker typischen manisch-depressiven Neigung. Und schon stand Don Quichotte dicht vor der Nachtschwester und schaute ihr mit durchdringendem Blick ins Gesicht, was diese aber nur veranlasste, die Nase kraus zu ziehen, als müsse sie niesen. Vorsichtig zog ihr Don Quichotte den Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete die Tür des

Wachsaals. Adiós, arme Brüder, murmelte er, und der kleine Dicke winkte mit der feisten Hand.

Die beiden hatten sich erst hier in der Klinik kennen gelernt, waren aber trotz ihrer äusserlichen und charakterlichen Unterschiedlichkeit schon bald unzertrennlich geworden. Stundenlang hatte man sie die Köpfe zusammenstecken und Don Quichotte leise, aber eindringlich auf Sancho Pansa einreden sehen, während dieser eifrig mit dem Kopf nickte zu den Erläuterungen seines gross gewachsenen, dürren Kumpels.

Nachdem sie durch endlos lange Gänge gehuscht waren, zwei Kindergespenster, bange horchend auf verdächtige

Geräusche, aber ohne aufgehalten zu werden, standen sie jetzt vor dem Gebäude in der lauen Luft der

schönbesternten Sommernacht. ¿Adónde vamos ahora? fragte Sancho Pansa, der die Entscheidungen immer anderen, die es besser wussten, zum Beispiel seinem langen Kameraden, überliess. Don Quichotte überlegte

eine Weile und sagte dann bestimmt: Zum Schwimmbad!

Sancho daraufhin irritiert: ¿Ma porqué? Das Schwimmbad ist doch geschlossen um diese Zeit. Aber Don Quichotte liess diesen Einwand nicht gelten: Als Toboser könne man jederzeit an jeden beliebigen Ort gehen, also auch ins Schwimmbad, selbst wenn dieses geschlossen sei. Umso besser, wenn es geschlossen sei. Denn, so führte er aus, im Schwimmbad seien sie vor der Verfolgung des Feindes sicher. Ausserdem würde es ihnen da bestimmt gelingen, morgen, wenn die ersten Badenden kämen, einige passende Kleidungsstücke zu erbeuten. In diesen Fetzen könne er sich jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit zeigen, geschweige denn auf ein Pferd oder gar einen Lufthund setzen. Nicht einmal Unterhosen habe er an.

Natürlich sei es für einen Toboser irrelevant, ob er Unterhosen trage oder nicht, aber er wolle sich ja nicht so leicht zu erkennen geben. Tarnung, lieber Sancho, Tarnung ist das erste Gebot, wenn man mit geheimer

Mission im Feindesland unterwegs ist, schärfte der Ritter seinem Knappen ein.

Ausserdem habe er einfach Lust auf ein erfrischendes Bad.

Das alles erschien Sancho einerseits nicht so recht plausibel, das heisst, er verstand es nicht ganz, zudem

konnte er nicht schwimmen und war überhaupt wasserscheu; andererseits wusste er, dass sein Verstand zu beschränkt war, um so komplexe Materien wie die Angelegenheiten Don Quichottes zu durchdringen, und er

war immerhin so gescheit, seine eigene Beschränktheit zu erkennen und anzuerkennen.

Das öffentliche Schwimmbad der Gemeinde, zu welcher die Anstalt gehörte, befand sich auf der anderen Seite des Waldes, der die Klinik von der Ortschaft trennte. Also machten sie sich mit ihren blossen Füssen auf, diesen

Wald zu durchqueren: Don Quichotte fluchend, wenn er auf einen spitzen Stein getreten war oder sich die Zehen

angeschlagen hatte, Sancho Pansa alle Heiligen des Himmels anrufend, weil er sich in der Dunkelheit ein

wenig fürchtete und das Anrufen von Heiligen ja nie schaden kann.

Nach einer Zeit, die ihnen schier endlos erscheinen wollte, weil sie sich natürlich verlaufen hatten, langten sie endlich beim Schwimmbad an, das von einem knapp mannshohen Drahtgitter umzäumt war. Don Quichotte nahm dieses Hindernis im Sturm und landete auf der anderen Seite des Zauns zwar auf der Nase, doch fiel er des Rasens wegen relativ weich. Sancho Pansa jammerte und stöhnte, er werde es nie schaffen, über diesen Zaun zu kommen; eine Selbsteinschätzung, die sich schliesslich nur darum als Irrtum erweis, weil der Glaube, und erst recht der Glaube eines Don Quichotte, Berge versetzen kann.

Inzwischen dämmerte schon der Morgen herauf, die Luft war jetzt empfindlich kühl. Der arme Sancho, obwohl der weitaus besser gepolsterte, aber auch der weitaus empfindlichere von beiden, begann zu frösteln. Ausserdem

war er müde und sehnte sich nach einem Bett. Don Quichotte hingegen beschwor wortreich die Atmosphäre

Tobosos und die Tiefen des Alls, im heiligen Wasser gespiegelt, vor welchen sowohl Mensch als auch Toboser

nackt erscheinen würden. Und tatsächlich, da stand der würdige Ritter auch schon gänzlich entblösst auf dem

gepflegten Schwimmbadrasen zwischen Zierschilf und Bambusgestrüpp, machte einige Freiübungen nach gut

müllerscher oder nach Art von Turnvater Jahn, kreiste mit den Armen, atmete tief durch, nahm einen Anlauf und

tauchte kopfvoran ins heilignüchterne Element. Sancho schaute mit bekümmerter Miene zu, wie der edle Herr

seine Runden schwamm. Er zog heissen Kaffee einem kalten Bad bei weitem vor.

Etwas später hörten sie, wie ein Auto vor dem Schwimmbad anhielt. Wir müssen uns verstecken, rief Don Quichotte, der Feind naht! Es nahte aber bloss der Bademeister, der seine Runde machte, gestern liegen gebliebenes Eiscrèmepapier vom Rasen hob, die chemische Zusammensetzung des Badewassers kontrollierte, bevor er das Bad fürs Publikum, das aber erst vom späten Vormittag an zahlreicher herbeiströmen würde, öffnete.

Als erste Besucher kamen wie immer die pensionierten Kummers, er lang und dünn, sie klein und mollig, um in

Ruhe zu schwimmen. Am Nachmittag, wenn jeweils die heutige Jugend, die ja bekanntermassen ungezogen, frech und verdorben ist, das Bad in Beschlag nahm, wurde das ganz unmöglich.

So früh am Morgen war es noch nicht einmal nötig, die Kleider in Kästchen einzuschliessen. Und für Rohköstler

wie die Kummers war der frühe Morgen einfach eine herrliche Tageszeit.

Mit angehaltenem Atem standen Don Quichotte und Sancho Pansa hinter dem Vorhang der Männergarderobe,

der für die schamvolleren der Badegäste angebracht war, während Herr Kummer sich seiner Kleider entledigte. Als er endlich in den Badehosen war und sich vor dem Schwimmen im Spiegel ausführlich gekämmt hatte (warum das sein musste, wusste nur Herr Kummer selbst, und der Ritter tippte sich mit einer bezeichnenden Geste an die Stirn), dauerte es keine Minute, bis Don Quichotte in den Kleidern von Herrn Kummer, die ihm nicht schlecht passten, vor seinem dicken Freund und Knappen stand. Und ich? fragte dieser und hatte schon fast wieder ein Weinen in der Stimme.

Du holst dir die Kleider von Madame, aber mach, dass dich niemand sieht, befahl Don Quichotte.

Was soll ich damit?

Sie anziehen, Calabazo, was denn sonst?

Aber ich bin doch keine Frau! empörte sich da Sancho, der als Südländer trotz seines eher hasenfüssigen Wesens

eine gesunde Portion Machismo im Blut hatte.

Das merkt doch niemand, jedenfalls nicht von weitem. Hast du ihren prachtvollen Sonnenhut gesehen? Den

ziehst du dir ins Gesicht. Wenn sie meinen, du seist eine Frau, dann ist das doch die beste Tarnung! Niemand wird uns in dieser Verkleidung als Don Quichotte und Sancho Pansa respektive als Toboser erkennen. So überlistet man den Feind!

Das leuchtete sogar Sancho Pansa ein wenig ein, und er tat, wie ihm geheissen. Das Ehepaar Kummer schwamm

indessen und hatte das ganze Schwimmbecken für sich. Der Bademeister sass in seinem Bademeisterkabäuschen,

trank Kaffee, ass ein Hörnchen und las in der Morgenzeitung, was in der weiten Welt an Verrücktheiten wieder so alles passiert war. Nur die Frau des Bademeisters, die die Eintrittsbillete verkaufte, wunderte sich, als sie das

Ehepaar so bald wieder das Bad verlassen sah; und auch ein wenig über die stark mit grauen Haaren bewachsenen Unterschenkel Herr Kummers, die ihr bisher noch gar nicht aufgefallen waren.

 

Zwei

Don Quichotte war bis vor noch gar nicht allzu langer Zeit ein grosser Anhänger von Science-Fiction-Filmen gewesen. Tag und Nacht hatte er vor dem Bildschirm verbracht und sich eine DVD nach der anderen ins Hirn

hineingestopft, bis die Bilder schier aus seinen Ohren, aus seiner Nase und seinem Mund quellen wollten und sein Hirn beinahe trockengelegt war. In seinen Träumen wimmelte es nur so von Raumschiffen, fremden Planeten, Zeitreisen und bizarren Wesen aus anderen Galaxien. Mit der Zeit hatte Don Quichotte sich selbst immer mehr davon entfernt, ein Erdling zu sein, und hatte sich nach und nach zum Abgesandten einer fremden galaktischen Macht gemausert, fast nebenbei berufen, die Erde, wohin es ihn nun mal verschlagen hatte, vor Kräften des Bösen zu retten und zu bewahren.

Diese Mission, so wurde es Don Quichotte irgendwann klar, war seine Lebensprüfung und Bewährungsprobe.

Manchmal entwickelte sich bei ihm geradezu ein Heimweh nach seiner Heimatwelt, die sich da irgendwo

weit draussen in der unendlichen Leere des Universums in anderen Sternennebeln um eine andere Sonne drehen

mochte, Millionen, ja Milliarden Lichtjahre von der Erde entfernt. Solche Dimensionen gaben Don Quichotte einen ganz eigenen Zugang zu den Problemen des Alltags und deren Bedeutung.

Sein Heimatplanet hatte nach Don Quichottes Vorstellung eine sehr kuriose Gestalt. Und seine Bewohner

waren nicht minder sonderbar. Der Planet, Toboso eins genannt, war nämlich ganz und gar mit Wasser bedeckt, oder vielmehr mit so etwas wie Wasser, nämlich einer Art flüssigen Gases: einem Zwischending aus Wasser und Luft, das wusste Don Quichotte, der kein Naturwissenschaftler war, nicht so genau. Auf jeden Fall schwammen oder flogen in diesem Zwischending die Bewohner von Toboso, von denen es zwei Sorten gab, aber nicht etwa eine weibliche oder männliche, sondern eine vollkommene und eine unvollkommene.

Die vollkommenen Exemplare waren kugelförmig und, wenn man so will, aus je zwei unvollkommenen Teilen entstanden (gemäss einer anderen Theorie waren die vollkommenen Teile zuerst gewesen und dann aus noch unerforschten Gründen in zwei unvollkommene Teile zerfallen, die nun von der Sehnsucht nach dem ursprünglichen Zustand der Vollkommenheit geradezu besessen waren). Die Kugeln befanden sich in einem Zustand frag- und wunschlosen Glücks, waren alters- und zeitlos, mussten demnach weder Nahrung

aufnehmen noch Exkremente ausscheiden, kannten weder Müdigkeit noch Schlaf, unterlagen nicht der Liebe, dem Hass und der Leidenschaft, sondern waren einfach da und schwammen oder flogen in gänzlicher Harmonie im Zwischending herum: erleuchtete Kugeln.

Die unvollkommenen Exemplare waren noch weit von solch paradiesischen Zuständen entfernt. Sie mussten sich zuerst in allen möglichen Wandlungen bewähren, manchmal auf der Erde, dann wieder auf einer Welt in einer ganz anderen Ecke des Universums die verschiedensten Abenteuer bestehen und stets gegen die Mächte des Bösen kämpfen, damit das Gleichgewicht im Grossen und Ganzen erhalten blieb.

Dass Toboser, um diese wahrhaft titanische Aufgabe zu bewältigen, nicht nur äusserst mutig und schlau, sondern

auch flexibel, anpassungsfähig, kreativ, analytisch, durchsetzungsfähig und einfühlsam sein mussten, versteht sich von selbst.

Dies alles und noch viel mehr hatte Don Quichotte während der langen Tage in der Anstalt dem Sancho

Pansa auseinandergesetzt – natürlich mit der Sache angemessenen Worten und doch so, dass Sancho wenigstens

einigermassen folgen konnte – keine geringe intellektuelle Herausforderung, wie Don Quichotte fand.

Auf der Erde sah unser tobosischer Ritter das Böse in verschiedener Gestalt, aber unter Wahrung einer inneren

Einheit, sein Werk vollbringen. Die Feinde stammten ursprünglich ebenfalls aus anderen Welten, nämlich von

einem Planeten namens Cerberus eins. Don Quichotte war davon überzeugt (allerdings, ohne deshalb in seiner

Standfestigkeit oder seiner Zuversicht erschüttert zu werden), dass die Erde kurz vor einer endgültigen

Übernahme durch die Cerberaner stehe. Woraus schliesst dies unser Held? Nun, allein schon durch zahlenmässiges Vorhandensein. Die Cerberaner tarnten sich nämlich als Maschinen, während die Toboser, wie gesagt, in Menschen- und in seltenen Fällen auch in Tiergestalt auftraten. Mit Vorliebe wählten die Cerberaner eine Tarnung als Auto, Flugzeug oder als Computer. Oder als Fernsehgerät, Stereoanlage, Gartengrill. Selbstverständlich waren nicht alle Autos, Computer und Wachmaschinen getarnte Cerberaner, aber doch ein stets wachsender Anteil an ihnen. Die echten Menschen merkten davon natürlich nichts. Sie meinten noch immer, sie würden das Auto steuern, während es längst so war, dass das Auto, also der versteckte Cerberaner, sie steuerte. Leute, die einen versteckten Cerberaner in Form eines Fernsehgerätes bei sich in der Wohnung hatten, glaubten, sie würden ein ganz normales Programm anschauen, während sie auf subtile Art und Weise auf die Machtübernahme durch die vom Planeten Cerberus vorbereitet wurden. Gehirnwäsche nennt man das.

Gegen derart versteckte Kräfte musste Don Quichotte also antreten. Das Delikate dabei war, dass die Cerberaner alle zusammenarbeiteten, während die Toboser aus Prinzip und aus Bestimmung strikte Einzelkämpfer waren. Don Quichotte wusste deshalb nicht, ob es neben ihm noch andere Toboser auf der Erde gab, was zwar anzunehmen, aus oben erwähntem Grund aber irrelevant war.

Trotzdem war Don Quichotte stets guten Mutes, denn sein Selbstbewusstsein war sehr ausgeprägt und sein

Optimismus ausserordentlich stark.