Buch lesen: «Giuseppe Verdi. Leben, Werke, Interpreten»
Christian Springer
GIUSEPPE VERDI
LEBEN, WERKE, INTERPRETEN
epubli GmbH, Berlin
Imprint
Giuseppe Verdi. Leben, Werke, Interpreten
Christian Springer
published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
Copyright: © Christian Springer
ISBN 978-3-8442-4066-5
Für Christine
Inhalt
Vorbemerkung
Zu den Dokumenten und Übersetzungen
Prolog
I
Jugend und Studienzeit – Rocester – Sei romanze – Oberto conte di San Bonifacio – Ignazio Marini – Lorenzo Salvi – Mary Shaw – Antonietta Rainieri-Marini – Luigia Abbadia – Un giorno di regno – Bartolomeo Merelli
II
Nabucco – Otto Nicolai – Giorgio Ronconi – Prosper Dérivis – Giuseppina Strepponi – Corrado Miraglia – Verdi, ein politischer Komponist? – Temistocle Solera – I Lombardi alla prima crociata – Carlo Guasco – Erminia Frezzolini – Ernani – Sofia Loewe
III
I due Foscari – Francesco Maria Piave – Emanuele Muzio – Marianna Barbieri Nini – Achille De Bassini – Giacomo Roppa – Mario – Giovanna d’Arco – Antonio Poggi – Filippo Colini – Alzira – Salvadore Cammarano – Eugenia Tadolini – Gaetano Fraschini – Filippo Coletti
IV
Attila – Andrea Maffei – Macbeth – Napoleone Moriani – Verdis Präferenz für Shakespeare – Shakespeare In Italien – Papa Shakespeare – Ein Wagnis und eine Neuerung: Das Libretto in prosa – Das Meer in einem Löffel einfangen – Vom Shakespeare-Text zum Opernlibretto – Die musicabilità – Kürze und Erhabenheit – Felice Varesi – Die Revision des Macbeth – I masnadieri – Jenny Lind – Luigi Lablache – Italo Gardoni – Jérusalem – Gilbert-Louis Duprez
V
Il corsaro – Giuseppina Strepponi – Revolutionsjahr 1848 – La battaglia di Legnano – Teresa De Giuli Borsi – Luisa Miller – Marietta Gazzaniga – Settimio Malvezzi – Antonio Selva – Stiffelio – Aroldo – Marcellina Lotti della Santa – Emilio Pancani – Gaetano Ferri
VI
Rigoletto – Teresa Brambilla – Raffaele Mirate – Annetta Casaloni – Il trovatore – Elena Rosina Penco – Emilia Goggi – Carlo Baucardé – Giovanni Guicciardi – La traviata – Fanny Salvini Donatelli – Lodovico Graziani
VII
Intermezzo I
Erste Erwähnung des Lear – Der erste Entwurf – Die Sängerkategorien zu Verdis Zeit – Antonio Somma – Neue Wege – Eine Besetzung für die Uraufführung des Lear – Änderungen am Lear trotz erlahmendem Interesse – Langsamer Abschied von Re Lear – Fünfzig Jahre Beschäftigung mit Re Lear – Endgültiger Verzicht
VIII
Les Vêpres siciliennes – Charles Santley – Sofia Cruvelli – Louis Gueymard – Marc Bonnehée – Louis-Henri Obin – Simon Boccanegra – Leone Giraldoni – Luigia Bendazzi – Carlo Negrini – Giuseppe Echeverria
IX
Un ballo in maschera – Verdi und die Politik – La forza del destino (Erstfassung 1862 und Neufassung 1869) – Inno delle nazioni – Caroline Barbot – Enrico Tamberlick – Francesco Graziani – Gian Francesco Angelini – Alessandro Manzoni – Luigi Colonnese – François-Marcel Junca – Mario Tiberini – Libera me
X
Don Carlos und seine Revisionen – Pauline Lauters-Gueymard – Marie-Constance Sasse – Jean-Baptiste Faure – Sir Michael Costa – Giorgio Stigelli – Antonio Cotogni – Antonietta Fricci – Mathilde Marchesi – Angelo Mariani – Paul Lhérie
XI
Intermezzo II
Der Verdi-Bariton
XII
Aida – Camille du Locle – Verdi und Ägypten – Auguste Mariette – Antonio Ghislanzoni – Von Nitteti über Bajazet zu Aïta? – Antonietta Pozzoni – Giovanni Bottesini – Eleonora Grossi – Pietro Mongini – Francesco Steller – Paolo Medini – Teresa Stolz – Der Briefwechsel zwischen Giuseppe Verdi, Giuseppina Strepponi und Teresa Stolz – Maria Waldmann – Giuseppe Fancelli – Francesco Pandolfini – Ormondo Maini – Streichquartett e-Moll – Messa da requiem
XIII
Intermezzo III
Verdi-Interpretation und Verdi als Interpret
Verdi als Dirigent – Aufführungsanweisungen, Missverständnisse und unerwünschte Wirkungen – Echte Traditionen: Appoggiaturen und Kadenzen – Falsche Traditionen – Veränderungswürdige Zustände in italienischen Theatern – Verdi setzt seine Ideen durch – Zuerst die Sänger, dann der Stoff – „Verdi-Sänger“ – Entweder die Opern für die Sänger oder die Sänger für die Opern – Vortragen bedeutet nicht Brüllen! – Verdis Verhältnis zum gesungenen Wort – Ein erbitterter Feind von Strichen und Transpositionen oder die Ablehnung einer Lieblingssängerin – Wechselwirkung zwischen Sängern und dem Komponisten – Eingelegte Höhen – Gesangsausbildung und schöne Wissenschaften – Rückkehr zum Macbeth – Husten und Lachen – Ein gefälschter Brief – Intelligente Interpretation – Impertinente Esel, die Opern massakrieren – Die szenische Komponente – Don Carlo und Aida – Kehrt zu den Kavatinen zurück – Weg mit den Menschen da! – Die parola scenica – Es gibt nur eine einzige Interpretation eines Kunstwerks – Intelligenz und Gefühl – Falstaff, eine überaus leicht aufzuführende Oper – Abgesang
XIV
Die Revision des Simon Boccanegra – Arrigo Boito – Anna D’Angeri – Édouard de Reszke – Franco Faccio – Otello – Giulio Ricordi – Pater noster – Ave Maria – Romilda Pantaleoni – Francesco Tamagno
XV
Falstaff – Victor Maurel – Antonio Pini-Corsi – Edoardo Garbin – Adelina Stehle – Emma Zilli – Giuseppina Pasqua – Vittorio Arimondi – Premiere und Folgeaufführungen – Einige Besonderheiten des Falstaff
XVI
Intermezzo IV
Musikkritik im Italien des 19. Jahrhunderts – „Schmeissfliegen, die das Banner der himmlischen Kunst besudeln“ – Internationale Kritiker im 19. Jahrhundert – Der Verdi-Hasser Hanslick – Verdis Opern „lauter schlechtes Zeug“ – Das „schwarze, ameisenartige Gewimmel von Noten“ im Don Carlos – Aida, eine eingeschränkte Lobeshymne – „Die Wahl des Otello für eine Oper ist mir unsympathisch“ – „Die Lustigen Weiber sind Verdis Falstaff musikalisch entschieden überlegen“ – Hanslick an dem „geistlosen Charlatan“ kläglich gescheitert – Das Aufatmen nach Hanslick: Die Verdi-Renaissance
XVII
Quattro pezzi sacri – Letzte Jahre
Epilog
Eine Primadonna – Das Ende einer Epoche: Adelina Patti
Dank
Ausgewählte Bibliographie
Einige Disposizioni sceniche zu Verdi-Opern
Quellennachweis und Bibliographische Abkürzungen
Bilder
Notenbeispiele
Vorbemerkung
D
as vorliegende Werk, das unter dem seinen Aufbau und Inhalt etwas reduzierenden Titel Verdi und die Interpreten seiner Zeit in Wien im Jahr 2000 erschienen ist und von der internationalen Fachkritik ausgezeichnet aufgenommen wurde, wird jetzt aus Anlaß der Wiederkehr des 200. Geburtstages des Komponisten in überarbeiteter und erheblich erweiterter Form vorgelegt.
Während sich in den seit damals vergangenen zwölf Jahren keine grundlegenden neuen Erkenntnisse hinsichtlich der Biographie des Komponisten ergeben haben, konnte doch etwas Licht in einige Randbereiche seiner Vita gebracht werden. So erscheinen hier beispielsweise erstmals bislang unveröffentlichte Informationen über den Briefwechsel zwischen Giuseppe Verdi, Giuseppina Strepponi und Teresa Stolz, von dem man sich Erhellendes über das ominöse Dreiecksverhältnis erhoffte.
Die Überarbeitung wirkte sich im wesentlichen auf zusätzliche umfangreiche Informationen über die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichten etlicher Opern sowie auf neue Interpretenbiographien und Ergänzungen bestehender Biographien aus.
Die Erweiterungen fallen nicht nur vom Umfang her ins Gewicht: So leitet etwa das Kapitel „Die Verdi-Rezeption im deutschen Sprachraum am Beispiel von Eduard Hanslick“ zur Verdi-Renaissance im 20. Jahrhunderts über. In einem eigenen Kapitel werden Giuseppe Verdi als Interpret seiner Werke und die Interpretationen seiner Werke dargestellt, wie sie aus Besprechungen der von ihm selbst geleiteten Aufführungen seiner Werke, aus seinen schriftlich und mündlich überlieferten Anweisungen und aus der zu seiner Zeit geübten Aufführungspraxis abgeleitet werden können. Schließlich wird die Entstehungsgeschichte des Librettos zu Re Lear und Verdis Auseinandersetzung mit diesem Shakespeare-Stoff in Augenschein genommen, der immer dann, wenn die Sujetwahl für ein neues Werk anstand, über einen Zeitraum von fünfzig Jahren in seinen Überlegungen präsent war und den er letztendlich doch nicht komponierte. Und nicht zuletzt ist das Bildmaterial des Bandes großteils neu und wesentlich umfangreicher.
All das und vieles andere mehr soll das Phänomen Verdi noch deutlicher darstellen und es dem Besucher und Hörer seiner Opern leichter zugänglich machen.
Wien, im November 2012
Ch. S.
Zu den Dokumenten und Übersetzungen
D
ie Briefe Giuseppe Verdis, die bei weitem noch nicht alle bekannt sind und wissenschaftlich ausgewertet oder veröffentlicht wurden, gehen in die Tausende. Allein das Archiv des Istituto Nazionale di Studi Verdiani in Parma verfügt über mehr als 28.000 Briefdokumente (auch in Form von Photokopien oder auf Mikrofilm). Schon Verdis Korrespondenz mit Vertretern von drei Generationen des Verlagshauses Ricordi beläuft sich auf über 3.500 Briefe.
Weitere bedeutende Institutionen in Italien, in welchen ein Großteil von Verdis Korrespondenz aufbewahrt wird, sind u.a. die Villa Verdi in Sant’Agata di Villanova d’Arda, das Archivio Storico di Casa Ricordi, das Museo Teatrale alla Scala in Mailand sowie die Bibliothek des Conservatorio „G. B. Martini“ in Bologna.
Der bereits bekannte Schriftwechsel wird seit kurzem um ein seit Jahrzehnten von einem Mysterium umgebenen Konvolut von 234 Briefen bereichert, die zwischen Giuseppe Verdi, Giuseppina Strepponi und Teresa Stolz gewechselt wurden. Man erwartete, daraus Einblick in Verdis Privatleben zu gewinnen. Einer italienischen Musikwissenschafterin und Autographenexpertin wurde vom neuen Besitzer dieses Briefkonvoluts Einsicht in die Dokumente gewährt. Ihre daraus vorläufig gewonnenen Erkenntnisse hat sie dem Verfasser freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Sie werden im Kapitel „Der Briefwechsel zwischen Giuseppe Verdi, Giuseppina Strepponi und Teresa Stolz“ ausführlich behandelt.
Die bekannten Briefe wurden und werden, nach Themen, Werken, Schaffensperioden usw. geordnet und mit Kommentaren versehen, als Auswahlen immer wieder veröffentlicht. Während vorwiegend in Italien, aber auch im englischen Sprachraum gewichtige Bände erscheinen, die Dokumente von und über Verdi präsentieren und aufarbeiten, ist ein beträchtlicher Teil seiner Korrespondenz, trotz mancher verdienstvoller Bemühungen, im deutschen Sprachraum wenig bekannt: Umfassende Dokumentensammlungen wie Copialettere, Carteggio Verdi-Ricordi I-III, Carteggio Verdi-Somma, Carteggio Verdi-Luccardi, Carteggio Verdi-Cammarano, Verdi intimo, Carteggi verdiani, Giuseppe Verdi nelle lettere di Emanuele Muzio ad Antonio Barezzi oder Oberdorfers Autobiografia dalle lettere liegen nur im Originalwortlaut vor und sind hier allenfalls aus Bibliographien bekannt oder von einigen wenigen Spezialisten verwertbar. In meiner rezenten Simon Boccanegra-Monographie[1] sind zahlreiche Briefe und Dokumente enthalten, die bislang nicht in deutscher Sprache erschienen sind.
Es war mein Bestreben, für das vorliegende Buch Dokumente auszuwählen und vorzulegen, die nicht jedem Leser, der sich für Verdi interessiert, bereits bekannt sind. Aus der Überfülle des verfügbaren Materials mußte eine Auswahl getroffen werden, die einerseits den zur Verfügung stehenden Platz nicht sprengte und andererseits eine angemessene Behandlung der jeweiligen Themen gewährleistete.
Wie in seinen Werken zeigt Verdi auch in seiner Korrespondenz eine Geradlinigkeit der Aussage, die in ihrer Schnörkellosigkeit kaum zu überbieten ist. Man kann also getrost die Dokumente für sich selbst sprechen lassen, ohne erläuternd oder interpretierend eingreifen zu müssen.
B
ei der Übersetzung der im Text zitierten Dokumente habe ich größtes Augenmerk auf Genauigkeit und Vollständigkeit gelegt. Weggelassene, da für das Thema nicht relevante Textpassagen sind mit [...] gekennzeichnet. Ergänzungen, die dem Sinn nach vorzunehmen waren (z.B. aufgrund von Auslassungen im Original, sprachlicher Gegebenheiten oder Flüchtigkeit), sind in [] kenntlichgemacht. Passagen in () stammen von den Autoren der Dokumente. In den Autographen unterstrichene Passagen werden kursiv wiedergegeben.
Stil und Sprachebene der Dokumente wurden beibehalten, unbeholfene Formulierungen nicht geglättet, Interpunktionseigenheiten, Wort- und Gedankenwiederholungen, Fehler bei der (z.T. phonetischen) Schreibweise von Eigennamen („Shaspeare“, „Shachespeare“, „Shespeare“, „Vagner“, „De Restke“, „Rotschild“, „Loeve“, „Tamberlich“, „Quichly“ usw.), Werktiteln (Macbet, Nabuco, Dame aux Camelia) u.dgl. beibehalten.[2] In italienischen Briefen enthaltene fremdsprachige Zitate wurden samt Fehlern („bietifol“, „Ledys“) übernommen und ggf. in [] oder in Fußnoten übersetzt bzw. erklärt. Auch offensichtliche Irrtümer der Autoren der Dokumente (wenn Muzio beispielsweise die Cordelia im Macbeth ansiedelt) wurden im Text belassen und in Fußnoten kenntlichgemacht. Auf die Kennzeichnungen mit [!], [sic!] oder [sic] wurde dabei bewußt verzichtet. Die Orthographie und Zeichensetzung deutschsprachiger Texte der Zeit wurde unverändert übernommen.
Die von den Verfassern der verschiedenen Briefe und Dokumente sehr differenziert verwendeten Anreden „Voi“, „Ella“ oder „Lei“ (Verdi sprach Boito mit „Voi“ an, während Boito das modernere „Lei“ verwendete; Verdi duzte Morelli, dieser blieb hingegen beim respektvollen „Voi“) wurden im Deutschen entsprechend wiedergegeben. Verdi unterschrieb alle seine Briefe, auch die an die wenigen Duz-Freunde gerichteten, unterschiedslos und psychologisch aufschlußreich mit „G. Verdi“, mit einem den Namen schützend umschließenden Schnörkel. Datumsangaben werden in den zitierten Briefen immer vollständig wiedergegeben, auch wenn sie im Original abgekürzt aufscheinen. Fehlende oder falsche Datierungen bei Briefen wurden auf der Grundlage des letzten Wissensstandes der Verdi-Forschung ergänzt bzw. richtiggestellt. Auch unleserliche Passagen in Verdis oft schwer leserlicher Handschrift (er schrieb „wie ein Riese, für den das Schreibwerkzeug zu klein war“, wurde einmal gesagt), die manchmal nicht korrekt transkribiert sind, wurden derart richtiggestellt. Dank gebührt dafür den im Quellennachweis und Bibliographischen Abkürzungsverzeichnis genannten Autoren und Herausgebern, deren aufwendige Forschungstätigkeit bei der Aufarbeitung der zahlreichen Dokumente gar nicht hoch genug geschätzt werden kann.
Werktitel werden, der jeweiligen Fassung bzw. Aufführung entsprechend, immer in ihrer Originalsprache wiedergegeben: z.B. Jérusalem oder Les Vêpres siciliennes in ihrer französischen Originalfassung, Gerusalemme oder I vespri siciliani in ihrer italienischen Version usw. Bei Otello weist die italienische Schreibweise auf die Oper Verdis oder Rossinis oder auf die italienische Textfassung von Shakespeares Theaterstück hin, Othello auf die englische, deutsche oder französische Version der Oper oder des Theaterstücks. Die Schreibweise Don Carlos findet nur für die französische Originalfassung der Oper Verwendung; die italienische Übersetzung trägt den Titel Don Carlo.
Dasselbe gilt für die Opern anderer Komponisten. Die Sprache des zitierten Titels weist immer auf die Sprache der jeweiligen Produktion hin: Guglielmo Tell, Il profeta, Il re di Lahore, L’africana, Gli ugonotti etc. für Aufführungen in italienischer Sprache, Guillaume Tell, Le prophète, L’Africaine, Le roi de Lahore, Les Huguenots etc. für Aufführungen in französischer Sprache usw. Auch die erwähnten Rollennamen in den Sängerportraits folgen diesem System (z.B. Hélène in Jérusalem oder Les Vêpres siciliennes, Elena in Gerusalemme oder I vespri siciliani).
In den verschiedenen Quellen scheint das Pariser Théâtre Italien auch als Théâtre-Italien und Théâtre des Italiens auf. Alle Bezeichnungen sind möglich und gebräuchlich.
Eigennamen von Personen werden immer in der Schreibweise wiedergegeben, in der sie von ihren Trägern verwendet wurden: z.B. Gioachino[3] Rossini, Salvadore Cammarano usw.
Irrtümer und fehlende Textpassagen in der Sekundärliteratur, die auf fehlerhafte oder unvollständige Transkription von Dokumenten zurückzuführen sind, wurden nach bestem Wissen und Gewissen berichtigt, ergänzt und gekennzeichnet.
D
ie Kaufkraft der in Italien im 19. Jahrhundert gebräuchlichen und im Text bei Honoraren und Gagen angegebenen Währungen (bis zur Einigung Italiens Dukaten, Francs, österreichische Lire und Napoleondor, ab 1862 die italienische Lira) und ihre Beträge sind z.T. nur kaum in der Kaufkraft heutiger Währungen wiederzugeben. Grund dafür ist unter anderem der Umstand, daß zwar für manche Währungen Goldparitäten bekannt sind, für andere wiederum nur Silberparitäten, was eine auch nur annähernd genaue Umrechnung unmöglich macht. Bei der Angabe der nur als ungefähre Richtwerte zu verstehenden Umrechnungen habe ich mich unter Berücksichtigung der amtlicherseits angegebenen Inflation außer auf die Angaben der Oesterreichischen Nationalbank (Abteilung für Veranlagungsstrategie und –risiko) und der von den Wirtschaftskammern Österreichs angegebenen Inflationsraten (2000-2011) auch auf die von Herbert Weinstock[4] im Jahre 1967 errechneten Berechnungsgrundlagen, auf die von John Rosselli[5] in mehreren Währungen erstellten Gagentabellen sowie auf den Katalog der Ausstellung Il titanico oricalco. Francesco Tamagno (Teatro Regio di Torino1997, S. 51) gestützt.
Wien, im November 2012
Ch. S.
In allen Opernhäusern der Welt fehlt ein Raum. Dieser Raum müßte ein beträchtliches Fassungsvermögen besitzen und allen Besuchern vor Beginn, vor allem aber nach Ende der Vorstellungen zugänglich sein. Über seinem Eingang müßte die Aufschrift „Auf der Suche nach den verlorenen Goldenen Zeitaltern“ angebracht sein. Der Raum, den ich meine, ist der Klageraum. Ch.S. |
Prolog
W
er sich für Gesang in seiner speziellen Ausformung als Operngesang interessiert und zu diesem Thema einschlägige Äußerungen von Komponisten, Sängern, Impresari, Gesangspädagogen, Dirigenten und sonstigen Experten aus den Jahrhunderten seit Erfindung der Kunstform Oper nachliest, wird zwei Dinge bald bemerken. Erstens: Der Begriff „Gesangskunst“ ist seit jeher untrennbar mit dem Wort „Niedergang“ verbunden. Und zweitens: Wirklich gut gesungen wurde anscheinend weniger in der jeweiligen Gegenwart, als vorwiegend in lange zurückliegenden „Goldenen Zeitaltern“.
Die Existenz mancher dieser Goldenen Zeitalter ist nicht von der Hand zu weisen. Viele in sich abgeschlossene Phasen oder Perioden weisen ein solches Goldenes Zeitalter auf, womit eine Zeit der Hochblüte gemeint ist. Das gilt sowohl für Kulturen – vom Alten Ägypten über das antike Griechenland bis zum Römischen Imperium – als auch für Musikepochen, die Karrieren von Komponisten, Interpreten usw. All das kann nur im Rückblick erkannt und zeitlich abgegrenzt werden. Weder Bach noch Mozart, Beethoven oder Verdi hätten ihre Periode bezeichnen, den Verlauf ihres Schaffensprozesses definieren oder deren jeweilige Höhepunkte bezeichnen können.
Das Gesagte gilt auch für die Lebenszeit einer Kunstform wie der Oper. Ungeachtet aller Stile und im nachhinein gewählter Epochenbezeichnungen wie Barock, Klassik oder Romantik hat auch die Kunstform und ihre Ausübung immer wieder Zeiten der Hochblüte erlebt, ob es sich nun um die Epoche der neapolitanischen Oper oder jene der Zeiten der großen Interpreten des Belcanto wie Primadonnen und Kastraten im 17. und 18. Jahrhundert gehandelt hat. Daß die einzelnen Komponisten – abgesehen von den Pionieren wie Peri oder Monteverdi – eine Hochblüte der Kunstform und ihrer Interpretation jeweils zumeist in der Zeit der eigenen Jugend ausmachten und die eigene Gegenwart im Vergleich dazu als Niedergang betrachteten, liegt in der Natur der Dinge und der menschlichen Psyche.
Daraus abzuleiten, daß früher alles besser war, ist – nicht nur wegen der pauschalen Vereinfachung und Verallgemeinerung des Sachverhaltes – ein zweischneidiges Schwert. Der Ausspruch: „Früher war nicht alles besser. Nur das Schlechte war besser gemacht“ ist zwar witzig und trifft auf Einzelbereiche zu, ist aber nicht allgemeingültig. Zutreffend ist die Sichtweise, daß früher nicht alles besser, sondern einfach nur anders war.
Der Cellist Mstislav Rostropowitsch (1927-2007) hat in einem kurz vor seinem Tod produzierten TV-Portrait[6] die Entwicklung zusammengefaßt. „Zu meiner Zeit“, sagte er sinngemäß, „gab es weltweit fünf bis sechs Cellisten, die auf meinem Niveau spielten. Heute gibt es zweihundert und mehr.“ Diese Beobachtung trifft auf Pianisten, Geiger und Sänger gleicherweise zu, ebenso auf Orchester. Es ist geradezu lächerlich, wenn Musikchauvinisten heute behaupten, dieses oder jenes Opernhaus oder dieses oder jenes Orchester sei „das beste der Welt“. Schon Verdi fand derlei Behauptungen lächerlich: „Und überhaupt: das Erste Theater der Welt!? Ich kenne fünf oder sechs dieser Ersten Theater, und ausgerechnet in denen macht man am häufigsten schlechte Musik.“[7]
Wer Ohren hat, um zu hören, und mit international tätigen Dirigenten spricht, weiß, daß die Orchester der großen Opernhäuser wie auch die renommierten Symphonieorchester weltweit heute praktisch alle auf demselben hohen Niveau spielen. Auch verschiedene Jugendorchester können da durchaus mithalten. Unterschiede zwischen Orchestern sind allenfalls aufgrund der Verwendung unterschiedlicher Instrumente feststellbar, oder auch in der Philosophie der einzelnen Orchester. James Levine beispielsweise hat im Laufe seiner jahrzehntelangen Tätigkeit an der Metropolitan Opera, New York, die Spielweise des Orchesters dieses Hauses daraufhin ausgerichtet, daß es im Falle einer plötzlich auftretenden Diskrepanz zwischen Orchestergraben und Bühne, die ein Dirigent nicht blitzartig beheben kann, bei den Sängern – Solisten und/oder Chor – „bleibt“, d.h. sich aus eigenem Antrieb darauf konzentriert, die Begleitung der Stimmen aufrechtzuerhalten und nicht auf allfällige, in der Hektik möglicherweise falsche Reaktionen des Dirigenten achtet. So etwas war einmal an der Wiener Staatsoper zu beobachten, als einem berühmten Dirigenten das Schlußterzett im Rosenkavalier so hoffnungslos auseinanderfiel, daß er den Taktstock wegwarf und laut „Aufhören!“ rief. Der Konzertmeister überließ den Maestro seiner Panikattacke und fing Orchester und Solisten wieder ein.
Ebenso weiß man, daß die Qualitätsunterschiede zwischen den Orchestern sogenannter erster Häuser und jenen mittlerer und sogar kleinerer Häuser immer geringer werden. Ein (vorwiegend aus Laien zusammengesetztes) Orchester eines mittleren oder sogar großen italienischen Opernhauses aus der Mitte des 19. Jahrhunderts[8] heute zu hören, ließe einen wohl an die Darbietung der Banda eines süditalienischen Dorfes, die auf dem Hauptplatz Opernpotpourris darbietet, denken.
Auch wenn heute oft beklagt wird, es gäbe keine großen Sängerpersönlichkeiten mehr, trifft das nur bedingt zu. Es gibt sie, in statu nascendi, sozusagen als Rohmaterial, nach wie vor. Und da es im Vergleich zu früher so viele gibt, die hervorragend ausgebildet sind und die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Karriere besitzen, können sie sich oft nicht entwickeln, sich durchsetzen und entsprechend ihrem Potential und Können bekannt werden, weil sie zumeist nicht an kleinen und mittleren Häusern sorgfältig und langsam aufgebaut werden, sondern sofort nach der Ausbildung mit (zu) großen und schweren Aufgaben betraut und im internationalen Opernbusiness herumgereicht werden. Das ist verlockend, weil man rasch bekannt wird und gut verdient, führt aber karrieremäßig kaum irgendwo hin. „Heute arbeitet niemand mit diesen Leuten“, sagt die Mezzosopranistin Vesselina Kasarova, „damit sie womöglich auch zu Persönlichkeiten heranreifen können. Manchmal scheint es, als würde Persönlichkeit sogar stören.“[9] Die Betroffenen machen die Karrieren, die sie eigentlich machen könnten, dann oft nicht, weil die Stimme binnen kurzem überfordert und beschädigt wird, aber auch, weil andere Kollegen physisch resistenter oder billiger sind, willfähriger, an unsäglichen Inszenierungen mitzuwirken, über bessere Beziehungen und Netzwerke verfügen, aggressivere Agenten oder stärkere Nerven haben usw. Die Anzahl der potentiellen Könner beträgt jedenfalls ein Vielfaches von jenen, die dann tatsächlich Karriere machen. Ausnahmen wie die sattsam bekannten, von PR-Maschinerien und Medien extrem und besinnungslos gehypten Karrieren, die dann auch nach wenigen Jahren wieder vorbei sind, bestätigen die Regel.
„Heute macht man auf der Bühne das, was der Markt fordert oder was der Regisseur will“, stellt die Sopranistin Montserrat Caballé fest. „Und wenn sich Erfolg einstellt, werden die jungen Sänger verrückt und wagen alles – obwohl ihnen noch die Reife fehlt. Viele Operndirektoren sind nur noch Funktionäre oder Manager, die auf den Kartenverkauf schauen. Und manchmal sehe ich Vorstellungen, die einfach peinlich sind. Dann denke ich: ‚Der arme Komponist, was hat man mit ihm gemacht.‘“[10]
Daß der Klassiksektor der Musikindustrie seit Jahren in einem beklagenswerten Zustand ist, ist bekannt. Weniger bekannt sind die Gründe, die zu dieser Misere geführt haben. Obwohl oft die Internetpiraterie als Hauptverursacher der eingebrochenen Verkaufszahlen ins Treffen geführt wird (wobei unberücksichtigt bleibt, daß nicht jeder, der sich Musik irgendwo gratis herunterlädt, auch wirklich ein potentieller Käufer des Produkts wäre), sind sie zum Teil selbstverschuldet. Der Bariton Thomas Quasthoff, der 2012 seine Gesangskarriere abrupt beendete, gibt darüber Auskunft: „So wie die Branche mittlerweile funktioniert, bin ich froh, auch mit diesen Dingen in Hinkunft nichts mehr zu tun haben zu müssen. [...] Seit 1999 hatte ich [bei der Deutschen Grammophon] zehn unterschiedliche Produzenten erlebt, auch da war keine Kontinuität. Es gibt auch keine Kontinuität in dem Sinne, daß junge Sänger in aller Ruhe aufgebaut werden. Auch war die exklusive Zugehörigkeit eines Künstlers zur DG früher eine hohe Auszeichnung. Das kann ich nicht mehr entdecken. Da werden Leute schnell hochgepuscht, die den Status gar nicht verdienen. [...] Die Zeiten haben sich geändert. Wenn ich mir heute von einem 30jährigen Wirtschaftsmenschen sagen lassen soll, wie das Musikgeschäft funktionieren muss – dazu habe ich mit 52 keine Lust. Ein Beispiel: Als ich meine erste Jazz-CD plante, kam tatsächlich ein Marktanalytiker zu mir und meinte, sie hätten eine Untersuchung durchgeführt und diese hätte ergeben, die CD würde überhaupt niemanden interessieren, würde nicht laufen! Wie konnten die eine Analyse machen, wo sie doch das Produkt nicht wirklich kannten, überhaupt nicht wussten, was für Repertoire geplant war? Das kann es doch nicht sein! Die Tatsache dazu: Das Jazzprojekt führte zur zweiterfolgreichsten CD in meiner DG-Karriere, verkauft wurden fast 100.000 Stück. So sieht das heute aus. Da sitzen Leute, die glauben, mir etwas über Musik und Management erzählen zu können – da lache ich mich kaputt!“[11]
W
ie der folgende Zitatenquerschnitt zeigt, setzte der Niedergang der Gesangskunst bald nach der Etablierung der Kunstform Oper ein. Schon 1723 beklagte Pier Francesco Tosi dies in einem Werk[12], das auch heute noch immer wieder neu aufgelegt wird: „Meine Herren Maestri, in Italien hört man nicht mehr die Stimmen der vergangenen Zeiten!“ Fünfzig Jahre später schlug Giovanni Battista Mancini in dieselbe Kerbe: „Viele meiner Leser werden sich fragen, weshalb nach einer so großen Anzahl von tüchtigen Sängern seit einiger Zeit nicht nur bei den Italienern selbst, sondern sogar bei den Menschen jenseits der Alpen die Meinung entstanden ist, daß unsere Musik völlig in Verfall geraten ist und daß es an guten Schulen und guten Sängern mangelt. [...] Man muß jedoch zugeben, daß diese Meinung hinsichtlich der Sänger leider der Wahrheit entspricht, bei denen man fast niemanden nachkommen sieht, der die Leere, die [das Abtreten der] alten Künstler hinterlassen hat, auffüllt.“[13] Man sieht, daß es selbst in der damaligen Hochblüte der Gesangskunst – die Oper wurde zu jener Zeit von virtuosen Kastraten und Primadonnen dominiert – Anlaß zu nostalgischen Klagen gab.
Apropos Kastraten: Sie und ihre unversehrten Sängerkollegen waren im 18. Jahrhundert die geradezu mythischen Vertreter des bel canto[14]. Gesangsexperten wie Pacini[15], der in seiner Jugend noch den Kastraten Pacchiarotti[16] gehört hatte, erinnerte sich nostalgisch: „Ach, wo sind nur die Sänger geblieben, die mit einem einfachen Rezitativ [dem Publikum] einen allgemeinen Aufschrei der Bewunderung entlockten? Wo sind die Töne geblieben, die einem zu Herzen gingen?“
Auch Rossini, in seiner Jugend selbst sängerisch aktiv, schloß sich dem Chor der Gesangspessimisten an. An Florimo[17] schrieb er: „Heutzutage ist die Kunst auf die Straße gegangen; das alte Genre mit seinen Verzierungen wird durch Hektik ersetzt, der getragene Vortrag durch Gebrüll [...] und schließlich das lieblich Empfindsame durch geifernde Tollwut. Wie Ihr seht, lieber Florimo, wird die Sache heute gänzlich von den Lungen bestimmt; der Gesang, der einem zu Herzen geht[18], und die Pracht des Gesanges stehen auf dem Index.“[19]