Die Rache des Waschbären

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Die Rache des Waschbären
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Christian Macharski

Die Rache

des Waschbären

DORFKRIMI

Das Buch

Die Einwohner des kleinen Dorfes Saffelen stehen unter Schock. Im Neubaugebiet hat sich eine unfassbare Bluttat ereignet und Hauptkommissar Peter Kleinheinz wird unter dringendem Tatverdacht festgenommen. Obwohl alle Indizien gegen ihn sprechen, will Landwirt und Ortsvorsteher Hastenraths Will nicht wahrhaben, dass sein Freund der Täter sein soll. Zusammen mit Kreisliga-C-Legende Richard Borowka versucht er einer vermeintlichen Verschwörung auf die Spur zu kommen. Je mehr Will jedoch über die Hintergründe herausfindet, desto klarer wird ihm, dass Kleinheinz nicht derjenige ist, den er zu kennen glaubte. Zu diesem Zeitpunkt ist die Lage allerdings längst außer Kontrolle geraten und der Landwirt bekommt es mit einem übermächtigen Gegner zu tun, der auch vor dem Äußersten nicht zurückschreckt. Als Will keinen anderen Ausweg mehr sieht, begibt er sich in die Höhle des Löwen – mit tödlichen Folgen.

Der Autor

Christian Macharski wurde 1969 in Wegberg geboren. Seit 1991 ist er als Kabarettist und Autor tätig und entwickelte diverse Programme mit dem Comedyduo „Rurtal Trio“ sowie mehrere Soloprogramme. Darüber hinaus arbeitete Macharski als Autor für verschiedene Fernsehsender (WDR, SAT1, RTL) und war zehn Jahre lang Kolumnist bei den Aachener Nachrichten. 2008 erschien der erste Dorfkrimi um den ermittelnden Landwirt Hastenraths Will. Diese Kunstfigur wird von Macharski auch auf der Bühne, im Radio und im TV verkörpert. „Die Höhle des Löwen“ ist der sechste Teil der Dorfkrimi-Reihe.

Außerdem als Taschenbuch erhältlich:

Das Schweigen der Kühe (ISBN 978-3-9807844-4-3)

Die Königin der Tulpen (ISBN 978-3-9807844-5-0)

Das Auge des Tigers (ISBN 978-3-9807844-7-4)

Die Rache des Waschbären (ISBN 978-3-9424540-8-7)

Der Tango des Todes (ISBN 978-3-9807844-8-1)

© 2015 by paperback Verlag

Alle Rechte vorbehalten. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags

Umschlaggestaltung: kursiv, Oliver Forsbach

Fotos: Wilfried Venedey, Marcus Müller

Lektorat: Kristina Raub

Satz & Layout: media190, Wilfried Venedey

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-9816638-5-3

Die Personen und Handlungen der Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Die Protagonisten des Romans basieren auf Bühnenfiguren des Comedy-Duos Rurtal Trio.

Für meinen Onkel Michael

Inhalt

Cover

Titel

Das Buch/Der Autor

Impressum

Widmung

Prolog

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Epilog

Danksagung

Die Dorfkrimi-Reihe mit Hastenraths Will

Prolog

Donnerstag, 1. September 2011, 10.51 Uhr

Die erdrückende Stille wurde durchbrochen vom monotonen Ticken der Standuhr, die in unerbittlichem Rhythmus ihren Sekundenzeiger vorantrieb. Fredi Jaspers beobachtete mit leerem Blick das Zifferblatt, weil er nicht wusste, wo er sonst hinsehen sollte. Das Wohnzimmer kam ihm vor wie ein Gefängnis längst vergessener Tage. Die Möbel, das Sofa, der Sessel, selbst der Fernseher standen noch an genau derselben Stelle, wo sie schon gestanden hatten, als er im Alter von vier Jahren unerlaubterweise auf einem Dreirad durchs Zimmer gefahren war. Voller Freude hatte er die Einrichtungsgegenstände umkurvt. Im Überschwang seiner kindlichen Entdeckungslust war er jedoch ein wenig zu schnell unterwegs, als er auf die weiß-blaue Vase mit holländischen Windmühlen zusteuerte, die auf einer Marmorsäulenimitation thronte. Zwar gelang es Fredi noch, geistesgegenwärtig die Rücktrittbremse zu treten, doch in derselben Sekunde wurde ihm bewusst, dass sein neues Dreirad gar keinen Rücktritt besaß. Mit geschlossenen Augen war er deshalb ungebremst in die Säule gerast und hatte der Vase ein lautstarkes Ende auf dem PVC-Boden beschert. Um das geschmacklos bemalte Porzellan an sich wäre es nicht schade gewesen, hätte es sich dabei nicht um ein wichtiges Erbstück gehandelt. Und so kam es, dass Fredi von seinem Vater die erste Ohrfeige seines Lebens kassierte. Es sollten zwar noch einige folgen, aber an diese eine erinnerte er sich bis heute.

Die letzten anderthalb Jahre hatten Fredi verändert. Nicht äußerlich. Er trug sein braunes Haar immer noch vorne kurz und hinten lang. Und auch sein Modegeschmack hatte sich nicht vom hektischen Stil der Hauptstadt anstecken lassen. Die Jeanshose mit den Lederapplikationen gehörte einfach zu ihm. Er mochte sie nicht eintauschen gegen irgendwelche Cargo- oder Anzughosen mit angesagten Markennamen, mit denen seine Arbeitskollegen in ihrer Freizeit herumliefen. Außerdem waren Palomino-Jeans Evergreens und erinnerten ihn im fernen Berlin an sein kleines Heimatdorf nahe der holländischen Grenze.

Vor drei Tagen war er zum ersten Mal seit seinem Umzug zurückgekehrt nach Saffelen, in jenen winzigen Ort, in dem er die ganzen 35 Jahre seines vorherigen Lebens verbracht hatte. Er hatte Angst gehabt. Angst davor, dass die Wehmut und die Gedanken an die schöne, alte Zeit ihn wieder festhalten würden in der Provinz. Doch nichts von alledem war passiert. Auch wenn ihn der Abschied von seinem Kumpel Richard Borowka immer geschmerzt hatte, so war das Wiedersehen zwar schön, aber nicht so, dass er hierbleiben wollte. Im Gegenteil, er hatte seine Reisetasche noch nicht mal richtig ausgepackt, so schnell wollte er wieder zurück nach Berlin. Sobald er hier alles erledigt hatte. Alles erledigt. Wie das klang, dachte er. War er ein schlechter Mensch? Er wendete seinen Blick ab vom Zifferblatt der Standuhr und sah hinüber zum Sessel, in dem seine Mutter kauerte. Sie saß leicht vornübergebeugt und bedeckte ihr Gesicht mit den Handflächen. Leise und stoßweise schluchzte sie vor sich hin. Wie viele Tränen ein Mensch haben muss. Seit er da war, hatte seine Mutter nicht aufgehört zu weinen. Fredi wusste nicht recht, wie er damit umgehen sollte. Zu Anfang hatte er sie immer wieder in den Arm genommen, aber als das nicht half, hatte er sich mehr und mehr zurückgezogen. Und gewartet. Auf das Ende.

 

Die oberste Treppenstufe knarzte. Ein weiteres vertrautes Geräusch, das Fredi sofort an seine Kindheit erinnerte. Es kündigte früher immer den Vater an, der nach seinem Mittagsschlaf ins Wohnzimmer herunterkam. Fredi sah auf. Er wusste, dass er diesmal dort oben nicht seinen Vater sehen würde. Stattdessen erschien Dorfarzt Dr. Hoppe. Der junge Mediziner, der erst vor einem Jahr die Praxis seines Vaters übernommen hatte, räusperte sich übertrieben laut. Auch Fredis Mutter sah nun auf. Ihre verquollenen Augen waren vom Weinen gerötet. Dr. Hoppe wirkte müde und blass und stützte sich mit einer Hand am Geländer ab, während der das Unvermeidbare aussprach: „Es ist so weit.“

Als Fredi als Letzter das Zimmer betrat, fröstelte es ihn. Der ganze Raum wirkte wie ein Mausoleum. In den letzten Tagen hatten Verwandte Blumen und Genesungskarten vorbeigebracht. Fredis Mutter hatte sie kunstvoll auf der Kommode drapiert, die dadurch einem Altar immer ähnlicher wurde. Theo Jaspers lag mit aschfahlem Gesicht und eingefallenen Wangenknochen in einem schneeweißen Bett. Die Tagesdecke war bis unter sein Kinn hochgezogen. Dennoch konnte man erkennen, dass die kurze, schwere Krankheit seinen Körper ausgemergelt hatte. Auf einem Stuhl neben dem Bett saß der indische Pastor Buttra Kuttrapalli und hatte dem Sterbenden die Hand auf die Stirn gelegt. Mit starkem indischen Akzent murmelte er: „Durch diese heilige Salbung helfe dir der Herr in seinem reichen Erbarmen, er stehe dir bei mit der Kraft des Heiligen Geistes: Der Herr, der dich von Sünden befreit, rette dich, in seiner Gnade richte er dich auf.“

Dr. Hoppe machte einen Schritt auf Fredi zu und sagte: „Sie können mit ihm reden. Er ist jetzt bei Bewusstsein.“ Fredi erschrak. Und tatsächlich: Theo Jaspers hatte die Augen, die tief in den Höhlen lagen, leicht geöffnet. Fredis Mutter stieß einen kurzen Schrei aus, als auch sie es bemerkte. Es war ein Schock für sie, denn ihr Mann hatte in den letzten Tagen, seit er zu Hause auf den Tod wartete, das Bewusstsein nicht mehr zurückerlangt. Er war bereits im Krankenhaus ins Koma gefallen. Fredi fand als Erster Worte: „Heißt das, dass er wieder …?“ Hoppe schüttelte den Kopf: „Nein. So etwas kommt bei Sterbenden häufig vor. Kurz bevor es zu Ende geht, sind sie noch einmal für einen Moment klar. So eine Art Totenbettvision.“

Frau Jaspers war vor Fredi getreten und stand nun mit ihm am Fußende des Bettes. Sie sah ihren Mann mit tränenverschleierten Augen an und stammelte: „Theo, ich … wie …“ Sie hielt den Atem an, als ihr Mann seinen Kopf kaum merklich anhob und mit fast blindem Blick in ihre Richtung starrte. Zuerst quälte sich ein schwaches Röcheln aus dem ausgetrockneten Mund, dann folgten kehlige Laute. Mühsam formte Theo Jaspers einen Satz, der dann aber sehr deutlich verständlich über seine Lippen kam: „Es tut mir leid. Ich habe dich geliebt – Julia.“ Dann ging alles ganz schnell. Die Augen verdrehten sich grotesk und der Kopf von Theo Jaspers kippte leicht zur Seite. Im selben Augenblick stöhnte Fredis Mutter laut auf und fiel in Ohnmacht. Fredi, der hinter ihr stand, konnte sie gerade noch auffangen. Auch auf seinem Gesicht spiegelten sich Entsetzen und Verwirrung. Dr. Hoppe legte ihm tröstend den Arm auf die Schulter und sagte: „Das ist normal. Kümmern Sie sich in den nächsten Tagen ein wenig um Ihre Mutter.“ Fredi starrte den Arzt ausdruckslos an und antwortete: „Nee, das ist nicht normal. Meine Mutter heißt mit Vorname Anneliese.“

1

Mittwoch, 7. September 2011, 17.06 Uhr

Ächzend kniete sich Hastenraths Will vor den Bottich. Sein grün-weiß kariertes Hemd hatte er bis zum Oberarm hochgekrempelt. Mit seinen Armen wühlte er in einer undefinierbaren Pampe aus Wasser, Getreide, Kraftfutter und Küchenabfällen. Leise fluchend vermengte er das übel riechende Gemisch, das er später seinen Schweinen in den Trog füllen würde. Der Landwirt war ausgesprochen schlecht gelaunt, da das Anmischen des Futters eigentlich die Aufgabe seiner Frau war. Doch seit Marlene Hastenrath sich in den Kopf gesetzt hatte, zusammen mit den katholischen Strickfrauen Saffelen mit regelmäßigem Fitnesstraining im Pfarrsälchen den Kampf gegen das Übergewicht aufzunehmen, blieb die Handlangerarbeit auf dem Hof immer öfter an Will hängen. Und obwohl das Training recht zeitintensiv war, waren Will in den letzten Wochen keinerlei körperliche Veränderungen an seiner Frau aufgefallen. Wütend zermatschte er einen faulen Apfel in seiner Hand. Das schrille Bimmeln der Haustürklingel, das mit ohrenbetäubender Lautstärke bis in die hinteren Stallungen übertragen wurde, ließ ihn herumfahren. Gleichzeitig begann Hofhund Attila aus heiserer Kehle zu bellen und sprang ungestüm in seinem Käfig umher. Das Getöse macht mich noch wahnsinnig, dachte Will. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Erst fünf Minuten zuvor hatte es Sturm geklingelt. Will hatte es jedoch ignoriert, weil er keinen Besuch erwartete. Und selbst wenn jemand Kartoffeln, Möhren oder Kohlrabi hätte kaufen wollen, so wäre auch das kein Grund für ihn gewesen, die Tür zu öffnen. Denn auch dieser Geschäftsbereich gehörte zu Marlenes Aufgaben, da sie wesentlich besser darin war, unter Druck so komplizierte Sachen wie Wechselgeld auszurechnen. Doch diesmal blieb der Besuch hartnäckig, denn erneut jaulten die Klingel und Attila unerbittlich auf. Wütend erhob sich Will, rieb seine Arme notdürftig mit einem alten, löchrigen Spüllappen ab und stapfte auf seinen Gummistiefeln durch den Flur in Richtung Küche. Als er von der Küche in den Flur einbog, rutschte einer der Hosenträger, die Wills ausgebeulte graue Arbeitshose zu halten versuchten, herunter. Fluchend schob er ihn wieder zurück auf die Schulter und riss die Haustür auf. „Wer zum Teufel …?“

Er hielt verdutzt inne, denn das markante Gesicht, das ihm mit perlweißen Zähnen entgegenstrahlte, kam ihm nur zu bekannt vor. Bei der klingelnden Nervensäge handelte es sich um Peter Kleinheinz, jenen Kommissar, mit dem Hastenraths Will in der Vergangenheit schon den ein oder anderen Kriminalfall gelöst hatte. Seit dem letzten Fall waren allerdings schon fast zwei Jahre vergangen. Damals hatten sie gemeinsam einen Killer zur Strecke gebracht, der aus dem Gefängnis ausgebrochen war. Kleinheinz hatte dabei eine komplizierte Verletzung davongetragen. Monate später waren sie sich noch mal auf dem Heinsberger Stadtfest begegnet, zu dem Marlene Will mitgeschleppt hatte. Kleinheinz ging damals noch an Krücken, was Marlenes Begeisterung für den gut aussehenden Polizisten aber nicht im Geringsten gedämpft hatte. Und auch jetzt musste Will feststellen, dass der Kommissar immer noch aussah, als sei er einem Katalog für Herrenmode entsprungen. Das eng taillierte, kurzärmelige Hemd, das seinen muskulösen Oberkörper vorteilhaft in Szene setzte, und die angegrauten Schläfen seines vollen Haars würden Marlene wieder an den Rand einer Ohnmacht bringen. Zum ersten Mal seit Langem war Will froh, dass seine Frau beim Training und nicht zu Hause war.

„Oh, Herr Kleinheinz! Das ist aber eine Überraschung“, sagte Will aufrichtig erfreut. Der Kommissar lächelte breit: „Peter!“

„Was?“

„Ich bin Peter. Wir waren doch schon längst beim ‚Du‘ angekommen, Will.“

„Oh ja, natürlich“, entgegnete Will verlegen. „Öhm … komm doch rein – du. Du hast Glück. Marlene hat eben noch ein frischer Kaffee aufgeschüttet.“

Während Kleinheinz sich in der Küche auf die Eckbank setzte, sah er sich in der Küche um. „Hier hat sich absolut nichts verändert seit damals.“

„Bis auf das Einschussloch im Türrahmen“, lachte Will und stellte die Kaffeekanne auf den schweren Eichentisch, über dem wie immer ein Fliegenklebeband voller toter und halbtoter Insekten hing, das von dem Luftzug, den die offene Haustür verursacht hatte, leicht hin und her schwang. Nachdem Will auch zwei Tassen auf den Tisch gestellt hatte, goss er beide bis zum Rand voll und fragte: „Wie geht es Sie denn, Herr … Entschuldigung. Wie ist es dir, Peter? Und was machst du überhaupt hier in Saffelen?“

Kleinheinz verschränkte die Arme hinter dem Kopf und holte tief Luft. „Ich habe Urlaub und lasse es mittlerweile alles etwas ruhiger angehen. Ich komme gerade zurück aus Irland. Vier Wochen mit dem Boot über den Shannon. Angeln, lesen, nix tun. Herrlich. Und jetzt, habe ich mir gedacht, kümmere ich mich mal wieder um ein paar soziale Kontakte. Ich bin da immer etwas nachlässig gewesen. Ich hatte eben schon Angst, hier wäre keiner. Ich hatte vorhin nämlich schon mal geklingelt.“

„Ach so. Du warst das! Ich hatte extra nicht aufgemacht. Ich dachte, das wären die Verbrecher von der GEZ.“

„Zwischendurch habe ich’s nebenan versucht. Bei deinem Feuerwehrfreund. Aber da hat auch keiner aufgemacht. Ich hatte schon die Befürchtung, Saffelen wäre evakuiert worden.“

Will lachte laut auf: „Ha, ha. Evakuriert. Du bist ein Scherzbold, Peter. Nee, der Josef ist mit seine Frau für sechs Wochen in Kur. Die hatte dem unser alter Dorfarzt noch verschrieben, kurz bevor der gestorben war. Und da wollten die das schnell einlösen, bevor die Krankenkasse am Ende noch pleite geht. Aber ich muss ganz ehrlich sagen, Kur wär nix für mich. Da hätte ich gar keine Zeit für.“

Kleinheinz nippte an der Tasse und sah den Landwirt mit ernster Miene an. „Das ist aber wichtig, Will. Man muss sich auch mal Auszeiten nehmen. Früher habe ich das auch anders gesehen. Nach meiner Scheidung habe ich Tag und Nacht gearbeitet. Ich habe mich nicht mehr mit Freunden getroffen, keine Hobbys gepflegt. Aber seit dieser Drecksack mich im Büro niedergeschossen hat, sehe ich das alles etwas anders. Seitdem weiß ich, wie schnell alles vorbei sein kann.“

Will setzte einen verständnisvollen Blick auf. Weil ihm nichts dazu einfiel, sagte er: „Da sagst du was. Letzte Woche Donnerstag ist Theo Jaspers gestorben, der Vater von Fredi.“

„Oh“, murmelte Kleinheinz ehrlich betroffen, denn Fredi war ihm in den letzten Jahren auch sehr ans Herz gewachsen – jedenfalls mehr als dessen großspuriger Kumpel Richard Borowka.

„Das ging ratzfatz“, erzählte Will weiter, „Bauchspeicheldrüsenkrebs. Der Theo ist natürlich auch viel zu spät zum Arzt gegangen. Dann hat der die Diagnose bekommen und zwei Wochen später war der tot. Jetzt am Freitag ist die Beerdigung.“

Der Kommissar nahm nachdenklich einen Schluck. Nachdem er die Tasse wieder abgesetzt hatte, sagte er, ohne aufzusehen: „Weißt du, Will. Ich habe mich in den letzten anderthalb Jahren viel mit dem Tod beschäftigt. Nachdem ich niedergeschossen worden war, hing mein Leben am seidenen Faden. Ich wurde mehrere Stunden operiert. Eine Schwester, die bei der OP dabei war, hat mir Monate später gesagt, dass ich zwischendurch sogar für sechs Minuten tot war.“

„Du warst was?“ Vor Schreck verschüttete Will Kaffee über seiner Hand, unterdrückte aber mannhaft einen Schmerzensschrei.

„Klinisch tot. Mein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Und soll ich dir was sagen? Ich habe alles mitbekommen. Ich habe meinen Körper verlassen und unter mir die Ärzte am OP-Tisch gesehen, wie die ganz hektisch versucht haben, mich wiederzubeleben. Ich bin immer weiter weggeschwebt. Und es war ein ganz wunderbarer Moment. Ich wollte gar nicht mehr zurück.“

Will hob die Hand. „Moment mal. Du willst mich verulken, oder? Ich meine, ich hab so ein Quatsch mal im Fernseher gesehen. Ich glaube, bei Günther Jauch. Das nannte sich Nachtoderfahrungen oder so. Da hat so eine verrückte, esoterische Tante erzählt, dass die allen Ernstes …“

„Nahtoderfahrungen“, verbesserte Kleinheinz ihn. „Das ist kein Quatsch. Ich hab’s doch selbst erlebt. Ich habe sogar meinen Lieblingsonkel getroffen im … Wo auch immer. Der ist seit über 20 Jahren tot.“

Will schüttelte den Kopf. „Es kann ja sein, dass man Hallunzinationen kriegt, wenn man unter Medikamente steht, aber, ehrlich gesagt: Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod. Das würde ja bedeuten, dass alle Menschen irgendswie weiterleben. Wie soll das denn organisatorisch gehen? Hier auf der Erde ist ja schon kaum Platz für alle. Das kann nicht. Wenn wir der letzte Vorhang fallen lassen, dann heißt es ‚Klappe zu, Affe tot‘. Ist meine Meinung.“

 

Bevor Kleinheinz widersprechen konnte, wurde die Haustür aufgeschlossen und die fröhliche Stimme von Marlene Hastenrath erfüllte das Haus: „Will! Ich bin wieder da. Was ist das denn da für ein fremdes Nummernschild vorm Haus?“ Als sie die Küche betrat, zuckte sie zusammen. Der Anblick von Kommissar Kleinheinz trieb ihr augenblicklich die Röte ins Gesicht. Allerdings weniger aus Verzückung als vielmehr aus Verlegenheit, denn ihre Sportbekleidung hatte schon bessere und erst recht schlankere Zeiten erlebt. Die abgewetzte Jogginghose mit dem ausgeleierten Bund stellte vor allem die Oberschenkelpartie in kein besonders gutes Licht. Wenigstens lenkte die knallbunte Ballonseide-Trainingsjacke ein wenig von den strammen Beinen ab, auch wenn der Reißverschluss sich nur zu etwa zwei Dritteln schließen ließ und die üppige Oberweite kaum zu bändigen verstand. Am unangenehmsten aber war Marlene das rote Stirnband mit der Werbeaufschrift der Weight Watchers. Während sie Kleinheinz unsicher zunickte, versuchte sie, es sich so beiläufig wie nur irgend möglich vom Kopf zu ziehen: „Oh. Hallo Herr Kleinheinz. Das ist aber … wieso haben Sie denn nicht vorher …?“

„Nix Herr Kleinheinz. Ich bin der Peter. Das hatten wir doch beim letzten Mal geklärt, schöne Frau.“ Er erhob sich schwungvoll und deutete scherzhaft einen galanten Handkuss an. Er ergriff ausgerechnet die Hand, in der Marlene das Schweißband fest umklammert hielt.

„Du kannst aber auch Lazarus für dem sagen“, palaverte Will vom Tisch aus, während er die Szene argwöhnisch beobachtete. „Der Peter erzählt nämlich gerade, dass der schon mal tot war.“

Kleinheinz seufzte laut. Marlene funkelte ihren Mann böse an und sagte: „Halt die Klappe, Will. Geh mal lieber in die Vorratskammer und hol der Käsekuchen, dem ich gestern gebacken habe. Das müssen wir feiern, dass der liebe Herr … ähm Peter uns hier so spontan besuchen kommt.“