Brücke sein

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
www.edition-steinrich.de


Textgrundlage dieses eBooks ist die gedruckte Version des gleichnamigen Titels.

Inhalt

Liebe Leserin und lieber Leser: Herzlich willkommen

Geleitwort von Klaus Mertes

I. FREIHEIT SUCHEN

Über Macht, den Missbrauchsskandal und die Erneuerung in der katholischen Kirche

In Freiheit zur eigenen Entscheidung stehen

Frei sein und zugleich der Gemeinschaft treu – ein Balanceakt

Eine neue Gemeinschaft leben: Ankommen unter Arbeitern

Freiheit und Arbeit

II. GEMEINSCHAFT LEBEN

Gemeinschaft leben und Einsamkeit entdecken

Gemeinschaft leben heißt auch Konflikte annehmen

Unter vielen sein und weiter den eigenen Gefühlen trauen

Die Freiheit vom »Muss«

Die Freiheit des Nichtwissens

III. FRIEDEN UNTERSTÜTZEN

Gemeinschaft mit den Friedensstiftenden: Interreligiöse Begegnungen

Gemeinschaft zu zweit: Der immer neue Funke des Sichannehmens

Einsatz für den Frieden oder die Freiheit, meinen Herrn zu wählen

Frieden ist nicht allein zu schaffen: Ordensleute gegen Ausgrenzung

Frieden mit meinem Platz in der Welt

Ein Gespräch zwischen Christian Herwartz, Klaus Mertes und Sabine Wollowski: Bekehrung lässt sich nicht auf eine Frage eingrenzen

Literaturhinweise

Über Christian Herwartz und Sabine Wollowski

Dieses Buch widme ich in liebevoller

Verbundenheit Katharina Prinz.

Liebe Leserin und lieber Leser: Herzlich willkommen

Attention – mein erstes Wort im Sprachkurs, den ich 1975 in Besançon besuchte. Dieses Wort wurde häufig wiederholt. So lernten wir, es auszusprechen, und ahnten durch Gesten, wie wir es einsetzen konnten: Attention = Aufgepasst! Wir mussten genau hinhören, um die Worte nachsprechen zu können. Erst nach einem Jahr begann ich, sie in Toulouse auch zu lesen. Als Gastarbeiter war ich nach Frankreich gekommen, suchte Arbeit und fand Heimat unter den Nichteinheimischen. Unter den vielfältig Fremden fühlte ich mich zu Hause.

In Berlin lebe ich nun seit 35 Jahren in einer internationalen Wohngemeinschaft zusammen mit zwei älteren Jesuiten unter Menschen aus vielen Ländern – mittlerweile sind es insgesamt 70 verschiedene Nationen gewesen – und werde von diesen in interkultureller Gastfreundschaft weitergebildet. Jetzt drückt sich mein Leben vor allem in diesem Wort aus: »Herzlich willkommen.« Meist haben sie bescheiden um eine Unterkunft für einen Tag gebeten und sind dann jahrelang geblieben. Mitten im Strom der Wanderschaft durch viele Kulturen bleibt meine Anschrift konstant: Naunynstraße 60.


So kann man doch nicht leben! Diesen Schrei des Entsetzens hörte ich immer wieder. In einem Schlafzimmer mit sieben Betten, teilte ich mein Leben mit Menschen aus vielen Kulturen weltweit. Ich darf mich dort vertrauensvoll fallen lassen. Ein Geschenk, denke ich, ein Leben in weitgehender Offenheit. Sie macht vielen Menschen Angst.

Eine Gemeinschaft ohne Putz- oder Abwaschregeln, wie soll das gehen? Es ist möglich, aber wie verläuft ein Leben möglichst ohne Regeln? Andernfalls würden Menschen vertrieben, die lange in Vorschriften gepresst worden sind.

Aber eine Regel gibt es doch: Frage den anderen nicht, woher er kommt; erzähle lieber von dir selbst und warte, bis auch er voll Vertrauen über sich selbst reden kann. Um dieses Gespräch zu schützen, haben Polizisten kein Gastrecht in unserer Wohnung. Auch die ganz sympathischen unter ihnen müssen in ihrer Freizeit die von ihnen wahrgenommenen Ungesetzlichkeiten anzeigen. Sie brauchen keine Verantwortung für missverstandene oder falsche Aussagen übernehmen. Dagegen könnte ich mich ja vor Gericht wehren, bekomme ich als Antwort. Nun, das möchte ich verständlicherweise nicht. Ebenso lassen wir keine Fernsehkameras zu, denn nicht jede Begegnung ist für die große Öffentlichkeit bestimmt.

Und wie geht das mit dem Geld, ist dann meist die nächste Frage: Die Renten von meinem Mitbruder Franz und mir sichern die Miete; wer noch etwas zum Leben beisteuert, bleibt oft verdeckt. Wir sind nicht verhungert und essen meist gut, oft mit vielen Menschen.

Mitten in dieser schwer zu umschreibenden Lebenssituation ist Mitte der 90er-Jahre eine anfangs unbemerkte, viele Menschen ergreifende Bewegung entstanden. Einzelne haben mitten in dem bunten Knäuel unserer Lebenssituation geistliche Übungen gemacht, die wir später Exerzitien auf der Straße nannten. Der Ablauf dieser Übungen wird noch ausführlich beschrieben. In diesem Zusammenhang erzählte ich einmal im Radio: »Jesus sitzt mir im anderen Menschen gegenüber. Wenn ich das erkenne, ändert sich etwas Grundlegendes in meinem Leben.« Ein anderer Mensch würde vielleicht Buddha im Anderen wahrnehmen oder eine andere richtungsweisende Person. Auch das würde zu einer grundlegenden Infragestellung des Lebens führen und eine große Freude auslösen.

Sabine Wollowski hat an diesen Exerzitien auf der Straße teilgenommen und kennt unsere Wohngemeinschaft seit vielen Jahren. Wir ließen uns ab 2008 auf das Abenteuer ein, den vielen erlebten Geschichten nachzugehen, nach den darin verborgenen Aussagen zu fragen und sie uns immer wieder zu erzählen. Darüber ist dieses Buch entstanden.

Leiten ließen wir uns dabei von folgenden Fragen: Wie können wir uns dem stellen, was wir wahrnehmen, und eine Haltung dazu finden, was uns stört und in Unfrieden leben lässt? Welche inneren Prozesse begleiten die einzelnen Situationen? Wie weitet sich der Blick über die Erzählungen der Freunde und Kritiker?

Wir fingen beide Feuer. Eine Rohfassung des Buches entstand, ein bunter Blumenstrauß aus Kapiteln zu den Themen Sicherheitswahn, sexualisierte Umwelt, Grundgesetzabbau, Überraschungen mit Kindern und Gästen.

Neue Herausforderungen begannen: Die Aufdeckung der Missbrauchsfälle an jesuitischen Institutionen. Als Mitbruder war ich mit betroffen und erinnerte mich an die Solidaritätserfahrungen in der Gewerkschaft. Jetzt musste ich neu hinsehen und mich befragen lassen. Menschen mit diesen zerstörerischen Erlebnissen sprachen mich an. Ende 2012 wurde das Buch Unheilige Macht – Jesuitenorden und die Missbrauchskrise verlegt und ich schaltete den Blog http://unheiligemacht.wordpress.com, um der anschließenden Auseinandersetzung Raum zu geben.

Mit immer neuen Erfahrungen setzte sich das Leben fort. Sabine Wollowski hat die Vielfalt der Themen nochmals durchforstet und sie anhand der drei Begriffe Frieden, Freiheit und Gemeinschaft neu geordnet und ergänzt.

Die Grundhaltung oder der rote Faden aller geschilderter Erfahrungen ist mein Anliegen, zu verbinden: Bis heute stehe ich mit einem Bein in einer Welt und mit dem zweiten in einer anderen. Als Arbeiter entdeckte ich die Solidarität mit meinen KollegInnen und das gemeinsame Engagement. Als Priester erinnere ich an die anvertraute Lebenskraft und die liebende Einladung Jesu. Die Brücke führt mich auch in andere gesellschaftliche Bereiche – im Stadtteil, im Gefängnis, zu Ausländern ohne Papiere, zu jungen Erwachsenen. Meine Mitmenschen fordern mich heraus, ihnen in Gleichheit als Bruder zu begegnen, im Wechselspiel von Mitleben und Engagement. Die Brücke wird mir zum Bild für den Weg der Menschwerdung.

Das Ergebnis unserer gemeinsamen Arbeit an diesem Buch liegt nun vor, und wir hoffen, dass Sie, die Leserinnen und Leser, Stoff für Gespräche und Diskussionen dafür finden und vor allem Inspiration. Wie der vielerorts ersehnten Veränderung in der katholischen Kirche und in der Gesellschaft insgesamt zu erforschen und sich daran zu beteiligen.

 

Herzlichen Dank an Klaus Mertes für das Geleitwort und die liebevolle Betreuung der Veröffentlichung durch unsere Verlegerin Ursula Richard sowie das sorgfältige Lektorat von Carl Polonyi.

Nun bitten wir alle Leser und Leserinnen: Kommt herein: Herzlich willkommen.

Berlin, August 2013

Sabine Wollowski und Christian Herwartz

Geleitwort von Klaus Mertes

Ich bin kein außen stehender Beobachter, wenn ich ein Geleitwort zu diesem Buch schreibe. Christian Herwartz berichtet im Eingangskapitel, wie wir einander über das Thema Macht und Machtmissbrauch seit 1994 im Laufe der Jahre nähergekommen sind und zu Freunden wurden. Ich bestätige das. Und das Buch endet mit einem Gespräch, an dem ich beteiligt bin. Wichtig ist mir an diesem Buch einerseits, dass es kein Buch über Personen ist. Andererseits stimmt es genauso, dass Themen über Personen vermittelt werden. Auch das wird in diesem Buch deutlich.

Das beste biblische Beispiel für den untrennbaren Zusammenhang von Themen und Person ist für mich Paulus. Wenn Paulus über »sein« Thema, das Evangelium, spricht, ist das bei ihm untrennbar verbunden mit dem Sprechen über sich selbst beziehungsweise über seine eigenen Erfahrungen. Dabei erzählt er nicht einfach nur über seine Erfahrungen mit Gott, über seine »Offenbarungen« (2 Korinther 12,7), die er in besonderer Weise erfahren hat, sondern er thematisiert sein ganzes Leben, seine »Schwäche« (2 Korinther 12,9), seine rätselhafte Krankheit, die ihn ein Leben lang nicht verlässt (2 Korinther 2,8), seine Verfolgungen, seine Mühen, seine Gefangenschaft, seine Freundschaften, seine Vorlieben, seine Sehnsucht nach seiner Lieblingsgemeinde, seine Freude. Es ist also kein abgehobenes Sprechen über Themen, wenn Paulus über das Evangelium spricht, und zugleich ist es kein narzisstisches Kreisen um sich selbst – es geht ihm wirklich um das Evangelium. Sätze wie zum Beispiel »Nehmt mich als Vorbild« oder »werdet wie ich« (Galater 4,12) sind Paulus dabei dann doch oft zum Vorwurf gemacht worden. Aber das ist keine Anmaßung, moralisches Vorbild oder Modell für andere sein zu wollen, sondern er zeigt auf etwas, was ist; er zeigt auf sich und eine Geschichte, in der er steht, weil er die Erfahrung gemacht hat, dass Gott an ihm gehandelt hat, nicht nur an der eigenen Person, sondern in der mit anderen Personen verbundenen Geschichte. Diese Geschichte muss erzählt werden. Darin besteht die »Sendung«.

Über Gott lässt sich, wenn es um Erfahrung geht, eigentlich nicht in der 3. Person Singular sprechen, sondern nur indirekt in der Verbindung mit der 1. Person Singular. Susanne Szemerédy hat kürzlich eine Doktorarbeit1 veröffentlicht, die das Konzept der von Christian inspirierten »Exerzitien auf der Straße« mit der Philosophie von Emmanuel Levinas vergleicht. Die Parallele ist ganz offensichtlich. Nur die Spur, die Gott hinterlassen hat, ist thematisierbar, oder anders ausgedrückt: Nur über die Spur kann ich das unsagbare Geheimnis, welches Gott ist, thematisieren. Aber dazu gibt es dann zugleich einen drängenden Auftrag. Denn die Erfahrung, auf die ich mich rückblickend über die Spur beziehe, nimmt mich ganz in Anspruch. Sie ist nicht eine Erfahrung neben anderen. Levinas geht ja davon aus, dass mich die Begegnung mit dem »ganz Anderen« in dem »Gesicht, das spricht« und mich zur »Geisel« seiner Not macht, aus den Sicherheiten und der Ruhe begrifflicher Klarheit herausreißt und mich zugleich in einen Zustand versetzt, in dem ich »mich« vorfinde. Ein distanziertes Erzählen über »Ihn« oder »Sie« ist da nicht mehr möglich.

Für mich war Levinas, bevor ich nach Berlin kam, der Schlüssel, um eine Sprache für vergleichbare Erfahrungen zu finden, die ich gemacht hatte, besonders in einem Fall, wo ich einer Not begegnet war, die mich im Levinas’schen Sinne des Wortes zur Geisel gemacht hatte. Als ich nach Berlin kam, gab Christian mir sehr bald einen geistlichen Text zu lesen, den er über seine Erfahrungen als Arbeiterpriester im Betrieb verfasst hatte. In diesem Text fand ich Entsprechungen zu meinen Erfahrungen und zugleich weiterführende Anregungen, zum Beispiel die, dass Beten ein Zuhören ist – dem Liebesgespräch lauschen, das in Gott selbst stattfindet, der noch lange nicht begriffen ist, wenn man ihn bloß für »eine Person« hält. Ich empfahl Christian, diesen Text in einer unserer jesuitischen Zeitschriften für Spiritualität zu veröffentlichen. Der Text wurde nicht angenommen. Die Begründung lautete: »Der Text ist nicht wissenschaftlich genug.« Ich tröstete Christian, wenn er denn überhaupt des Trostes bedurfte, mit der Prognose, dass man in 50 Jahren nach Texten suchen würde, in denen Menschen im Berlin der 90er-Jahre, als dort Gott aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden war, von ihren Erfahrungen mit Gott erzählen. Man würde dann auf seinen Text stoßen und Wissenschaftler darauf ansetzen, damit sie darüber wissenschaftliche Artikel schrieben. Offensichtlich hat es nicht 50 Jahre gedauert, bis es soweit war.

Das vorliegende Buch ist aus den Fragen entstanden, die Sabine Wollowski Christian Herwartz gestellt hat. Es sind nicht einfach »ihre« Fragen, sondern es sind Fragen, die in der Begegnung überhaupt erst entstehen – wobei nicht ausgeschlossen ist, dass im Gespräch Fragen entstehen, die »ich immer schon gehabt habe«. Das Erzählen beginnt, wenn ich gefragt werde. So ist es auch in diesem Buch. Das Fragen aber beginnt erst, wenn vorgängig zu Fragen etwas gelebt wird – wenn ich auf etwas stoße, was mich stutzig macht, befremdet und doch auch anzieht. Etwas, was mich fragend macht. Im Falle der Wohngemeinschaft in der Naunynstraße – jener Ort in Berlin, der inzwischen so viele fragend gemacht hat – war mein Weg zum Fragen lang. Denn es mussten einige Dinge in der Annäherung an das fragwürdige Geschehen in der Naunynstraße geklärt werden. Christian erzählt davon in diesem Buch. Es betrifft nicht nur den unterschiedlichen Zugang zum Thema Rote Armee Fraktion (RAF), sondern auch unterschiedliche Ausgangspositionen zu politischen und kirchlichen Fragen aller Art, die in den 70er- und 80er-Jahren im Schwange waren und heute noch keineswegs erledigt sind.

Bei der Annäherung an die Wohngemeinschaft in der Naunynstraße ging es von Anfang an auch um spirituelle Fragen und Unterscheidungskriterien. Das eine war für mich anfangs eine notwendige Abgrenzung: Bewunderung, gar Schwärmerei über Personen führt zu Missverständnissen und auch zu Missbräuchen, gerade im religiösen Bereich. Da ich Bewunderer und Schwärmer im Umfeld der Naunynstraße sah oder meinte zu sehen, hielt ich Abstand. Dass ich an dieser Stelle besonders empfindlich war (und geblieben bin), hat mit meiner eigenen Geschichte zu tun. Ich war selbst einmal ein Bewunderer gewesen und das Bewundern war missbraucht worden. Auch im kirchlichen Bereich kann es ja immer wieder zu Missbrauch in geistlichen Beziehungen und in geistlichen Gemeinschaften kommen, die sektiererischen Charakter gerade deswegen haben, weil die geistlichen Machtstrukturen in ihnen aus Machtmissbrauch entstehen, Missbrauch fördern und zugleich Missbrauch decken.

Das andere war: Ich erlebte in meinem vertrauten Umfeld, dass das Zusammenleben in der Naunynstraße Außenstehende provozierte. Was immer man im Einzelnen über Projekte und Aktivitäten sagen wollte, die im Laufe der Jahre in der Naunynstraße entstanden sind, so war und ist doch der eigentlich herausfordernde Ursprung, aus dem das alles kam, die Weise des Zusammenlebens – die Offenheit, die Gastfreundschaft, die schiere Menge der Bewohnerinnen und Bewohner auf engstem Raum, der Blick auf den Anderen und auf Jesus. Beim Anblick dieses Zusammenlebens entstand und entsteht zunächst bei vielen das Gefühl: »So sollte ich eigentlich auch leben – aber ich kann es nicht.« Ein Jesuit, der 2003 in die Kommunität am Canisius-Kolleg einzog und inzwischen verstorben ist, besuchte die Wohngemeinschaft in der Naunynstraße zum samstäglichen Frühstück und kam aus der Verwunderung nicht heraus über die vielen Männer, die nacheinander in der Tür des gemeinsamen Schlafzimmers erschienen. Zum Schluss rief er mit einer Mischung aus Bewunderung und Überforderung: »So könnte ich nicht leben!« Darauf hörte er die Antwort: »Woher weißt du das? Du hast es doch noch nie probiert!«

Eine Lebensweise kann wie ein Vorwurf empfunden werden, einfach dadurch, dass sie so gelebt wird. Das hat im Falle der Naunynstraße oft dazu geführt, dass es zu dem kleinen, aber entscheidenden Fehlschluss kam: »Die leben so, um uns zu provozieren.« Das ist dann eine Ursache für Misstrauen, Vorwürfe und Ablehnung. Meine Antwort auf die Provokationsbotschaft lautete: »Zur Provokation gehören zwei – der, der provoziert, und der, der sich provozieren lässt.« Als ich im Herbst 1994 die Naunynstraße aufsuchte, war es dann so weit. Christians Schul- und Canisius-Kolleg-Trauma brach bei der ersten Begegnung durch, und er sagte zunächst einmal statt »Guten Tag« bloß: »Brrrrr, Lehrer!« Ich dachte mir: »Du kannst mich mal – ich bleibe weiterhin Lehrer.« Und dann begannen wir, über Gefangene zu sprechen. Dabei stieß ich auf eine Schlüsselbotschaft, die ich akzeptieren konnte: Gefangene besuchen ist vor dem Hintergrund des Evangeliums nicht begründungspflichtig. Der eine musste sein Lehrersein nicht rechtfertigen, der andere musste seine Gefangenenbesuche nicht rechtfertigen. Das war eine gute Ausgangsbasis. Das war der Anfang, in gegenseitiger Freiheit. Und dann war für mich der Weg klar: Wir diskutieren nicht über unterschiedliche Meinungen, sondern wir beginnen, gemeinsam etwas zu tun, in kleinen Schritten: Gefangene besuchen, Schule öffnen, Brüder und Schwestern suchen, auf die Straße gehen, Verbündete suchen, Einladungen annehmen und so weiter.

Noch ein Geleitwort möchte ich den Leserinnen und Lesern sagen: Es geht in diesem Buch darum, sich bedeutenden gesellschaftlichen Fragen über die eigene Erfahrung zu nähern, und nicht bloß über Zeitungsartikel, Expertenwissen und anderes Wissen aus dritter Hand. Zwischen dem Wissen aus eigener Erfahrung und dem Wissen aus dritter Hand besteht kein grundsätzlicher Gegensatz. Oft habe ich aber erlebt, dass das eigene Erfahrungswissen abgewertet wird oder diejenigen, die damit argumentieren, eingeschüchtert werden mit dem Hinweis auf Expertenwissen, das angeblich viel mehr über die gesellschaftliche Wirklichkeit aussage als die eigene Erfahrung. In der bildungspolitischen Debatte habe ich in den letzten 15 Jahren häufig erlebt, dass das Erfahrungswissen von Lehrenden in den Diskussionen um die Konsequenzen aus PISA, TIMM und anderen OECD- oder Bertelsmann-Studien nicht willkommen war. Umgekehrt ließen sich dann viele Lehrende an der Basis einschüchtern von den gewaltig auftretenden Expertisen und Experten, die genau wussten, wie es eigentlich gehen müsste. Doch Erfahrungswissen nicht ernst zu nehmen bedeutet letztlich, Menschen mit ihren Erfahrungen zu entmündigen. Ein Beispiel: Der Arbeiter Georg Elser versuchte 1939, die NS-Führung im Münchner Bürgerbräukeller durch ein Attentat auszuschalten. Er hatte schon ganz früh begriffen, dass Hitler auf Krieg zusteuerte. Das Attentat scheiterte, Elser wurde hingerichtet. Bis in die 90er-Jahre hinein wurde ihm bestritten, aufgrund von eigener Erkenntnis und Einsicht gehandelt zu haben – denn das könne ja nicht sein, dass ein einfacher Arbeiter ohne politisches Expertenwissen so sicher habe voraussehen können, dass Hitlers Politik in den Krieg führen würde.

Einer meiner philosophischen Lehrer wird immer wieder mit dem Satz zitiert: »Erfahrung macht dumm.« Das gilt denjenigen, die sich keiner neuen Anfrage oder Erkenntnis mehr öffnen wollen, weil sie angeblich »aus Erfahrung« wissen, dass alles Neue nicht klappen kann und nur Unordnung schafft. Aber andererseits gilt auch, dass nur Erfahrung wirklich dazu führt, dass man mit »Vollmacht« sprechen kann, so wie Jesus: »Er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, nicht wie die Schriftgelehrten.« (Markus 1,22) Gerade dem »Neuen«, dem Weiterführenden, dem »Geist« begegne ich in der eigenen Erfahrung, in der ich ganz in Anspruch genommen werde. Karl Rahner, ein wichtiger Jesuitentheologe des letzten Jahrhunderts, beschrieb den »Mystiker« als einen Menschen, der »etwas erfahren hat«, was mit Gott zu tun hat. Erfahrungen mit Gott aber sind niemals bloß »private« Erfahrungen, sondern drängen zur Mitteilung. Christian Herwartz reflektiert in diesem Buch gesellschaftliche Themen über den Weg der eigenen Erfahrungen. Ihnen kommt eine eigene Autorität zu, auch für den Erzählenden selbst. Durch dieses Reflektieren und Erzählen wird Christian zum Lehrer – ohne dass er es beabsichtigt. Aber es ist die Wirkung, die er zulassen muss, wenn er das Buch in die Hände der Leserinnen und Leser legt.

 

Klaus Mertes