Die Invasion der Barbaren

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Die Invasion der Barbaren
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Reihe zu Klampen Essay

Herausgegeben von

Anne Hamilton

Christian Demand, Jahrgang 1960, studierte Philosophie und Politikwissenschaft in München, wo er 1996 promoviert wurde. In den neunziger Jahren arbeitete er als Musiker und Komponist, anschließend als Hörfunk-Journalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach seiner Habilitation im Jahre 2003 war er Gastprofessor für Philosophie an der Universität für Angewandte Kunst Wien, von 2006 bis 2012 hatte er den Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg inne. Seit 2012 ist er als Nachfolger von Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel Herausgeber der Kulturzeitschrift »Merkur«. Im zu Klampen Verlag ist von ihm erschienen: »Die Beschämung der Philister. Wie die Kunst sich der Kritik entledigte« (2003) und »Wie kommt die Ordnung in die Kunst?« (2010).

CHRISTIAN DEMAND

Die Invasion der Barbaren

Warum ist Kultur eigentlich immer bedroht?


Inhalt

Cover

Titel

Zum Autor

Vorwort

Projekt Weltrettung: Kunstpädagogik im Höhenrausch

Kritik der Kritik der Kritik: ein metadiagnostischer Zwischenruf in eigener Sache

Demokratische Kirmes und die Sehnsucht nach der Tiefe

Das Leben selbst: Kunst, Medien, Wirklichkeit

Ästhetischer Puritanismus: die Angst vor dem Kontrollverlust

Die Invasion der Barbaren: Weshalb ist Kultur eigentlich immer bedroht?

Die Wir-Maschine: Museum und Erbengemeinschaft

Epilog: endgültige Beantwortung der Frage »Könnten Sie sich vorstellen, einen Katalogtext für mich zu schreiben?«

Nachweise

Impressum

Fußnoten

Vorwort

IM Dezember 1772 wandte sich der Maler Sir Joshua Reynolds, Präsident der Royal Academy in London, mit einer feierlichen Ansprache an die versammelten Studenten, die der alljährlichen Verleihung der Akademiepreise entgegenfieberten. Die Botschaft des hochangesehenen Porträtisten an den aufstrebenden Nachwuchs fiel nicht sehr ermunternd aus. Mit der Malerei, murrte Reynolds verdrießlich, gehe es bekanntlich schon seit langem nur noch bergab. So wie er die Lage beurteile, sei es eher unwahrscheinlich, dass sie jemals wieder das hohe Niveau eines Raffael oder Michelangelo erreichen werde. Dennoch könne es die Akademie auch künftig keinem jungen Künstler ersparen, diese unerreichbaren Vorbilder hingebungsvoll zu studieren und zu kopieren, um ihnen auf diese Weise wenigstens so nahe wie möglich zu kommen. Man kann sich die betretenen Mienen der Anwesenden vorstellen.

Heutige Kunststudenten würden sich derartige Thesen vermutlich überhaupt nicht erst anhören. Schon seit mehr als 100 Jahren gilt die Vorstellung, daß man als Künstler irgend etwas durch die mühselige Nachahmung tradierter Formen oder das Befolgen akademischer Regeln zu gewinnen habe, geradezu als abwegig. Zwar existieren Kunstakademien nominell noch immer, doch deren Präsidenten legen in der Regel großen Wert auf die Feststellung, daß Studenten dort nicht mit der Aufarbeitung der Vergangenheit gequält, sondern in völliger Freiheit zu »assoziativem, surrealem, alogisch vernetztem Denken« angeleitet würden. Das ist nur konsequent, hat die Moderne doch dereinst mit aller Tradition gebrochen, und zwar ein für allemal. So jedenfalls steht es heute in den Schulbüchern: Romantiker, Realisten, Impressionisten, Kubisten, Dadaisten, Surrealisten etc., deren Werke heute den Stolz der Museen der westlichen Welt ausmachen, hätten in keiner Akademie ihrer Zeit reüssiert, während die Produktion, die dort geschätzt wurde, heute bestenfalls in den Depots verschimmelt. Die künstlerischen Leitwerte Innovation, Individualität, Originalität haben sich also offensichtlich bewährt. Wer es als Künstler zu etwas bringen will, muß folglich in erster Linie »authentisch sein«, wie es im Branchenjargon so schön heißt, und »eine eigene Position entwickeln«.

Die Argumentation ist bestechend. Sie wirft allerdings die Frage auf, woran man eigentlich eine »eigene Position« erkennt. Daran, daß sie innovativ, originell und damit unverwechselbar sei, ist als Antwort leider unbefriedigend. Genau das hätten die etablierten Größen des akademischen Zeitalters für ihre Arbeit nämlich ebenso in Anspruch nehmen können und zwar zu Recht. Auch der traditionsgläubige Reynolds war in seinem Fach innovativ und dabei in höchstem Maße originell und unverwechselbar. Auf der anderen Seite warfen sich ausgerechnet so programmatische Modernisten wie die italienischen Futuristen, die in ihren Manifesten mit vollen Backen zur totalen Revolte gegen alle Tradition geblasen hatten, mit zähem Fleiß auf das erztraditionelle Feld der Tafelbildmalerei und stürmten damit direkt in die erztraditionellen Museen, deren augenblicklichen Abriss sie noch kurz zuvor energisch gefordert hatten. Originalität ist also offenbar kein geeigneter Indikator für den Wert künstlerischer Produktion – nichts ist leichter, als eine »eigene Position« zu entwickeln.

Andererseits aber ist, wie jeder Künstler weiß, zugleich auch nichts schwerer. Auf jeder beliebigen zeitgenössischen Biennale oder Kunstmesse wird dem Besucher vorgeführt, wie schnell der Anspruch auf unbedingte Originalität implodiert. Das liegt nicht etwa an mangelnder individueller Begabung, sondern zunächst einmal an der schieren Menge. Selbst dem professionell geschulten Auge verschwimmt der größte Teil der Exponate schon nach kurzer Zeit zu einem bunten Einerlei. Und das ist keineswegs nur eine Ermüdungserscheinung. Es hängt vielmehr damit zusammen, daß die zahllosen »eigenen Positionen«, mit ihren subtilen konzeptuellen Nuancen und formalen Verwerfungen, so singulär und unverwechselbar gar nicht sind. Auf der Jagd nach unbedingter Originalität ist die Kunst der Moderne nämlich längst zu dem geworden, was sie niemals sein wollte: zu einem Spiel mit Überbietungen und Wiederholungen, sprich: zu einer Tradition. Das klingt wie eine schlechte Nachricht, ist aber vermutlich gar keine. Zur Zeit Reynolds’, als die Salonausstellung der Pariser Akademie europaweit das Maß aller Dinge war, hingen die Gemälde dort in jedem Saal zu Hunderten eng gedrängt bis unter die Decke. Porträts, Landschaften, Schäferszenen, Seestücke, Schlachtengemälde – die unterschiedlichsten Genres bunt durcheinandergemischt, große neben kleinen Formaten, Dezentes neben Schreiendem, Meisterhaftes neben Mißratenem, berühmte Namen neben Anfängern. Schon damals überboten sich die Künstler in der Herstellung von Unverwechselbarkeit. Schon damals lautete die Klage der Besucher, es gebe nichts Originelles mehr zu sehen. Und schon damals ging der Betrieb weiter.

Projekt Weltrettung: Kunstpädagogik im Höhenrausch

Hat es Joseph Beuys wirklich gegeben oder war er nicht womöglich die self-fulfilling prophecy deutscher Kunsterzieherinnen?

Hans Platschek

DA ich mir ziemlich sicher bin, daß die folgenden Anmerkungen zum Selbstverständnis zeitgenössischer Kunstpädagogik nicht nur bei den direkt Angesprochenen heftige Abwehrreflexe auslösen werden, will ich mit einer unstrittigen Feststellung beginnen: In der Beziehung zwischen Lehrern und Schülern geht es substantiell um Vertrauen und Verantwortung. Jegliche Form der Ausbildung oder Unterweisung begründet schließlich ein Abhängigkeitsverhältnis. Es mag als Ausweis sokratischer Bescheidenheit gelten, wenn man sich als Pädagoge bemüht, diesen Umstand nicht überzubetonen. Aber das ändert nichts daran, daß jeder Lehrer, der sich selbst ernst nimmt, de facto einen doppelten Expertisevorsprung für sich in Anspruch nimmt: Er behauptet, etwas prinzipiell besser zu können und/​oder zu wissen als seine Schüler; zugleich verspricht er, über die Mittel zu verfügen, um dieses Kompetenzgefälle auszugleichen.

Man kann das Verhältnis von Lehrern und Schülern deshalb auch als Vertragsverhältnis beschreiben, in dem der Lehrende als Anbieter einer Dienstleistung firmiert, nämlich der Vermittlung eines bestimmten Wissens oder Könnens, und der Schüler als sein Kunde oder Klient. Dabei befindet sich der Schüler grundsätzlich in der schwächeren Position. Mangels eigener Expertise vermag er nur zu einem gewissen Teil selbst einzuschätzen, ob der behauptete Kompetenzvorsprung, der ja zentraler Bestandteil des Ausbildungsvertrags ist, wirklich besteht. Da er meist zugleich ebensowenig in der Lage sein wird, die Angemessenheit der pädagogischen Mittel in bezug auf den Ausbildungszweck zu beurteilen, ist er wohl oder übel zu einem (mehr oder weniger) blinden Vertrauensvorschuß gezwungen.

 

Dieses strukturelle Ungleichgewicht der Kräfte erlegt Lehrern eine besondere Verantwortung auf, denn Lebenszeit ist nun einmal eine kostbare Ressource. Das mindeste, was man von ihnen erwarten können sollte, wäre deshalb, daß sie überzogenen Erwartungen entgegentreten und Art und Umfang ihrer pädagogischen Dienstleistungen und damit den möglichen Ertrag des Unterrichts so realistisch wie möglich schildern. Was mich zu meiner ersten These bringt: Die meisten programmatischen Einlassungen zünftiger Kunstpädagogen erwähnen die Weitergabe traditioneller gestalterischer Kulturtechniken wie etwa des Modellierens oder des Zeichnens nach der Natur mit erstaunlicher Beiläufigkeit. Als ihr eigentliches Kerngeschäft reklamieren sie statt dessen – und das mittlerweile sogar schon für die Grundschule!1 – hermeneutische Hilfestellungen und praktische Übungen zum verständnisvollen Umgang mit zeitgenössischer Kunst.

In der Regel schildern sie die individuelle wie auch gesamtgesellschaftliche Bedeutung dieser besonderen Expertisetransferleistung in derart dramatischer Überhöhung, daß man sich unwillkürlich die Frage stellt, ob denn das in dem dergestalt angesonnenen pädagogischen Vertrag enthaltene Versprechen auf einem so prosaischen Planeten wie dem unseren überhaupt einlösbar ist. Ein typisches Beispiel ist der Internetauftritt des Instituts für das künstlerische Lehramt der Akademie der Bildenden Künste in Wien, auf den mich ein befreundeter Kunstpädagoge – es gibt ihn wirklich! – aufmerksam gemacht hat. Auf der Suche nach Informationen über das Ausbildungsprofil erfährt man dort, daß das Institut derzeit drei Studienrichtungen anbietet: Bildnerische Erziehung, Textiles Gestalten und Werkerziehung. Das sind alles ehrenwerte Metiers mit langer Tradition, deren Sinn und Berechtigung ich keineswegs in Frage stellen möchte. Ich frage mich allerdings, weshalb sie mit folgender Präambel angepriesen werden müssen:

»Demokratische Gesellschaften und die Strukturen, die diese definieren, haben in den letzten Jahren fundamentale soziale, ökonomische, politische und technologische Veränderungen erfahren. Die Konsequenzen dieser Veränderungen sind weitreichend und durchdringen alle Bereiche gesellschaftlichen Handelns. Ein zentraler Aspekt davon wird gemeinhin mit der Kulturalisierung der Gegenwart überschrieben. Diese Kulturalisierung meint die Durchdringung von zusehends allen Sphären des Alltäglichen mit kulturellen Herausforderungen, Aufgaben und Themen und weist daher Kunst und Kultur grundlegend neue Funktionen zu, die über die traditionellen Begriffsfelder hinausgehen. Der Umgang mit Kunst und Kultur wird heute als eine Grundtechnik gesellschaftlicher Anforderungen verstanden und kulturelle Kompetenz als die Grundlage für Handlungsfähigkeit in gegenwärtigen Gesellschaften. Kultureller Bildung kommt daher sowohl im institutionellen als auch außerinstitutionellen Bereich eine zentrale Rolle zu, da diese, wenn sie gesellschaftlich wirksam sein will, auf die Schaffung emanzipatorischer Handlungsfähigkeit zielt. Effektive kulturelle Bildung muß emanzipatorisch wirken und jene Kompetenzen vermitteln, die es erlauben, mit kulturellen Artikulationen und Zeichen gleichzeitig auf produktiver, reflexiver und kommunikativer Ebene umgehen zu können.«2

Wer das einschlägige Schrifttum der Branche auch nur halbwegs kennt, weiß, daß diese bizarre Mischung aus heiligem Ernst und losem Denken beileibe keine Wiener Spezialität ist. Wo immer Kunstpädagogen ihr Fach öffentlich positionieren, besingen sie die Kunst superlativisch als »unerschöpfliche Ressource«, von der nichts weniger als die Runderneuerung der Gesellschaft zu erwarten sei: »Je gebildeter, nicht zuletzt eben künstlerisch gebildeter die Bürger sind, je mehr die Kunst ihre Lebensanschauung, ihre ganze ›Art zu sein‹ bestimmt oder wenigstens beeinflußt, also mitbestimmt, desto potenter, leistungsfähiger und innovationsfreudiger, desto toleranter und aufgeschlossener, desto einsatzbereiter und hingebungsvoller, desto lebensfroher und zukunftsorientierter wird die Gesellschaft als Ganzes sein.«3 Wenn man das erst einmal glaubt, ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Rettung der ganzen Welt. 2006 verabschiedeten drei internationale Fachverbände des UNESCO World Congress of Arts in Education im portugiesischen Viseu eine gemeinsame Erklärung. Kunstpädagogische Aktivitäten, so konnte man da lesen, »both transmit and transform culture through the humanizing languages of the arts«. Ein halbes Jahrhundert, hieß es weiter, habe die Zunft Lehrpläne und Inhalte nach dem Prinzip »cooperation, not competition« entwickelt – als Kunsthistoriker kann man an dieser Stelle Michelangelo lauthals lachen hören! –, und das mit durchschlagendem Erfolg: »We are now ready to respond proactively to the diverse social and cultural needs of our world. In response to the urgent crises of our times, we embrace the challenge to make our exceptional resources available to governments and educational communities across the globe.«4

Die Kunstpädagogik als globales Kriseninterventionsteam im Dienst der internationalen Staatengemeinschaft – was bringt erwachsene Menschen wohl dazu, mit so etwas an die Öffentlichkeit zu treten? Woher rührt der Hang zum universal Missionarischen, der einem in diesem Fach ständig entgegenschlägt? Individualpsychologische Erklärungen scheinen mir hier nicht weiterzuführen. Die ausübenden Kunsterzieher in meinem persönlichen Umfeld und noch mehr die angehenden, die ich in meinen Seminaren näher kennenlernen durfte, haben auf mich bislang jedenfalls nicht den Eindruck gemacht, als fühlten sie sich von sich aus zu Aufgaben von solch kolossaler Tragweite berufen. Im Gegenteil. Viele von ihnen scheinen mir eher chronisch in ein unseliges Legitimationsgefecht mit einer von ihnen als überwiegend geist- und kulturfeindlich erlebten Umwelt verstrickt, der gegenüber sie ständig aufs neue ihre Daseinsberechtigung nachweisen zu müssen glauben.

Und vielleicht ist das ja auch schon ein Teil der Antwort. Denn natürlich steigt die Versuchung, eine großsprecherische Außendarstellung zu wählen, je geringer die gesellschaftliche Grundakzeptanz einer Disziplin ist bzw. für je geringer ihre Vertreter sie selbst erachten. Man muß dabei noch nicht einmal von bewußtem Etikettenschwindel ausgehen. Die Kunstpädagogen, die ich kenne, erscheinen mir allesamt unbedingt seriös, und diese Seriosität hat auch ein solides ideelles Fundament: Es ist der staunenswert kritikimprägnierte Glaube an die wunderbare, beseligende, pazifizierende, bewußtseinserweiternde, wirklichkeitserschließende, volkserzieherische, wahrnehmungserweiternde und ideologietranszendierende Wirkungskraft der einen, wahren und einzigen Kunst.

Dieser Glaube und das von ihm befeuerte kryptosoteriologische Ostinato begleiten die Kunstpädagogik schon seit ihren Anfängen. Als im September 1901 der erste deutsche Kunsterziehungstag in Dresden zusammenkam5, um über »die Förderung der Kunst und ihre Verbreitung im Volke« zu diskutieren, wurde bereits mit denselben superlativischen Topoi gearbeitet: »Welch ein erhabenes Ziel ist dies!« rief Oberbürgermeister Otto Beutler damals den Teilnehmern entgegen und hoffte, daß daraus ein »wirklicher, großer Segen für unser Volk entspringen wird«. Der geheime Schulrat Grüllich, der als Vertreter des kgl. sächsischen Unterrichtsministeriums sprach, legte gleich noch einen drauf. Die Kunst, so meinte er, »soll ja nicht bloß einzelne hervorragende Geister der Menschheit oder einzelne Kreise des Volkes beglücken, nein, sie soll die ganze Erde, auch die Hütte und Seele des ärmsten Mannes verklären. Die Wissenschaft ist bloß für einen kleinen Kreis Auserwählter bestimmt, die Kunst für die große Mehrzahl der Menschen; am wenigsten möchte ich den Mühseligen und Beladenen ihren Sonnenschein entzogen wissen.«

Beifall – verzeichnet das Protokoll an dieser Stelle. Wie bei dem heterogenen Teilnehmerfeld aus Volksschullehrern, Stadtbauräten, Künstlern und Museumsleitern nicht anders zu erwarten, gab es keine geschlossene Lehrmeinung darüber, wie der Volkserzieher den »Tempel der Kunst« am besten für die Mühseligen und Beladenen öffnet. Dennoch läßt sich, was die Fragen nach Notwendigkeit, Möglichkeiten und Ziel von Kunstvermittlung angeht, aus den Einzelbeiträgen ein kleinstes gemeinsames Vielfaches herausdestillieren, das sich, im Anschluß an die von mir vorhin skizzierte pädagogische Grundsituation, in die Form eines klassischen Syllogismus bringen läßt.

Prämisse eins besteht, wie nicht anders zu erwarten, aus einer Defizienzthese. Sie besagt in diesem Fall, daß die meisten Menschen durch die naturwidrigen Rahmenbedingungen des Zivilisationsprozesses in ihrer Aufnahmefähigkeit für das Schöne so deformiert seien, daß sie es ohne Anleitung anderer nicht einmal mehr erkennen könnten, wenn sie direkt davorstünden. Prämisse zwei bildet das Paradigma von der Kunst als Endpunkt ästhetischer Optimierung. Ich meine damit die Auffassung, nach der die Kunst gleichsam den krönenden Schlußstein eines hierarchischen Stufenbaus aus zahllosen gestalterischen Prozessen darstellt, in dem sich nach oben hin eine Sinnfülle anreichert, wie sie in den prosaischen Niederungen des Alltagslebens nirgends zu finden ist.

Diesem Ausnahmestatus verdankt die Kunst ihre besondere Bedeutung als Gegenstand einer institutionell geförderten Betrachtung und Verehrung. Die Conclusio aus den beiden Obersätzen lautet dann: Kunstpädagogik ist nötig und sinnvoll, denn sie macht die mannigfachen Deformationen der Sinnlichkeit namhaft und versetzt die Menschen durch eine schrittweise, pädagogisch begleitete Annäherung an das ästhetisch Beispielhafte und künstlerisch Herausragende in die Lage, gute Gestaltung im allgemeinen und die Kunst im besonderen wieder zu schätzen. Der dadurch erschlossene individuelle ästhetische Glücksgewinn ist wohlgemerkt keineswegs ein Selbstzweck, sondern dient der gesamten Gesellschaft, denn ästhetisch erzogene Menschen sind auf lange Sicht auch die besseren Mitmenschen.

Es geht mir wohlgemerkt nicht darum, mich über die Teilnehmer des Dresdener Kunsterziehertags lustig zu machen. Deren Kampf für mehr Bildungsgerechtigkeit im Kaiserreich war ohne Frage ehrenwert und das penetrante Weltretterpathos, mit dem sie dieses Vorhaben in der Öffentlichkeit bewarben, kein Eigenfabrikat, sondern der gängige Ton in den meisten volkspädagogischen und lebensreformerischen Debatten der Zeit – es genügt, einmal kontrollhalber einen kurzen Blick auf die Reden und Aufsätze zum Schillerjahr 1905 zu werfen. Festzuhalten ist überdies, daß die Expertise, die die Dresdener Tagungsteilnehmer weiterzugeben anboten, weniger in der Anleitung zu waghalsigen kulturtheoretischen Verrenkungen bestand, sondern schlicht und einfach darin, die Ausbildung der Urteilskraft ihrer Schüler durch Ausbildung derselben gestalterisch praktischen Fertigkeiten zu befördern, auf deren meisterlicher Beherrschung nach allgemeinem Konsens auch die Kunst selbst beruhte. Dabei galt ihr fürsorgliches Interesse vor allem den unterprivilegierten sozialen Schichten, denen man die Gelegenheit zu fachmännisch angeleitetem Zeichnen und Werken und damit die Möglichkeit geben wollte, sich durch praktisches Tun ein Gebiet der Hochkultur zu erschließen, von dem sie in der Regel ausgeschlossen waren.

Es ist bemerkenswert, daß in der heutigen Fachliteratur von derart basalen Hilfestellungen allenfalls noch am Rande die Rede ist, während einem praktisch auf jeder zweiten Seite mit wilder Emphase die krudesten ästhetischen Mystizismen und pädagogischen Heilsversprechen entgegenschlagen.6 Zwar wird die Kunst nicht mehr länger umstandslos als die sinnliche Schauseite des Wahren und Guten beworben. Statt dessen tritt sie nun als Hort des Widerstands gegen »Verfügungswissen«7 auf, als »Möglichkeitsraum des Nichtdagewesenen«, in dem exklusiv eine geheimnisvolle »fluide Intelligenz«8 gedeihe und ähnliches mehr. Es ist schwer auszumachen, wie viele dieser ästhetischen Überspanntheiten exklusiv im akademischen Habitat der Kunstpädagogik gedeihen. Zeitgenössische Kunsttheorie hat diesbezüglich ja leider nur allzuhäufig einen ähnlich windigen Zuschnitt.9 Auch dort hört man alle naselang, ambitionierte Performancekunst führe zu einer »Verwandlung des anschauenden Subjekts«10, oder es wird die Hoffnung beschworen, über die »ästhetische Arbeit« im Umgang mit der Kunst dereinst »das Wahrnehmen selbst zu einer Kunst auszubilden«11. Die Essenz all dieser angestrengten Theoriegebilde ist jedenfalls in der Regel die gleiche wie schon bei Herrn Schulrat Grüllich: In der Kunst walten ungeahnte Kräfte, die nirgends sonst zu finden und für eine heile Gesellschaft unverzichtbar sind. »Das Rohe und Gemeine«, hieß es weiland in Dresden, »weicht vor der wahren Kunst scheu zurück.« Beifall.

 

Diese inhaltliche Kontinuität wäre nicht weiter problematisch, hätten sich auf dem Feld der bildenden Kunst nicht in der Zwischenzeit grundstürzende Entwicklungen ereignet. 1901 konnte man vielleicht noch gutherzig an einen Kollektivsingular namens »wahre Kunst« glauben, eine Kunst, die wie von Zauberhand für jede Epoche einen passenden Stil ausprägte, eine Kunst, deren Ethos die entsagungsvolle Vervollkommnung sehr klar benennbarer Fertigkeiten forderte, eine Kunst, an deren Meisterleistungen sich jede andere Form der Gestaltung zu messen und zu der man als Betrachter folglich aufzuschauen hatte; eine Kunst auch, die, wenn man von einigen wenigen Grenzfällen absah, prinzipiell nach einsichtigen Kriterien zu beurteilen und deren Produktion wie Rezeption damit grundsätzlich lehr- und lernbar waren. Auf all diesen Prämissen ruhte das hehre Programm der Volkserziehung durch ästhetische Bildung.

Ein gutes Jahrhundert später wird man wohl kaum mehr jemanden finden, der einem dieses anspruchsvolle normative Gesamtpaket abnehmen wollte. Der zeitgenössische Kunstbetrieb präsentiert sich als unübersichtliches, radikal heterogenes Pluriversum, in dem die unterschiedlichsten und gegensätzlichsten Positionen miteinander um unsere Aufmerksamkeit konkurrieren, in der das programmatisch Kontingente, bewusst Ephemere, Fragmentarische, Inkohärente, Nur-Individuelle, Widersprüchliche ebensoviel, wenn nicht mehr Raum einnimmt als das auf Beständigkeit angelegte, ohne daß sich aus dieser oder auch einer anderen Differenz eine verbindliche Wertbestimmung ableiten ließe. Diese so unterhaltsame wie ermüdende Betriebsamkeit, die allenfalls ein Geflecht kultureller Märkte und ein paar institutionelle Traditionen noch lose zusammenhalten, gibt keinerlei Veranlassung mehr, den Begriff der bildenden Kunst weiterhin in der emphatischen Weise im Singular zu gebrauchen, wie das ehedem sinnvoll schien. Und am allerwenigsten gibt sie Anlass zu der Vermutung, der Kunst als solcher oder auch ihrer Rezeption eigneten per se gesamtgesellschaftlich segensreichere Kräfte als etwa Mode, Kino, Sport oder auch Popmusik.

Daß sich die Frage, was Kunst ist, nicht mehr verbindlich beantworten läßt, gehört deshalb heute zur kunstphilosophischen Erstsemesterausstattung. Daß sich, was man nicht definieren kann, auch nicht in der Weise lernen und lehren läßt, wie das ehedem die Zünfte und später die Akademien über Jahrhunderte für sich in Anspruch nahmen (und wie es noch die Teilnehmer des Dresdener Kunsterziehertages als selbstverständlich voraussetzten), scheint sich hingegen noch nicht wirklich herumgesprochen zu haben. Es ist nichtsdestoweniger wahr, und es betrifft den Kern jeglicher kunstpädagogischen Programmatik. Man muß nur einmal den Ausbildungsplan der École des Beaux-Arts etwa zur Zeit Ingres’ mit dem einer beliebigen deutschen Kunsthochschule von heute vergleichen, um den Unterschied anschaulich vorgeführt zu bekommen. An der Beaux-Arts war für alle Studenten der gleiche Kanon an Kenntnissen und Fertigkeiten verbindlich und jeder Professor empfand es, unabhängig von allen innerakademischen Richtungsstreitigkeiten und seiner persönlichen künstlerischen Handschrift, als seine selbstverständliche Aufgabe, ihn zu vermitteln. An zeitgenössischen Akademien wird zwar immer noch ein bunter Strauß unterschiedlichster Fächer angeboten, doch sind sie für die Studenten fast ausnahmslos fakultativ. Jeder Klassenprofessor agiert bei der Festsetzung der Ausbildungswege, -mittel und -ziele vollkommen autonom, ist also niemandem gegenüber rechenschaftspflichtig. Gegensätzliche und widersprüchliche Lehrauffassungen sind heutzutage deshalb auch nicht etwa die Ausnahme, sondern vielmehr die Regel. Die Zugehörigkeit zum Kollegium einer Akademie besagt nichts, aber auch gar nichts über die Kunstauffassung, die der Einzelne dort vertritt. Das institutionelle Drumherum bildet keine inhaltliche Klammer mehr, es dient vielmehr weitgehend pragmatischen Zwecken, wobei der Glaube an die Notwendigkeit gebündelter Ressourcen zweifellos weit vor den Hoffnungen rangiert, die mit der Bündelung von Lehrkompetenz (welcher Art auch immer) verbunden sein mögen.

An diesen Sachverhalt, den ich hier ausdrücklich nicht bewerten will,12 schließt meine zweite These an. Ich werde sie vorsichtshalber als Frage formulieren: Könnte es sein, daß die zeitgenössische Kunstpädagogik noch immer nicht die Konsequenzen aus der völligen Entgrenzung des Kunstbegriffs gezogen hat? Oder genauer: Wenn die Kunst kein übersichtliches Singularunternehmen mehr ist, wenn ihre Entwicklung wie ihre Bewertung nicht mehr dem über Jahrhunderte bewährten Prinzip der Sinnanreicherung durch ständigen gestalterischen Komplexitätsgewinn gehorchen, sondern eher ein reichhaltiges Panoptikum höchst individueller Zeichenwelten bilden, welcher Art ist dann das Kompetenzgefälle, das die Kunstpädagogik auszugleichen verspricht? Welchen Expertisevorsprung beansprucht sie wem gegenüber? Wie begründet sie ihren Vorrang als Lehrfach gegenüber konkurrierenden Angeboten wie beispielsweise der Kunst- und Kulturgeschichte oder den Bild- und Medienwissenschaften, aber auch gegenüber Kochen, Haushaltsmanagement, Yoga, Computer-Gaming oder Fliegenfischen?

Ich habe auf keine dieser Fragen jemals eine überzeugende Antwort erhalten. Aber vermutlich wären sie mir auch gar nicht erst in den Sinn gekommen, würden Kunstpädagogen im öffentlichen Diskurs nicht ständig monoman von der »Schaffung emanzipatorischer Handlungsfähigkeit« und anderen zivilisatorischen Herkulestaten delirieren, sondern sich statt dessen zur Abwechslung einmal wieder auf ihr angestammtes Kerngeschäft und dessen Vertragsinhalte besinnen. Das aber sind weder die Entwicklung und Vermittlung ästhetischer Theorie, Semiologie, Soziologie, Psychologie oder auch Hermeneutik der Kunst – dafür gibt es bekanntlich eigene, spezialisierte Wissenschaften, deren Ergebnisse zu popularisieren allenfalls eine Zusatzleistung kunstpädagogischen Unterrichts darstellen kann –, noch ist es die Rettung der Welt. Vielmehr ist es die praktische Anleitung zu individuellem gestalterischem Tun, sprich: die höchst anspruchsvolle Weitergabe der höchst anspruchsvollen mimetischen Kulturtechniken, von denen sowohl Kunst und Kunsthandwerk als auch die Kunst- und Werkerziehung ehedem einmal ihren Ausgang nahmen. Daß diese Techniken, sofern sie nur entsprechend kunstvoll vermittelt werden, mindestens ebenso bereichern und beglücken können wie alle konkurrierenden Lehrangebote, ist hinlänglich bewiesen. In welchem Maße sie auch für den zeitgenössischen Kunstbetrieb weiterhin von Bedeutung sind, kann deshalb herzlich egal sein – schließlich ist bislang noch niemand an einer Karriere als Konzeptkünstler gehindert worden, nur weil er zuvor zeichnen gelernt hatte. Es würde mich nicht wundern, wenn die intellektuelle Entkrampfung, die ein solcher Akt bewußter soteriologischer Askese nach sich zöge, auf Dauer allen Vertragsparteien gleichermaßen zugute käme.