Anna Mona

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Christian Bernàrd

Anna Mona

und der kosmische Prinz

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Tag 1

Tag 2

Tag 3

Tag 4

Tag 5

Tag 6

Tag 7

Anhang mit Erläuterungen

Impressum neobooks

Prolog

Das Pferd war schweißnass, auch sein Reiter war erschöpft. Er trug ein graues Wams aus Filz und die wollenen Hosen eines Bauern, aber hatte feste Stiefel und ein schnelles Pferd. Die Tarnung schützte ihn gegen die Herbstwinde im Jahr 1147 und verbarg zwei rot-weiß gewürfelte, schräge Balken auf lichtblauem Grund. Das Wappen Roger II., König von Sizilien, Herzog von Neapel.

Nur Aufträge von höchster Bedeutung erteilte der Normanne Boten persönlich. Mitten in der Nacht hatte er ihn rufen lassen und befahl ihn zum Eingang seines Harems. Der König gab ihm keine schriftliche Botschaft, aber schickte ihn sofort los, wie auf eine Eingebung oder dramatische Wendung hin.

Was war er in den letzten Jahren unterwegs gewesen und beileibe nicht als einziger. In vielen Ländern saßen sie im Sattel, meist rund um das Mittelmeer. Bis nach Arabien hatte ihn das geführt und zu den nordafrikanischen Besitzungen, ‚König von Afrika’ nannte sich sein Herrscher seit der Eroberung von Tunis. Es waren wirtschaftliche Botschaften, so zum Aufbau der Handelsmarine. Aber auch militärische und politische, Anweisungen für die Verwaltung von Calabrien, oder die apulischen Häfen zu den bewaffneten Pilgerfahrten nach Jerusalem.

Er selbst konnte ein wenig lesen, aber nicht schreiben. Ein paarmal hatte er Schreibern zugesehen und es gar nicht erst versucht. Ihm reichte es, sich die Gegenden durch die er kam einzuprägen und sich mit wenigen Brocken verständlich zu machen. Ein Fremder der nur radebrechte, fiel weniger auf. Sein König hingegen hieß es, beherrsche Griechisch und Arabisch und besitze sogar eine Karte der Welt aus Silber.

Wahrscheinlich ging es diesmal wieder um Rom, wegen der Päpste lag sein Herr ständig im Streit. Einen Gegenpapst hatte er unterstützt, sogar den vom Kaiser anerkannten Papst gefangen genommen, um seine Ansprüche durchzusetzen. Doch dessen Nachfolger hatte das Bündnis mit Sizilien wieder gelöst. Dem nächsten Bischof von Rom zwang Roger II. wieder mit Waffengewalt seine Bedingungen auf. Dieses hin und her bei den Päpsten schien sich fortzusetzen, der jetzige war nicht einmal Bischof oder Kardinal gewesen und musste schon mehrmals aus Rom fliehen.

Nach Norden hatte der König ihn diesmal geschickt. Nach Brauweiler sollte er reiten, im Kloster eine Botschaft in Empfang nehmen und bringen, wohin immer der Abt befahl. Nach drei Monaten im Sattel angekommen, war er erstaunt als er erfuhr, wofür er so lange geritten war. Nur, um eine Kirchenangelegenheit des jungen Klosters drei Tagesritte weit ins Westfälische zu bringen?

Er hatte weitaus gefährlichere Aufgaben gemeistert, war tief durch Feindesland geritten, hatte Wind und Wetter, Räubern und Wegelagerern getrotzt. Für einen wie ihn, der die Sanddünen der Wüsten kannte und meterhohe Schneeverwehungen, der mit Glück und Geschick Geröllabgänge gemeistert hatte, auch vom Schmelzwasser hinweggerissene Brücken und Fähren, war dieser Ritt keine große Herausforderung.

Aber auch die wollte bewältigt sein und das konnte er nur, weil ihm das Nachrichtennetz des Königs zur Verfügung stand. Mittelsmänner wussten, wo er am nächsten Abend die Pferde wechseln konnte und das neueste über Weg und Steg. Zwar nutzte er die Hauptstraßen Via Imperii und Via Regia, doch sein Herr hatte ihn angewiesen, nördlich der Alpen alle Städte zu meiden. So musste er einen Bogen machen um Innsbruck, Augsburg, Nürnberg, Hof, Zwickau, Leipzig und Frankfurt. Wobei ihn die Umgehung von Köln am meisten ärgerte, denn dort sollte es schon vierzig mal tausend Einwohner geben und eine so große Stadt hatte er nördlich der Alpen noch nicht gesehen.

Vor Ort erfuhr er auch, wo Wildschweine aus dem Dickicht brachen, welche Ecken er vor Einbruch der Dunkelheit passiert haben sollte, wie man den nächsten Fluss am besten überquerte, in welchem Zustand die Furten waren und welche Herbergen als leidlich sicher galten. So verlor er keine Zeit mit Suchen, konnte an guten Tagen sieben Stunden im Sattel sein.

Dennoch hatte er Sorgen, der Auftrag war nicht nur seltsam, er stand auch unter keinem guten Stern. Vor zwei Tagen hatte Abt Amilius im Kreuzgang des Klosters von Brauweiler ihm die Botschaft übergeben, für die er so weit herbeigeeilt war. Just als er damit nach draußen trat, verdunkelte sich die Sonne, umkreiste sie ein vielfarbiger Kranz. Von solch einer Sonnenfinsternis hatte er in Afrika unheilvoll reden hören, nun hatte er sie selbst erlebt, dazu noch an einem Sonntag. Der Abt war gleich zum Gebet geeilt damit dies kein schlechtes Zeichen sei für die neue Abteikirche. Gerade das Langschiff, dessen Pfeiler bereits in den Himmel ragten, war für die Bauleute gefahrvoll und eine große Herausforderung.

Zudem schien sein Auftrag verraten worden zu sein. Am letzten Treffpunkt hatte er den Gewährsmann tot aufgefunden, mit einem Messer im Rücken und keine Pferde. Wahrscheinlich ein persönlicher Händel oder ein Raub, doch das ließ ihn noch vorsichtiger werden. Er fühlte sich beobachtet und verfolgt. Trotz des müden Pferdes war er den ganzen Tag geritten und hatte darüber nachgedacht, was wohl das Beste sei.

Nun zogen dunkle Wolken auf. Er wollte versuchen, das geheime Schreiben an einem ruhigen Ort zu entziffern. Danach würde er es verstecken, für den Fall einer Durchsuchung in Gefangenschaft. Da tauchte zwischen den Feldern ein Kirchlein auf, allein gelegen im Abendlicht bis auf einen Hof in der Nähe.

Als er im Dunklen die Kapelle mit der flachen Balkendecke verließ, war das Wetter umgeschlagen, Regen peitschte ihm ins Gesicht. Er würde zum Hof nebenan gehen und um Unterkunft bitten und das Schreiben am nächsten Tag zum Bestimmungsort bringen. Danach sollte ihn nichts daran hindern, schnell zurückzukehren über die Alpen, bevor der Winter einbrach.

Er band sein Pferd los vom Baum. Ein gewaltiger Blitz ließ ihn zusammenzucken, die Riemen des nassen Zaumzeugs rutschten ihm durch die Hand. Krachend entlud sich der nahe Donner, der Hengst bäumte sich auf.

‚Das ist der Gottseibeiuns’, durchfuhr es ihn. Das Pferd ging vorne hoch und tänzelte auf den Hinterbeinen, der Reiter geriet vor das Tier. Als er seinen Fehler bemerkte, war es zu spät. Tödlich traf ihn ein Huf an der Schläfe.

Tag 1
An dem Anna Mona die alte Weisheit ‚Andere Länder, andere Sitten’ am eigenen Leib erfährt.

Heute war es soweit. Anna Mona durfte sich endlich die Fingernägel lackieren, denn so war die Abmachung mit ihrer Maa.

„Mit 14 kannst du dir offiziell die Nägel machen“, hatte ihre Mutter das Ergebnis zusammengefasst, „aber nur in den Ferien. Mit 15 von mir aus das ganze Jahr und mit 16 darfst du dich schminken und die Lippen anmalen.“

In der ersten Woche der Sommerferien war sie bei Oma gewesen und hatte den Nagellack lieber zu Hause gelassen. Aber jetzt fühlte sich wieder ein bisschen mehr erwachsen. So, mit der linken Hand war sie fertig, die Nägel waren knallrot, Zeit für eine Pause. Noch einmal pusten, das Gläschen zugedreht und bloß nicht umschmeißen, das gäbe eine Riesensauerei.

Sie hob den Blick vom Schreibtisch und schaute zum Fenster hinaus. In dieser Nacht regnete es Sternschnuppen, angeblich mehr als hundert in der Stunde. Was sollte sie sich denn wünschen? Zunächst einen süßen Freund. Gut aussehen musste er und treu sein, dazu nicht einer von der schlichten Sorte. Und sportlich, denn Anna Mona war Leichtathletin und wollte Siebenkämpferin werden. In den Ferien war Trainingspause, aber danach sollten sie einen neuen Trainer bekommen. Hoffentlich keinen scharfen Hund, denn im Speerwurf tat sie sich noch schwer.

‚Genau! Das wünsch ich mir, neue Stadtrekorde in Kugelstoß und Speerwurf. Los, ich schau nach Sternschnuppen für die ersten beiden Wünsche.’

Sie knipste die Schreibtischlampe aus, nun war es im Zimmer fast dunkel. Nur der CD-Player warf ein wenig Licht auf den Schreibtisch, „stand up, get up for your rights“, sang Bob Marley. Und der Wecker leuchtete.

‚Mensch, schon kurz vor zwei. Gut, dass Maa Nachtschicht hat. Da, eine Sternschnuppe, was für eine lange Bahn! Wow, die wird ja größer und größer, rast direkt auf mich zu. Ein Glück, jetzt ist sie doch noch erloschen.’

Plötzlich ein kurzes Zischen, dann machte es ‚Rums’. Mitten hinein in ihre Gedanken. Das Regal mit den Sportpokalen wackelte, polternd fiel einer zu Boden. Anna Mona war zusammengezuckt, hatte den Kopf eingezogen und unter den Armen versteckt, so sehr hatte sie sich erschrocken. Vorsichtig hob sie den Kopf, schaute langsam um sich. Sie tastete nach dem Schalter, im Lichtkegel der Schreibtischlampe fand sie ihr Handy.

 

‚Was war das denn, etwa ein Erdbeben?’

Nein, nein, das klang eher, als käme etwas angesaust. Und dann der Krach, als ob nebenan ein schwerer Umzugskarton vom Schrank fällt. Sie machte die Musik aus und lauschte. Jetzt war es still und sie spürte, wie die Angst in sie kroch. Es schüttelte sie in den Schultern. Sie hatte nicht den Mut einfach nachzuschauen. Denn Anna Mona war allein zu Haus.

‚Dabei hab ich doch nur am Fenster gesessen und ein bisschen geträumt. Das darf man doch wohl, an einem Abend wie diesem. Warum muss Maa auch gerade heute Nacht arbeiten? Ich ruf sie an!’

Das durfte sie nur im Notfall, denn auf der Arbeit hatte ihre Mutter alle Hände voll zu tun, betreute als Disponentin einer großen Spedition LKW in ganz Europa.

‚So ein Mist, nur die Mailbox’, sie steckte das Telefon in die Hosentasche. Noch nachmittags hatte sie Maa entgegen gerufen, „ich bin 14 und weiß, was ich will und was ich tue!“

Doch da hatten sie darüber gestritten, was in den Sommerferien läuft. Anna Mona sollte eine Woche bei der „buckligen Verwandtschaft“ verbringen, wie sie die nannte. Onkel Thaddeus und Tante Sophie mit zwei 15jährigen Jungs. Die Zwillinge hatte sie als schnöselig in Erinnerung, sie besuchten eine Schule für Hochbegabte, weil sie angeblich hyperintelligent waren. Schließlich hatte sie sich mit Maa verständigt, weil die so ernsthaft bat.

„Wegen so etwas sollten wir uns nicht streiten, wir haben ja nur uns.“

Also wird sie in den sauren Apfel beißen. Ihre Gedanken kehrten zurück.

‚Was soll ich bloß machen? Ich geh auf keinen Fall allein da raus. Um in Nachbarhaus zu klingeln, muss ich ebenfalls durch den Flur und da kann ich keinen mitten in der Nacht aus dem Bett holen.’

Sie schlich zum Regal und hob den Pokal auf. Beim Hochkommen spürte sie ihre Knie weich werden und musste sich setzen. Ihr wurde flau im Magen.

‚Mensch, ich hab den ganzen Abend nichts gegessen, alles nur kein Hungerast!’

Sie griff nach der Sporttasche am Boden und kramte. Das Problem kannte sie von Wettkämpfen. Wenn sie sich angestrengt hatte, brauchte sie rasch gute Kohlehydrate, am besten einen Müsliriegel. Zum Glück versteckte sich hinter den Spikes noch ein großes Stück ihrer dunklen Lieblingsschokolade. Sie brauchte mehrere Versuche das Alupapier abzupiddeln. Mit dem ersten Bissen versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen. Was war ihr das in die Knochen gefahren!

Im Zimmer schien alles in Ordnung, kein Putz war von der Decke gerieselt. Über dem Bett hing das Poster mit Bob Marley: ‚Jeder hat das Recht, sein eigenes Schicksal zu bestimmen.’ Am Kleiderschrank stand die Tür auf, da war nichts herausgefallen. In der Zimmerecke die Gitarre, daneben klebte der Rucksack mit den Schulbüchern für die nächsten Wochen am Boden. Die Urkunden vom Sport hingen noch an der Wand und der Laptop lag auf dem Schreibtisch. Nur die Klamotten auf dem Bett hatte sie noch nicht weggeräumt.

‚Ich kann doch nicht schlafen gehen, ohne zu wissen was da passiert ist?’

Beim Gedanken, dass mitten in der Nacht etwas im Haus explodierte oder jemand neben ihrem Bett auftauchte, wurde ihr ganz schummrig. Sie bekam einen trockenen Hals, wollte aus der Küche etwas zu trinken holen, aber sie traute sich nicht. Nicht jetzt. Im Nachdenken griff sie in die Hosentasche und legte das Handy auf den Schreibtisch neben das Zeugnis. Das war mittelprächtig ausgefallen, oder wie ihre Klassenlehrerin Frau Moritz, die schöne Frau Moritz, meinte, „es ist ein Abbild des realen Lebens, es birgt Licht und Schatten.“

Das stimmt schon, denn alles was mit Mathe und Physik zu tun hat, muss sie nicht wirklich haben, sie mag Sozialkunde, Kunst, Deutsch und Sprachen. Und natürlich Sport.

‚Mensch, ich muss mich konzentrieren. Denk nach, denk nach, was kann das wohl gewesen sein? Wie ein Einschlag klang es nicht, aber es hat richtig geplauzt. Vielleicht ist nur ein Regal zusammengekracht?’, versuchte sie sich zu beruhigen.

’Soll ich aus dem Fenster klettern und zur Tür wieder hereinkommen? Das bringt doch auch nichts. So ein Mist, warum ist Maa jetzt nicht hier, die wüsste was zu tun ist. Jetzt weiß ich was ich mache, ich ruf Susi an!’

Die ist ihre allerbeste Freundin. Mit 15 geht sie schon fest mit einem Jungen und hält Anna Mona für eine flache Bohnenstange. Kein Wunder, denn sie ist fast einen Kopf kleiner und etwas drall. Als Anna Mona ihr gestand, sie fände ihre Nase zu breit und hätte auch gern eine Brille, lachte die sie aus.

„Du mit deinem Stupsnäschen, als wäre das ein großer Zinken. Eine Brille betont deine Nase doch nur und stört beim Knutschen. Sei du mal froh über deine Kontaktlinsen.“

Wieder meldete sich nur eine Mailbox. Die half ihr nicht wirklich und eine SMS auch nicht.

‚Ich kann die Polizei anrufen! Aber was soll ich denen denn sagen? Bei uns hat es gerumst, ich habe Schiss nachzuschauen und mich in meinem Zimmer eingeschlossen? Das geht gar nicht. Oder doch?’

Sie ging zur Zimmertür und schloss ab.

‚Sieht ja keiner’, dachte sie.

Sie begann im Zimmer auf und ab zu gehen, dabei fiel ihr Blick in den Spiegel. Die graue Schlabberhose trug sie gern und das big shirt hatte sie ihrer Mutter abgequatscht, wegen der lang ausgestreckten Zunge darauf. Angeblich von einer Rockband aus Maas Jugend, deren Leadsänger heute wahrscheinlich im Rentenalter war und Probleme hatte, nicht tattrig von der Bühne zu fallen. Die dunklen Rastalocken, rund um das hellbraune Gesicht, hatte sie von ihrem Vater. An den konnte sie sich nicht erinnern, denn der ist, wie ihre Mutter sagte, „schon früh vom Pferd gefallen“. Die ersten Jahre hatte sie keine Ahnung, was das heißen sollte, doch dann wurde Maa so lange gelöchert, bis sie die Geschichte erzählte.

Er war eine Diskobekanntschaft gewesen, Anna Mona war das Kind spontaner Liebe mit einem Westafrikaner. Über den Zaun eines herbstlichen Schrebergartens waren sie des Nachts gestiegen. Das hätte sie Maa nicht zugetraut! Die war reichlich verlegen gewesen, nachdem sie das erzählt hatte. Am liebsten wäre sie mit ihrem Geheimnis wohl wieder zurück gerudert. Anna Mona hatte ihr aus der Patsche geholfen.

„Allemal besser als unser Kleiner braucht ein Schwesterchen, oder von wegen dem Kindergeld.“

Sie musste lachen, ihre Mutter grinste.

„Du meinst genauso gut wie, wir haben immer schon ein Kind gewollt?“

„Bestimmt!“

Maa hatte sie in den Arm genommen, und Anna Mona hatte sich sehr erwachsen gefühlt. Sie war stolz, weil ihre Mutter ihr das erzählte hatte wie einer Freundin. Dem Schrebergarten verdankte sie auch ihren Namen.

„Zwischen lauter Anemonen“, hatte Maa gesagt. „Ich war nämlich erstaunt, wie lange die blühen.“

So war der Vorname entstanden für die Kleine mit dem Sternzeichen Zwilling.

‚Warum fällt mir das gerade jetzt ein, ich will mich doch nicht vom Leben verabschieden. Ob ich mal rausschaue in den Flur? Der Lichtschalter ist direkt neben meiner Zimmertür, da riskier ich nicht viel.’

Lieber hätte sie mit Maa oder Susi am Ohr nachschauen gegangen. Aber es half nichts, sie war nun mal allein. Also nahm sie das Handy, atmete tief durch, ging zur Tür und drehte leise den Schlüssel.

‚Keine Reaktion, na bitte, mach dir nicht ins Hemd.’

Langsam öffnete sie die Tür.

‚Mensch komm runter, da ist bestimmt nur etwas hingefallen, vielleicht eine Deckenlampe?’

Mit dem Telefon in der Hand tastete sie nach dem Schalter, doch gerade als sie den gedrückt hatte, hörte sie aus dem Waschraum gegenüber ein Stöhnen. Anna Mona kreischte auf und ließ das Handy fallen. Sie fuhr zurück, knallte die Tür von innen zu, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und atmete tief aus auf den Schreck. Sie zitterte vor Angst, heftig klopfte ihr Herz. Ihre rechte Ferse hüpfte auf und nieder.

‚Was für ein Schocker, ich mach mir gleich in die Hose! Ob das ein Tier ist? Eine Ratte klingt bestimmt anders. Vielleicht ein Dachs, die sollen hier in der Siedlung schon gesehen worden sein? Nein, nein, das klang eher, als ob sich jemand verletzt hat. Aber wie denn, in dem kleinen Kabuff mit Waschmaschine, Besen und Staubsauger? Wie soll einer da reinkommen? Der Raum hat kein Fenster, etwa durchs Dach? Dafür war der Krach wieder zu leise und berstende Ziegel klingen anders. Hauptsache, da kommt jetzt keiner raus, mitten in der Nacht.’

Angestrengt dachte sie nach, doch ihr kam keine Idee.

‚Verdammte Scheiße, was mach ich bloß? Ich krieg Panik, ich muss was tun!’

Da fiel ihr Sportlehrer Bommer ein, der den Selbstverteidigungskurs für Mädchen geleitet hatte. Als sie an die Reihe kam, sich mit einem Tritt gegen seinen fingierten Angriff zu wehren, hatte die Schulsekretärin von der Eingangstür der Turnhalle gerufen. Er war einen Moment abgelenkt und Anna Mona hatte ihn genau dort erwischt, wo auch ältere Jungs keinen Spaß verstehen. Ihr Versuch, danach Maa auch noch eine Mitgliedschaft in einem Kampfsportklub abzuringen, war jedoch gescheitert.

„Wenn du mit einem Notenschnitt von 1,9 nach Hause kommst, können wir darüber reden“, hatte ihre Mutter sie ausgebremst. Allerdings konnte auch die sich das Lachen nicht verkneifen, als sie von der Reaktion des Lehrers hörte. Zusammengekrümmt hatte er Anna Mona angestarrt und nach Fassung gerungen. Dann unter dem Kichern der gesamten Mädchengruppe etwas von niedriger Hemmschwelle für körperliche Aktion gestammelt.

‚Na also, dann werde ich doch wohl noch ... Aber ich brauche etwas, mit dem ich mich wehren kann. In die Küche komme ich nicht, also kein Messer, keine Teflonpfanne. Na klar, Maas Schirm im Flur mit der langen Spitze, mit dem kann ich in dem kleinen Raum jeden Eindringling auf Abstand halten. Also los!’

Beinahe wäre sie im Flur auf ihr Handy getreten, sie hob es auf und steckte es ein. Schon stand Anna Mona mit dem Schirm in der Hand vor der Tür, hinter der es schon wieder stöhnte. Sie zitterte, aber das zog sie jetzt durch.

‚Ein Glück, dass der Lichtschalter für den Raum hier draußen ist. Soll ich die Tür vorsichtig öffnen, oder mit einem Ruck aufmachen?’

Ohne weiter nachzudenken, knipste sie das Licht an und versuchte die Tür aufzustoßen, aber sie kam nicht weit. Etwas lag im Weg und rief empört „Auah“. Eine junge männliche Stimme, aber wer? Ein Paar Stiefel, weiß und glänzend waren zu sehen, darüber der Ansatz einer Blue Jeans. Die Füße wurden angezogen und jemand begann, sich am Türgriff auf der anderen Seite hochzuziehen.

‚Alles nur das nicht!’, schoss es ihr durch den Kopf. Sie fasste den Schirm mit beiden Händen.

„Wer ist denn da?“

Erschrocken vom eigenen Gekrächze, das bestimmt keinen Angreifer abschreckte, schob sie mit tiefer Stimme nach, was sie aus Fernsehkrimis kannte.

„Kommen Sie sofort mit erhobenen Händen raus! Jeder Widerstand ist zwecklos!“

So kam es dann auch und schon bald hörte sie die unglaublichste Geschichte ihres Lebens.

Reichlich zerknittert war der Eindringling aus der Kammer gekommen. An seiner knallroten Lederjacke waren zwei Knöpfe fast abgerissen. Der hohe Kragen und die goldenen Schulterstücke erinnerten an eine Uniform. Die Blue Jeans steckte mit einem Bein im Stiefel, das andere war herausgerutscht, die Haare waren zerzaust und seine Stirn zierte eine blaurote Beule. Trotzdem sah er verdammt gut aus. Der blonde Haarschnitt über blauen Augen war echt stylisch. Den müsste sie Susi vorstellen, nur die dicke Rolex am Handgelenk passte nicht zu ihm. Die hielt er sich an die Stirn, als wollte er die Schwellung kühlen.

16 oder 17 Jahre gab sie ihm und da sie ihn nicht in ihr Zimmer lassen wollte, dirigierte sie ihn mit der Schirmspitze auf seiner Brust ins Wohnzimmer. Wortlos ließ er das mit sich machen, nahm die Hände hoch und humpelte rückwärts. Schon bereute sie, die Polizei nicht gerufen zu haben, da kam ihr ein Gedanke.

‚Mensch, ist der etwa die Erfüllung meines ersten Wunsches? Ach was.’

Erstens hatte sie ja noch gar nicht richtig gewünscht und zweitens funktionierte das sowieso nicht, sondern war nur ein netter Brauch. Oder etwa nicht? Mit einer Hand griff sie im Vorbeigehen einen Stuhl vom Esstisch und zwang den Fremden Richtung Sofa.

„Setz dich, Freundchen.“

Er gehorchte, sie setzte sich mit Abstand vor ihm auf den Stuhl. Wie eine Speerspitze zeigte der Schirm auf ihn.

„Komm mir bloß nicht zu nahe.“

 

Sie klemmte den Schirm unter den Arm und holte das Handy aus der Hosentasche.

„Ich ruf jetzt die Polizei. Bis die hier ist, kannst du mir ja erzählen, was du bei uns gesucht hast.“

Sie drehte das Handy in der Hand richtig herum.

„Bitte hab keine Angst“, sagte er beschwichtigend. „Wir hoffen, du verzeihst, dass wir hier so reinplatzen, aber wir suchen ein bestimmtes Mädchen.“

Ihr Oberkörper schoss nach vorne.

„Wir?“

Gerade noch hatte sie Oberwasser, doch nun kam wieder Panik in ihr hoch. Sie schaute Richtung Flur und ihr Daumen rutschte von der Tastatur.

„Ist da etwa noch einer?“

Er hob abwehrend die Hände.

„Nein, nein, das ist ein Missverständnis. Von uns, also von mir, spricht man im Plurals Majestatis, der Anrede für Herrscher. Das gilt auch wenn wir, also wenn ich von uns selbst, also von mir sprechen. Dabei meine ich, also ich meine uns, immer uns, weil wir, sprich ich, ja immer auch für unsere, also meine Untertanen sprechen.“

‚Was für ein Gestammel’, dachte sie.

Ihr verständnisloser Blick ließ ihn aufstehen.

„Verzeihung, ich habe versäumt uns vorzustellen und dich standesgemäß zu begrüßen.“

Er straffte sich und zog seine Lederjacke stramm.

‚Was soll das denn werden?’, dachte sie.

„Bleib gefälligst sitzen!“, wollte sie noch rufen.

Doch er kam bereits auf sie zu und überrumpelte sie völlig. Ihr Handy polterte auf den Parkettboden als sie versuchte, den Schirm unter dem Arm hervorzuziehen. Aber ihre einzige Waffe rutschte herunter, sofort stand der fremde Mann mit dem Fuß auf der Schirmspitze. Hilflos schaute sie hinauf in sein Gesicht, tastete fahrig nach dem Handy.

‚Warum bin ich blöde Kuh auch so vertrauensselig?“, war ihr letzter Gedanke.

Sie öffnete den Mund zum Schrei, aber sie konnte nicht. Denn sie musste mit Grauen ansehen, wie seine geöffneten Hände auf ihren Hals zukamen. Reflexartig kippte sie mit dem Stuhl nach hinten, sie sah noch sein Grinsen und seine tadellosen Zähne. Hart schlug ihr Kopf auf dem Boden auf.

Als sie wieder zu sich kam, kniete er neben ihr. Wie durch einen Schleier sah sie ihn, nur langsam wurde das Bild klarer. Sofort wollte sie auf ihn losgehen, aber eine Hand signalisierte ihr ‚Stop’! Ihr Kopf fiel zurück, so hatte sie keine Chance. Er entfernte sich und sie hörte, wie er sich auf das Sofa setzte. Was war mit ihren Klamotten? Sie befühlte sich unauffällig.

‚Die hab ich noch an’, stellte sie erleichtert fest, ‚und gefesselt bin ich auch nicht. Der Schirm ist bestimmt weg, aber da fällt mir schon noch was ein.’

Sie tastete nach ihrem Hals, konnte jedoch keine Würgemale oder Bisswunden feststellen. Er hatte ihr wohl nichts getan.

„Besser, du bleibst noch liegen und kommst nicht zu schnell hoch“, kam es von oben.

‚Das könnte dir so passen’, dachte sie, ‚du wirst dich gleich wundern, Freundchen.’

„Wir sind untröstlich, dabei wollten wir dich nur begrüßen. Bitte glaub uns, das ist uns noch nie passiert.“

Sie hielt die Luft an und drehte den Kopf zum Flur. Aber er schien immer noch allein. Sie atmete aus.

‚Der mit seinem Pluralis Dingsbums. Wieder war sie darauf reingefallen, was für ein Getue. Was will der hier? Ein Einbrecher mit freundlicher Begrüßung? Ein Vampir der sich entschuldigt?’

Sie dachte an ihren Selbstverteidigungskurs. Aber noch war der Kerl zu weit weg.

‚Jetzt hab ich’s, der ist ein Psychopath! Ich muss ihn so schnell wie möglich loswerden, mich auf ihn stürzen oder abhauen. Ganz ruhig, was sagt mein Kreislauf, setz ich mich langsam hin oder spring ich auf?’

Da spürte sie das Sofakissen unter ihrem Kopf.

‚Arbeiten Psychopathen mit Kopfkissen? Vielleicht ist der einfach nur schizophren und spricht von sich in der Mehrzahl?“

Der Typ hörte nicht auf, sich zu entschuldigen.

„Es tut uns so furchtbar leid, ein bedauerliches Missverständnis, gewissermaßen ein diplomatischer Fauxpas. Dabei wollten wir dir nur die Ohrläppchen reiben.“

Mit einem Ruck saß sie senkrecht.

„Wie bitte?“

Die Szene war grotesk. Der Eindringling hockte zerknirscht am anderen Ende des Sofas. Sie saß mit großen Augen auf dem Boden und traute ihm nicht über den Weg. Dabei sah der nicht aus wie ein Serienkiller. Das ergab alles keinen Sinn. Außerdem hatte er das Handy vor sie auf den Sofatisch gelegt, ‚das macht doch kein Einbrecher’ dachte sie. Sie griff danach.

„Los hau ab, sonst ruf ich die Polizei“, sagte sie das nächstbeste, was ihr einfiel. Sie erinnerte sich.

„Bin ich nicht auf den Boden geknallt?“

Sie fasste sich an den Hinterkopf, aber da tat nichts weh, sie spürte nicht mal eine Beule. Er lächelte.

„Wir haben uns erlaubt dich zu heilen, siehst du?“

Er zeigte an seine Stirn.

„Unsere Schwellung ist auch weg und das Gewand haben wir ebenfalls geheilt.“

Tatsächlich, die Knöpfe seiner Jacke saßen wieder fest. Seine Hilfsbereitschaft machte sie zugänglicher.

„Diese Nummer, dass du Frauen die Ohren langziehst, machst du das öfter?“

Langsam stand sie auf und setzte sich auf den Stuhl. Auf Augenhöhe und mit dem Handy fühlte sie sich sicherer. Er rieb mit Daumen und Zeigefinger seine beiden Ohrläppchen.

„Das ist der königliche Gruß. Damit zeigen wir in aristokratischem Gestus unsere Wertschätzung. Je länger wir reiben, desto höher ist sie.“

„Komm, jetzt ist Schluss“, sagte sie verärgert. „Du sagst mir jetzt sofort, wer du bist und was du willst.“

Er schien sie gar nicht zu hören und redete vor sich hin.

„Dabei hattest du uns noch gewarnt, wir sollten dir nicht zu nahe kommen, hast du gesagt.“

Er hob den Kopf und sah sie an

„Wie bitte, was war dein Ansinnen noch gleich?“

„Wer du bist, hab ich gefragt.“

Er wollte aufstehen, doch sie warnte ihn.

„Nee, nee, nix Ohrenreiben, wir bleiben schön sitzen.“

Er zuckte mit den Schultern.

„Wir haben es wohl versaut, wie man so sagt. Vielleicht fangen wir einfach noch mal von vorn an?“

‚Der ist ja am Boden zerstört’, dachte sie. ‚Alles doch bloß ein Missverständnis?’

Sie holte sich die App mit dem direkten Kontakt zu Maa aufs Display.

„Genau, von vorn anfangen, das versuchen wir jetzt. Ich hier und du mit deiner Kleingruppe auf dem Sofa. Aber ihr habt nur einen Versuch. Und das hier“, sie hob das Handy, „ist die direkte Verbindung zu meinem Notruf.“

Schlagartig schaute er zufrieden.

„Siehst du“, strahlte er, „jetzt war das mit dem Pluralis Majestatis schon ziemlich richtig.“

Ihr Handy summte.

„Ist das schon der Notruf?“, fragte er erschrocken. Sie warf einen Blick aufs Display.

„Nein, eine Nachricht von einer Freundin“

summ summ

geile party heute abend

was machst du kommst du im herbst

HDL

Madja, Spitzname Maja aus Sarajewo war eine Nachtmaus. Anna Mona hatte sie im letzten Jahr bei einem Städtevergleichskampf kennengelernt, seit dem schrieben sie sich gelegentlich. Maja war zwar nur für zwei Tage hier gewesen, doch sie hatten sich auf Anhieb verstanden. So gut, dass Susi in den Tagen danach Anzeichen von Eifersucht gezeigt hatte.

„Dein Handy summt ja in einem durch“, hatte sie gemeckert.

Aber dann hatte sie festgestellt, dass sie hier war und Maja weit weg. Die fragte gerade an, ob Anna Mona bei der nächsten Veranstaltung in Bosnien-Herzegowina dabei sein würde.

‚Mit der chatte ich gleich noch’, nahm sie sich vor. Denn bei irgendwem musste sie Dampf ablassen, sonst würde sie niemals in den Schlaf finden.

„Fertig?“, fragte er.

Sie nickte.

„Ich bin froh“, fing er an, „dass wir mit Lessy deinen Hinterkopf heilen konnten.“

„Mit wem?“

Er hielt das Handgelenk mit der Rolex hoch.

„Das Teil heißt Lassie? Oma hat mal von ihrer Lieblingsserie im Fernsehen erzählt, mit einem Hund der so hieß. Da war sie aber noch ein Kind und der Hund schwarz-weiß. Deine Uhr kann doch bestimmt nicht bellen, oder?“

Sie grinste, aber er blieb ernst.

Immerhin hat Lessy dich gefunden. Das ist doch toll.“

„Was heißt hier toll? Ich werde überfallen und soll mich auch noch freuen?“

Ihr kam eine Idee und sie schaute um sich.

„Wo ist denn die versteckte Kamera? Oder sind wir bei ‚Deutschlands verrückteste Stuntmen’? Ah, ich weiß, du bist vom Überraschungspartyservice. Aber kommt ihr nicht in knapper Wäsche aus der Torte?“

Er blieb ernst.

„Du bist doch Anna Mona oder?“

Sie schaute ungläubig.

„Woher willst du das wissen?“

„Das wollen wir dir ja gerade erzählen.“

„Da warte ich schon die ganze Zeit darauf. Bisher weiß ich nur, dass du mich gesucht hast. Aber nicht, was du von mir willst.“