Seniorenknast - wir kommen!

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Christa Mühl

SENIORENKNAST – WIR KOMMEN!

Die Alte

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Christa Mühl

Geboren in Halle/​Saale, studierte an der Hochschule für Film und Fernsehen in Babelsberg. Sie wurde als Regisseurin zahlreicher Filme wie „Die Rache des Kapitäns Mitchell“, „Puppen für die Nacht“, „Paulines zweites Leben“

„Das wirkliche Blau“, „Weihnachtsgeschichten“, Polizeiruf 110, „Stubbe – von Fall zu Fall“, „Heimatgeschichten“, „Ganovenehre“ und viele Serienfolgen „Für alle Fälle Stefanie“, „Schlosshotel Orth“, „Bianca – Wege zum Glück“

„Rote Rosen“ u. a. bekannt. Auch als Drehbuchautorin machte sie sich einen Namen. So schrieb sie für die ZDF-Reihen „Das Traumschiff“, „Die Geliebte“ und die Fernsehfilme „Stubbe und die Killer“, „Lebenslügen“ u. v. a.

„Seniorenknast – wir kommen!“ ist ihr erster Roman.

Christa Mühl ist verheiratet, hat eine Tochter und lebt in Berlin.

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titel-Illustration: © Jörg Hafemeister (2015)

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.engelsdorfer-verlag.de

Für Susanne und Werner

Inhalt

Cover

Titel

Über die Autorin

Impressum

Widmung

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Kein Schlusswort

1

Klopapier und Kräuterbitter.

Das steht in großen Buchstaben auf ihrem Einkaufszettel. Mehr nicht. Mehr ist auch nicht drin, denn sie hat nur das Kleingeldsäckchen mitgenommen. Ein lila Beutelchen mit Ziehkordel, das sie einmal als Werbegeschenk einer Schmuckfirma geschickt bekam. Darin befand sich eine billige Kette aus Silberimitat mit lila Glassteinen. Eigentlich wollte sie die ganze Sendung gleich wegschmeißen. Denn bis dahin war ihre bevorzugte Farbe Altrosa. Aber dieses Lila hatte irgendetwas Magisches. Sie behielt den Beutel und trug die Kette, die ihr gut stand. Trotz ihrer blauen Augen – was sie eigentlich gar nicht für möglich gehalten hätte.

 

Von da an wechselte sie mehr und mehr ins blasse Lila. Oder nennt man das Violett? Sie machte sich darüber keine Gedanken, sah es aber als Wink mit dem Zaunpfahl, endlich mal ein paar neue Klamotten zu kaufen. Ganz gegen ihre Gewohnheit. Denn sie ist keine Wegschmeißerin, trägt alles jahrelang.

So sieht das meiste auch aus …

Lila – von blass bis kräftig – war wieder einmal in Mode gekommen, die neuen Sachen preisgünstig, aber nicht ohne Schick. Doch das nur ganz nebenbei.

Schick! Da kommt ihr natürlich sofort DIE ALTE in den Sinn, die inzwischen wahrlich nicht mehr schick ist. Doch wegen ihr hat sie sich auf den Weg gemacht.

Schnell wirft sie Klopapier und eine 4er Packung Kräuterminis – nicht die allerbilligste Sorte – in den Einkaufswagen und trabt zur Kasse.

Auf dem Weg dorthin beobachtet sie zwei ältere Männer, die einen Transportwagen voller Kisten zu einem Rondell mit leeren Fächern schieben. Dass die noch solche alten Knacker hier beschäftigen, denkt sie und bleibt stehen. Die beiden beginnen gutgelaunt, Lebkuchenherzen und anderes Weihnachtsgebäck in die Regale zu sortieren.

Mira kann das nicht glauben: Der September hat gerade angefangen!

„Ihr habt doch wat an der Bommel!“ sagt sie laut. Alle drehen sich nach ihr um. Nur die beiden Auspacker nicht – die sind beschäftigt.

Eilig macht sie sich auf den Weg zur Kasse. Da tritt sie mit ihrem linken lila Knöchelstiefelchen auf ein Papierklümpchen. Irgendwie bleibt das an der Sohle kleben. Ärgerlich will sie es entfernen, stellt aber erfreut fest, dass es sich um einen zerknautschten Zehn-Euroschein handelt. Noch nie hat sie irgend etwas Brauchbares gefunden! Sie sieht sich um. Kein Mensch in näherer Nähe. Rundumblick nach oben: Keine Kamera.

Vorsichtig zerrt sie den erfreulichen Fund von der Sohle. Leider ist er an einem Kaugummi darunter klebengeblieben. Mit leichtem Ekelgefühl entknittert sie den Schein, dreht sich nochmals um. Nichts. Sie lässt ihren Wagen mit dem mickrigen Einkauf stehen und geht lächelnd zur Lottoannahmestelle, die sich am Ausgang des Supermarktes befindet. Dort greift sie zu einem Kugelschreiber. Die Dame am Stand hat gerade nichts zu tun und schiebt ihr beim Anblick des Zehners gelangweilt einen Lottoschein hin.

Mira schaut sie an und schüttelt ärgerlich den Kopf. „Nee, danke! Da kann ick doch mein Jeld gleich wegschmeißen.“

Die Frau nickt. „Ich hab auch noch nie was gewonnen …“ Mira nickt zurück. Na bitte! Sie bemerkt das lila Brillengestell der Lottotante und registriert es als Zeichen, schreibt auf ihren Einkaufszettel unter Klopapier und Kräuterbitter: Hallorenkugeln, 2 Picco, SUPERillu, Katzenfutter.

Rechnet im Flüsterton die Preise zusammen und ist zufrieden: Da bleibt sogar noch etwas übrig.

Sie schiebt der Dame den Kugelschreiber wieder zu und haucht: „Schicke Brille!“ Die Frau lächelt geschmeichelt und flüstert ihr noch den Namen einer bekannten großen Optikerkette hinterher. Aber Mira geht nun flott zu ihrem Gitterwagen zurück.

Unglücklicher Weise kommt sie an einem Regal mit Saisonpflanzen vorbei. Alpenveilchen im Angebot! Diese grässlichen Dinger kann sie nicht ausstehen. Aber zwischen denen in Altrosa, Rot und Weiß steht ein einziges in Violett. Es scheint ihr förmlich zuzuwinken. Da kann sie nicht widerstehen.

Viele Münzen bleiben für das Kleingeldsäckchen nicht übrig.

Jetzt ist sie trotzdem ganz gut gelaunt und quartiert auf dem Parkplatz die erworbenen Schätze liebevoll aus dem Einkaufswagen in den Kofferraum ihres klapprigen Autos. Alles wird ordentlich in einen lila Korb gestellt. Klappe zu. Einkaufswagen zurück. Eine alte D-Mark, die sie als Chip immer dabei hat, klickt aus dem Schlitz. Die steckt sie mit sehnsuchtsvollem, traurigen, tiefen Seufzer ins Seitenfach der Autoschlüsseltasche.

Dann geht sie zu ihrem Gefährt, das sie liebevoll Ruckelchen nennt. Etwas beschämt fällt ihr ein, dass sie den lila Korb Anfang des Jahres mitgehen ließ. Sie hätte ihn schon gern gekauft – aber der türkische Gemüsehändler erklärte ihr umständlich, dass das nicht möglich wäre.

Noch nie in ihrem Leben hatte sie was geklaut. Schüchtern fragte sie, ob sie den Korb wenigstens bis zu ihrem Auto mitnehmen könnte, um das Gemüse umzulagern. Der Mann nickte ihr lächelnd zu. Sie knallte den Korb samt Tomaten, Knoblauch und Frühlingszwiebeln in den Kofferraum und bretterte davon. Sie fürchtete, dass ihr sofort scharenweise türkische Gemüselieferwagen folgen würden. Deshalb übersah sie eine Polizeistreife, die sich am Straßenrand um eine Prügelei zwischen Schulkindern kümmerte. Nach einer Vollbremsung konnte sie in letzter Minute Schlimmeres verhindern, fing sich aber an einem Straßengeländer, das sie übersehen hatte, eine winzige Beule ein. Und wurde auch noch sofort zu 10 Euro Bußgeld verdonnert.

Damals war sie noch nicht so klamm, was die Kohle betraf. Schnell drückte sie dem grinsenden Jungbullen einen Schein in die Hand und fuhr davon.

Sie achtete dann auf alle Vorschriften, wobei sie zu erkennen glaubte, dass ihr sämtliche Dönerbudenbesitzer rechts und links am Straßenrand vorwurfsvoll bis grimmig nachschauten.

Ruhe fand sie erst nach einigen Tagen. Und erst Wochen später stellte sie den lila Korb, den sie hinter alten Umzugskisten in ihrem Keller versteckt hatte, zurück in den Kofferraum. Sie findet ihn wunderschön und tätigt keinen auch noch so kleinen Einkauf ohne ihn.

Nun setzt sie sich also zufrieden in ihr Auto, lässt den Motor an, es ruckelt – die beiden Piccolo im Korb scheppern aneinander. Das Geräusch gefällt ihr. Dann steigt sie noch einmal aus, nimmt eine der kleinen Sektflaschen aus dem Korb und steckt sie in ihren lila Notfallbeutel, den sie im Handschuhfach deponiert hat. Fröhlich fährt sie heim.

Sie legt alles für den nächsten Tag zurecht. Endlich zufrieden, setzt sie sich vor den Fernseher und sieht – wie immer von Montag bis Freitag – die neueste Folge ihrer Lieblings-Telenovela. Keine besonders gute Folge, wie sie schon nach wenigen Minuten feststellt. Die Leute reden, wie kein Mensch im wirklichen Leben redet, sind nicht besonders attraktiv gekleidet. Und die Handlung ist öde.

Es handelt sich eigentlich um gar keine Handlung. So dauert es nicht lange, da schläft Mira ein – was wirklich selten bei dieser Gelegenheit vorkommt.

Als sie aufwacht, ärgert sie sich. Die Sendung ist vorbei – und sie hat keine Ahnung, was ihr alles entgangen ist. Vielleicht ging die Geschichte ja doch endlich irgendwie weiter. Zum Glück gibt es aber in der Nacht eine Wiederholung.

Schon lächelt sie wieder: Die Woche hat gut begonnen.

Und morgen ist Dienstag!

2

Der Reporter Gisbert Fuchs kommt ärgerlich aus dem Fernsehstudio.

Vor der Tür stehen etliche Schauspieler und Mitarbeiter und rauchen.

Er schnappt Gesprächsfetzen auf, die seine Stimmung nicht bessern.

„Der sollte sich mal auf Alzheimer testen lassen – er merkt sich doch keine zwei zusammenhängende Sätze!“

„Na und? Ist sowieso alles Scheiße, was da im Text steht!“

„Wird Zeit, dass sie mal jüngere Regisseure nehmen – die uralten Knacker wissen alles besser und tun so, als machen sie hier Kunst …“ Gisbert geht schnell zu seinem Auto. Der Nachmittag „hinter den Kulissen“ war nicht nur desillusionierend, sondern auch total nervend. Da schien eine Horde von Schwachmaaten, wie es sein Techniker ausdrücken würde, am Werk zu sein. Um Kameras und Regiepult wuselten aufgestylte junge Leute, die sich wichtig machten, einer den anderen übertrumpfend. Es handelte sich um die Berufsgruppe, die hier am häufigsten anzutreffen war: Praktikanten.

Der Regisseur, ein uralter Knacker von Anfang fünfzig, gab sich redliche Mühe.

Aber die Schauspieler waren widerborstig. Besonders eine Dame Anfang 30, die prinzipiell alles beschissen fand, was hier ablief. Ihr Kostüm und ihr Make-up wollten so gar nicht zu ihrer Rolle passen – auch ihre rustikale Privatsprache nicht, obwohl sie eine Bäuerin spielte. Sie zog eine elegante Jacke aus und knallte sie auf den Boden.

„Ich ziehe dieses verfickte Teil nicht an! Das habe ich schon dreimal gesagt.“

Gisbert stand abseits mit offenem Mund.

Die Dame zerrte nun an ihrem üppigen Dekolté herum. Der Aufnahmeleiter brüllte: „Ruhe!“

Endlich ging die Probe weiter. Also: Eine Bäuerin sollte in einem Mordfall als Zeugin vernommen werden. Aber die Darstellerin verhedderte sich dreimal in einem kurzen Satz und schrie hysterisch: „So spricht doch kein normaler Mensch!“ Und an den Regisseur gewandt, der Gisbert nun ziemlich leid tat: „Hast du schon mal einen Oberbullen mit Fliege gesehen?!“

Der Angesprochene bat den Aufnahmeleiter, die Kostümbildnerin zu holen. Der schickte einen Praktikanten. Inzwischen nutzte man die Zeit wieder zur Probe – was aber eher einem Talkshowgebrülle im Wahlkampf ähnelte. Die Assistentin des Regisseurs, ebenfalls mit Ende dreißig schon jenseits von gut und böse, wie er zwei junge Schauspieler tuscheln hörte, mühte sich redlich um eine Art Ordnung. Als die Kostümbildnerin erschien, brach ein großer Streit los – es ging zunächst um das Kostüm der „Bäuerin“.

„Heutzutage schminkt sich eine Bäuerin. Sie läuft auch nicht mit Strickstrümpfen und Kittelschürze rum. Und mit so einer Spießerjacke vom Ramschdiscounter schon gar nicht!“ keifte die Darstellerin. „Aber mit Haihiiels“, bemerkte grinsend ein Beleuchter.

Lautes Gelächter. Danach ging es voller Häme und Feindseligkeit zu. Die Probe wurde noch mehrfach unterbrochen. Der Regisseur bat alle, sich zu beruhigen – das Pensum müsse heute ohne Überstunden geschafft werden. Kurze Kaffeepause.

Es gelang Gisbert nicht, irgendwen zu einem Interview zu bewegen – vor allem, als bekannt wurde, dass er von einem Provinzsender kam. Ein älterer Tontechniker hatte Mitleid mit ihm und erklärte, er sollte doch einen Erlebnisbericht senden. Der Mann hatte eine leichte Fahne und in seinen Augen flackerte Angst.

„Hier haben alle Angst“, erklärte er ungefragt. Jeder könne sofort ersetzt werden, für jeden Job stehen schon zahlreiche Leute in den Startlöchern – es gibt nur zwei Tatsachen hier: Austauschbarkeit und Mittelmaß.

Irgendwann schlich Gisbert davon, tief enttäuscht.

Er hatte nur noch das Bedürfnis, einfach abzuhängen, wie das sein Techniker bezeichnen würde. So entschloss er sich, über Nacht in Leipzig zu bleiben. Sein Bruder lebt hier und betreibt ein Fischrestaurant. Sie sehen sich viel zu selten. Und ein kleines Gästezimmer ist auch vorhanden. In seine Provinz kommt er auch morgen rechtzeitig zurück.

Er rief seinen Bruder an, ließ es lange klingeln, aber da meldete sich niemand. Wahrscheinlich haben sie viel zu tun – die Kneipe ist beliebt. Gisbert fuhr hin. Es dämmerte schon, und er freute sich auf die gemütliche Gaststube und einen heißen Tee. Das Lokal war geschlossen. „Montag Ruhetag“. Er fasste sich an den Kopf. Klar. Es geht also gut, sonst würde man sich keinen Ruhetag leisten können.

Der Bruder wohnt über dem Laden in der ersten Etage. Dort waren die Fenster erleuchtet.

3

Es war eine ruhige Nacht. Mit drei Hallorenkugeln als Betthupferl im Magen und dem Sektchen als Schlummertrunk war sie sofort in einen tiefen Schlaf gefallen. Und nach sieben Stunden ohne quälende Gedanken aufgewacht. Mira konnte sich nicht erinnern, wann ihr das zum letzten Mal passiert war.

Zwar hatte sie besagte Wiederholung der Telenovela-Folge verpasst, doch da gab es ja noch andere Möglichkeiten, sie zu sehen. Zufrieden stand sie dann lange unter der warmen Dusche, ohne an den ständig steigenden Wasserpreis zu denken. Sie zog ein frisches, kuscheliges Badetuch aus dem Schrank, rubbelte sich damit ab und cremte sich sorgfältig ein. Dann schlüpfte sie in ihre lila Unterwäsche, die noch ganz neu war. Sie sah in den Spiegel, lächelte sich zu und fand sich gar nicht so fett wie an all den Tagen zuvor.

Sie aß ein Marmeladenbrot, trank einen dünnen Kaffee und las dabei die Illustrierte, die sie sich gestern geleistet hatte. Schnell stellte sie fest, dass deren Niveau ganz schön heruntergekommen war und legte sie beiseite. Damit wollte sie sich den guten Morgen nicht verderben.

 

Sie packte die restlichen Hallorenkugeln, die Kräuterminis und das Katzenfutter in ihre Handtasche und machte sich fertig zum Start in einen schönen Dienstag. Oder besser: Dienst-Tag! Sie zog die frisch gewaschene Kittelschürze über ihr schlichtes Kleid, dann den Mantel drüber.

Auf der Straße sieht sie sich irritiert um. Sie weiß nicht mehr, wo sie ihr Auto geparkt hat. Das passiert ihr leider in letzter Zeit immer öfter. Mira hat manchmal echt Angst, dement zu werden. Was man da so hörte – und in den kostenlosen Zeitungen aus der Apotheke lesen konnte: Na vielen Dank auch!

Schließlich findet sie aber ihre alte Karre und ruckelt los.

Sie entdeckt freudig sogar vor Katharinas Haus einen Parkplatz. Was für ein Tag! Das hat sie in all den Jahren selten erlebt. Wie oft war sie ewig durch Seitenstraßen geirrt und musste dann lange Fußmärsche auf sich nehmen …

Aber nun soll ein neues Kapitel beginnen: Schluss mit den trüben Gedanken, Schluss mit der Vergangenheit! Schon zwei gute Tage hintereinander!

Sie steht vor der Wohnungstür und putzt mit einem Taschentuch das Klingelschild blank. „Katharina Schick“ – man kann es kaum noch lesen.

Miras Herz klopft. Vielleicht vom Treppensteigen – zwei Etagen bringen sie schon leicht außer Atem. Vielleicht ist es aber auch die Aufregung. Es soll ja ein neuer Anfang werden.

Sie zieht die lila Lederhandschuhe aus und kramt ein Schlüsselbund aus ihrer Handtasche. Es ist ein neuer Anhänger daran, als Glücksbringer: Ein Fisch. Sie drückt drauf und er fängt an zu blinken. Was sich die Leute alles einfallen lassen …

Vorsichtig schließt sie die Tür auf: Wieder Glück – kein Schlüssel von innen verhindert das. Etwas enttäuscht betritt sie die Wohnung. Vielleicht ist Katharina schon unterwegs? Aber so früh – kaum zu glauben. Oder sie ist im Urlaub? Erst recht unmöglich. Sie kann sich nicht erinnern, dass die irgendwann irgendwohin in den Urlaub gefahren ist. Urlaub – sie weiß sicher gar nicht, was man darunter versteht …

Mira schleicht durch den Korridor und kommt sich vor wie in einem Krimi. Einen Moment zögert sie am Lichtschalter. Doch besser nicht. Sie legt Schlüsselbund mit Blinkefisch auf der flachen Kommode ab, wo sich ungeöffnete Briefe und ungelesene Zeitungen stapeln.

Daneben ein überquellender Korb mit leeren Weinflaschen, dazwischen unzählige leere Kräuterlikörfläschchen.

Sie zieht ihren Mantel und die Stiefeletten aus. Da bemerkt sie ärgerlich, dass sie die bequemen Hauslatschen vergessen hat. Nicht zu ändern … Vorsichtig bewegen sich nun ältere, nicht mehr ganz wohlgeformte Füße in glänzenden, leicht violetten Strumpfhosen weiter. Ein Schrank wird geöffnet. Gelbe Gummihandschuhe werden über abgearbeitete Hände gestreift.

„Gelb – was für eine Scheißfarbe“, murmelt Mira leise. Aber in Lila hat sie solche Dinger nirgendwo gefunden.

Sie nimmt die Mitbringsel aus der Handtasche. Langsam bewegen sich ihre Füße weiter.

Plötzlich, entfernt, eine leise, sanfte Stimme: „Haben Sie in letzter Zeit einmal genauer in den Spiegel geschaut?“ Mira erschrickt fürchterlich und öffnet die Tür zum Wohnzimmer.

Auf dem Sofa liegt Katharina, die Augen geschlossen, der Mund leicht geöffnet, eine Hand hängt herunter. Davor, auf dem Teppich ein großer, schon etwas eingetrockneter dunkelroter Fleck. Der Kater Quasimodo schläft am Fußende.

Mira lässt ihre kleinen Gaben fallen und hält sich entsetzt die Hand auf den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Nach etlichen Schrecksekunden flüstert sie: „Oh nein!“

Sie will zu Katharina stürzen, entschließt sich aber, zuerst den Fernseher auszuschalten. Es läuft gerade eine Werbesendung für Kosmetik gegen das frühe Altern, die mit dem optimistischen Slogan endet: „Weil es für uns selbst ist!“

Von der plötzlichen Stille wird der Kater wach. Er sieht Mira mit einem schiefen Gesicht an und rast fauchend davon. Sie schüttelt verzweifelt den Kopf und flüstert: „Warum kann mir det blöde Vieh bloß nich leiden?“

Mit zittriger Hand hebt sie das mitgebrachte Katzenfutter vom Fußboden auf. Es war nicht gerade das billigste! Wehmütig steckt sie es in die Tasche ihrer Kittelschürze und schaut dem Kater nach. Dann wendet sie sich wieder Katharina zu, zieht die Handschuhe aus und findet zum Glück ein Taschentuch. Während sie sich die Nase schnäuzt und die Tränen abwischt, entdeckt sie auf dem Boden einige ausgetrunkene Kräuterlikörflaschen, nicht die ganz kleinen … Und eine leere Rotweinflasche, eine ganz große, die sie kopfschüttelnd aufhebt.

Ein Geräusch. Quasimodo! Der Kater hat im Flur ihre Schlüssel von der Kommode geschmissen und tapst nach dem blinkenden Fischanhänger.

Ein anderes Geräusch lässt sie wieder in Katharinas Richtung herumfahren.

Die Totgeglaubte verändert gerade ihre Schlafposition und beginnt zu schnarchen.

Nun schreit Mira doch auf. Davon wird Katharina wach und schreckt hoch. Sie starrt eine Frau an, die hier anscheinend eingedrungen ist. Der fällt die leere Flasche aus der Hand. Es knallt gehörig. „Wo ist meine Waffe?“ kreischt Katharina.

Mira zuckt mit den Schultern. „Keene Ahnung. Ick wußte jar nich, det Sie die noch haben.“

Katharina fragt entgeistert: „Was wollen Sie hier?“

Mira holt tief Luft: Jetzt kommt es drauf an! „Ick hatte 3 Wochen Urlaub. Es ist Dienstag!“

Stille. Mira schöpft sofort Hoffnung. Aber dann scheint sich die Alte dunkel zu erinnern. „Putzi? Wie oft soll ich es Ihnen noch sagen: Es gibt keinen Dienstag mehr! Sie sind gefeuert!“

Mira ist den Tränen nahe. Ihr Plan funktioniert nicht … Verzweifelt startet sie einen neuen Versuch. „Ja. Aber wie det hier aussieht!“

Katharina ist nun endgültig wach und sieht sich um. Putzi hat recht, denkt sie.

Ihr Kopf dröhnt. Es braucht eine Weile, bevor sie halbwegs klar ist. Nicht ohne Mitleid bemüht sie sich um einen harschen Ton: „Vielleicht sollte ich es singen? Das bisschen Haushalt … Leider bin ich heiser!“ Mira faucht: „Und Sie haben auch gar keinen Mann!“

„Was für einen Mann?“ fragt Katharina mit rauher Simme. Mira wischt sich die Tränen ab und wird langsam aber sicher wütend. „Na, det Lied jeht doch weiter: … schaff ich schon allein - sagt mein Mann!“ Katharina will etwas erwidern, winkt aber dann ab und hält sich den schmerzenden Kopf. Mira greift in die Schürzentasche, zieht eine Packung Tabletten heraus und reicht sie ihr.

Dankbar knackt sie zwei aus der Folie und schluckt sie gekonnt ohne jegliche Flüssigkeit herunter. Als würde die Wirkung sofort einsetzen, wechselt ihre Stimmlage. Milde und leise verkündet sie: „Ich kann Sie mir einfach nicht mehr leisten, Putzi. Haun Sie ab!“ Mira ist entsetzt – obwohl sie dieses Theater eigentlich kennt. So eine Szene erlebt sie nicht zum ersten Mal.

„Aber wo soll ick denn hin? Von meine Rente kann keen Mensch leben – nicht mal icke!“ Auch dieser Text ist nicht neu, deshalb flutscht er ihr wie einer gelernten Schauspielerin fließend über die Lippen. Katharina zuckt mit den Schultern. Etwas wackelig steht sie auf und geht zum Schrank.

Mira greift wieder zum Taschentuch, besinnt sich dann aber. Die Heulnummer zieht wahrscheinlich nicht mehr.

Katharina kommt mit einem zweiten Glas und einer vollen Rotweinflasche zurück. Sie schraubt den Verschluss auf, riecht daran und schüttelt angewidert den Kopf.

„Das ist auch schon der Billigste!“ Sie schenkt sich und Mira ein. „Prost!“ Mira schüttelt sich. Das Zeug schmeckt grässlich. Und nun fängt Katharina auch noch an zu weinen. Mira reicht ihr das Taschentuch. Was für eine Schmierenkomödie! Viel zu schnell fasst sich die Alte wieder …

Mira hebt ein Kleid vom Boden auf. Es ist ein abenteuerliches Modell in grellen Farben. Sie erkennt sofort die Chance auf ein Ablenkungsmanöver.

„Was ist det denn für’n scharfet Teil?“

Katharina tut genau das, was Mira erwartet hat. Sie lächelt melancholisch.

„Das ist von früher. Noch aus der DDR …“

Mira sieht sie skeptisch an.

„Aus dem Exquisit! Das war so was wie Delikat – nur für Klamotten!“ Als ob Mira nicht mehr wüsste, was das für Wucherbuden waren … „Zum Delikat haben wir immer Fress-Ex jesacht. Schließlich bin ick ooch aus dem Osten!“

Sie berlinert noch stärker, wenn sie aufgeregt ist. „Wat waren det für bekloppte Zeiten!“

Dann betrachtet sie das Kleid genauer. Es hat einen tiefen Rückenausschnitt. „Sowat ham die da verkooft?“

Katharina grinst. „Muss wohl irgendwie ein Versehen gewesen sein …“

„Und Sie haben dieset Versehen für teuret Jeld erstanden?“ Katharina nickt lächelnd und versinkt in Gedanken.

„Haben Sie det denn wenigstens ooch anjezogen?“ fragt Mira, echt interessiert.

„Klar! Einmal. Zum Polizeiball.“

Mira sieht sie skeptisch an.

„Zum Fasching!“

„Bei die Polizei?“

Katharina schüttelt schmunzelnd den Kopf. Natürlich nicht. Eine ziemlich verrückte Freundin lud anschließend zu einer Party ein. Motto: Südseezauber.

Mira betrachtet das Teil erneut intensiv und grinst nun ebenfalls. Südseezauber – in der DDR …

„Und wat wolln Se jetzt damit?“

Katharina druckst herum. „Vielleicht verreisen. In die Sonne. Auf ’ne Insel oder so.“

Einen Moment scheint es, als segle sie schon mit ihren Träumen davon. Doch dann genügt ein Blick auf das Chaos um sie herum. Mira hat darin gerade noch gefehlt. „Und nun machen Sie sich dünne!“ Der Kater kommt mit dem Schlüsselanhänger im Maul – der Fisch blinkt inzwischen etwas müde – zufrieden herein und scharwenzelt um Katharinas Füße. Sie schaut zur Uhr. „Scheiße!“

Mira rappelt sich zum letzten Versuch auf.

„Det kann man laut sagen … Ick würde hier ooch umsonst putzen! Schließlich hab ick ja meine Rente!“

„Ich denke, davon können Sie nicht leben?“

Katharina geht zum Spiegel und schüttelt, wortlos über ihren Anblick, den Kopf.

Mira versucht eine Notlösung.

„Muss ja nicht jeden Dienstag sein.“

Katharina wird plötzlich klar, dass heute der 1. Dienstag im Monat ist. „Scheiße, Scheiße, Scheiße!“

Mira unterbricht sie: „Jenau. Und ziemlich kalt draußen. Nicht mehr lange, denn is Weihnachten. In den Jeschäften sortieren sie schon wieder Spekulatius und den janzen Weihnachtskrempel in die Rejale …“ Katharina hört gar nicht hin.

„Am 1. Dienstag im Monat besuche ich doch immer Ruppe.“

„Ist det nicht der nette junge Mann – Ihr Nachfoljer?“

„Jung? Na ja … Er schätzt meine Erfahrung. Ich kann ihm manchmal einen guten Rat geben.“

„Jeben Sie, jeben Sie! Derweil kann ick ja hier putzen.“ Sie sammelt die leeren Flaschen ein. Katharina sieht sie skeptisch an. „Als Sie noch jearbeitet haben, war ick dienstags ooch alleene hier!“

„Dienstags haben sie im Kommissariat wenig zu tun. Montag wird die vorige Woche ausgewertet, die kommende durchgesprochen, alles geordnet. Aber wenn nicht viel los war, kein Mord oder so was, ist Dienstag tote Hose. Da kann ich mit Ruppe nach frühem Feierabend vielleicht noch ’n Bier trinken.“

Oder ooch zwee, denkt Mira und macht sich daran, aufzuräumen.

„Grüßen Sie Ihren netten jungen Kollejen! Soll ick Badewasser einlassen?“

„Ich dusche!“ faucht Katharina und geht Richtung Bad. Der Kater hört auf, mit dem müde blinkenden Fisch zu spielen, schaut Mira voller Verachtung an und folgt Katharina.

Mira steckt den Anhänger seufzend in die Tasche der Kittelschürze. Ein seltenes Exemplar aus Dederon, das sie in einem vietnamesischen Textilmarkt für 3 Euro erstanden hat. Lila Rosen auf blassviolettem Grund. „Echt aus die DDR“, strahlte die hübsche Verkäuferin. „Wat ist DDR?“ hatte Mira etwa bösartig gefragt.

Die junge Vietnamesin zuckte mit den Schultern. „Ein altes Textilfabrik?“

Mira nickte nur. Ein altes Machwerk …

Sie zieht aus der anderen Tasche das Mikrofasertuch aus einer modernen Textilfabrik und macht sich über den Staub her. Aus dem Badezimmer polternde Geräusche. Dann fängt Katharina heiser an zu singen. „Sind die Lichter angezündet …“ Die Dusche wird angestellt, der Gesang lauter. „ … Freude zieht in jeden Raum – weiter kann ich leider, leider keiheinen Text – man glauhaubt es kaum …“ Mira verdreht die Augen und schaltet den Fernseher ein. Es läuft schon wieder eine Werbung. „Gönn dir was!“

Was soll sie sich gönnen – bei der mickrigen Rente? Und die Schweine von ihrer Bank haben ihr eine Anlage aufgeschwatzt, die sie völlig abschreiben kann. War nicht gerade ein Vermögen, aber für sie eben doch ein großer Verlust. Von wegen Urlaub – so was ist schon gar nicht mehr drin.

Sie lässt den Putzlappen fallen, trinkt ihr Glas leer und stöhnt. „Wo jibt es so miserablen Rotwein?“