Wenn wir an Grenzen kommen

Text
Aus der Reihe: Ignatianische Impulse #81
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Wenn wir an Grenzen kommen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Christa Baich / Dorothea Gnau / Christine Klimann

Wenn wir an Grenzen kommen

Hoffnung leben – Hoffnung geben

Ignatianische Impulse

Herausgegeben von Stefan Kiechle SJ, Willi Lambert SJ

und Martin Müller SJ

Band 81

Ignatianische Impulse gründen in der Spiritualität des Ignatius von Loyola. Diese wird heute von vielen Menschen neu entdeckt.

Ignatianische Impulse greifen aktuelle und existentielle Fragen wie auch umstrittene Themen auf. Weltoffen und konkret, lebensnah und nach vorne gerichtet, gut lesbar und persönlich anregend sprechen sie suchende Menschen an und helfen ihnen, das alltägliche Leben spirituell zu deuten und zu gestalten.

Ignatianische Impulse werden begleitet durch den Jesuitenorden, der von Ignatius gegründet wurde. Ihre Themen orientieren sich an dem, was Jesuiten heute als ihre Leitlinien gewählt haben: Christlicher Glaube – soziale Gerechtigkeit – interreligiöser Dialog – moderne Kultur.

Christa Baich / Dorothea Gnau / Christine Klimann

Wenn wir an Grenzen kommen

Hoffnung leben – Hoffnung geben

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2018 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung:

HEROLD Auslieferung Service GmbH

www.herold-va.de

ISBN

978-3-429-05326-0

978-3-429-05002-3 (PDF)

978-3-429-06412-9 (ePub)

Inhalt

Vorwort

1. Eine Hoffnungsgeschichte? (D. G.)

2. Hoffnung in Stichworten (C. K.)

Lebenselixier und Grundmotor

Optimierungsdruck

Vertröstung

Durchkreuzte Hoffnung

Geläuterte Hoffnung

Himmel

Verbundenheit

3. Hoffnung begleiten (C. B.)

Wem glaubt man, was er sagt?

Hoffnungsblick

Heilsgeschichte hier und heute

Wie Gott mir, so ich dir

System je nachdem

Hoffnungsetüden

4. Ein Übungsweg (D. G./C. K.)

Erste Woche: Hoffnung aufspüren

Zweite Woche: Hoffnung, die herausruft

Dritte Woche: Um Hoffnung kämpfen und sie läutern lassen

Vierte Woche: Hoffnung in die Welt tragen

5. Verantwortung für die Welt (D. G.)

Mitarbeit an der Verwandlung der Welt

Beispiel: Flucht und Vertreibung

Anregungen für einen hoffnungsvollen Umgang

6. Kirche zwischen Traum und Wirklichkeit (C. B.)

Im Wechselspiel von Hoffnung und Enttäuschung

Beispiel: Frauen in der Kirche

Anregungen für einen hoffnungsvollen Umgang

7. Schluss

Anhang: Von der Hoffnung inspiriert: die Helferinnen und ihre Gründerin (D. G.)

Anmerkungen

Vorwort

Grenzen sind ambivalent. Sie zu überwinden kann Ansporn sein für Höchstleistungen, oft aber ist es schmerzhaft, an sie zu stoßen. An äußeren Grenzen reiben Menschen sich vergeblich wund, an inneren Grenzen tun sich Abgründe auf. Träume zerplatzen, Selbstverständlichkeiten brechen ein, aus Wegen werden Sackgassen.

Auch der Glaube kann an Grenzen stoßen – und wie viele Menschen erfahren das schmerzlich in ihrem Leben –, aber ihm wohnt auch eine Dynamik inne, die an die Grenzen hindrängt. Jesus hat seine Jünger »bis an die Grenzen der Erde« gesendet (Apg 1,8), denn das Evangelium muss alle Geschöpfe erreichen (Mk 16,15). So sind es die Wechselspiele des Lebens und die christliche Berufung, die immer wieder mit Grenzen konfrontieren. Sendung als Grunddimension ignatianischer Spiritualität hat viel damit zu tun, »an die Grenzen zu gehen«, und auch Papst Franziskus wird nicht müde, für eine Kirche einzutreten, die an die Ränder geht. Damit sind nicht nur geographische Randgebiete oder soziale Brennpunkte gemeint, sondern auch Abgründe von Vereinsamung, Perspektivlosigkeit und Verzweiflung. Wenn dann innere und äußere Grenzen aufeinandertreffen, können sich Ohnmacht und Lähmung breitmachen – oder aber die Hoffnung kommt ins Spiel. Und diese Hoffnung ist nicht einfach da oder nicht, sondern es gilt, um sie zu ringen. An ihr entscheidet sich der Umgang mit Grenzen.

So entstand die Idee zu diesem Buch. Wir drei Autorinnen gehören zu einer ignatianischen Ordensgemeinschaft. Ignatius betont, dass der Mensch auf Gott hin geschaffen ist, und der zentrale Begriff der Sendung verbindet sich bei ihm mit der Hilfe für die Seelen. Eugénie Smet, die Gründer in unserer Gemeinschaft, ist vom Wunsch beseelt, den Menschen zu helfen, das Ziel ihrer Erschaffung zu erreichen. Sie hat dabei besonders die im Blick, die leiden, die vergessen und ausgegrenzt sind. An diesen Grenzen kommt bei ihr der für uns Helferinnen zentrale Begriff der Hoffnung für die ganze Menschenfamilie ins Spiel. Damit bringt sie eine besondere »Klangfarbe« in den Chor der ignatianischen Stimmen ein.

Dieses Buch ist ein Gemeinschaftsprojekt. Wir haben uns nicht nur zum Schreiben getroffen, sondern es gemeinsam konzipiert, die Inhalte diskutiert, um den Aufbau gerungen, gegengelesen. Die einzelnen Teile tragen unterschiedliche Handschriften und sind auch von ihrer Art her verschieden. So sollen grundsätzliche Überlegungen, viele konkrete Beispiele aus eigenen Erfahrungen und aus der Begleitung (deshalb wird häufig auch die Ich-Form und manchmal nur die weibliche Form verwendet) sowie ein Teil mit Übungen und einer mit aktuellen Fragen aus Kirche und Welt das Thema Hoffnung aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. Wie die Grundperspektive christlicher Hoffnung das Leben von Eugénie Smet prägte und sie zur Gründungsidee der Kongregation der Helferinnen motivierte, zeigt ein kurzes Kapitel am Schluss des Buches auf.

Grenzen sind oft schmerzhaft, können aber auch Begegnung und neue Möglichkeiten eröffnen. Möge dieses Buch zum Weiter-Gehen, zum Durch-Gehen ermutigen, damit die Hoffnung ihre verwandelnde Kraft entfalten kann.

1. Eine Hoffnungsgeschichte?

Vielseitig begabt, mit einem großen Freundeskreis, das Studium erfolgreich abgeschlossen, inzwischen beruflich erfolgreich als PR-Frau tätig: Andrea1 ist eine Frau, die mitten im Leben steht. Ihr Glaube und ein regelmäßiges geistliches Leben sind ihr wichtig. Christliche Hoffnung trägt und prägt ihre Einstellungen wie auch ihr Engagement. Dass sie entschieden als Christin leben will, ist ihr klar. Nun hat das Anliegen, Gott den ersten Platz in ihrem Leben einzuräumen, Fragen nach der konkreten Lebensform aufkommen lassen. Immer mehr hat sich dabei der Gedanke herauskristallisiert, in einen Orden einzutreten. Vermehrte Kontakte zu einem Kloster haben diesen Gedanken zu einer realen Option werden lassen. Auch der Orden kann sich gut vorstellen, dass diese spirituelle und zugleich sehr geerdete Frau dort eintritt. Hoffnungsvoll, dort ihren Platz in der ihr entsprechenden Lebensform gefunden zu haben, entscheidet Andrea sich, für einige Zeit in diesem Kloster mitzuleben. – Doch die Pläne und Hoffnungen werden durchkreuzt.

Andrea gerät in eine schwere psychische Krise, die schließlich zur Einweisung in eine psychiatrische Klinik führt. Psychose lautet die Diagnose, später: Schizophrenie. Im Rückblick beschreibt sie die Gefühle der Scham, als sie langsam ihre Situation realisiert. Scham über das eigene Verhalten während der Psychose und auch Scham, selbst nicht einmal wahrgenommen zu haben, wie sie in die Krankheit hineinrutschte, ohne selbst zu bemerken, dass sich die eigene Wahrnehmung der Realität zunehmend von der anderer Menschen unterschied; Scham, dass ihr so etwas passiert, ihr, die – wie so viele von uns – das doch nie von sich gedacht hätte. »Psychiatrie, das betrifft nur andere Menschen. Und plötzlich landest du an einem Ort, der bisher überhaupt nicht in deinem Horizont war. … Ich doch nicht …«

 

Einer längeren Genesungszeit folgt das langsame Zurückfinden in Alltag und Beruf. Andrea findet eine Wohnung und einen Arbeitsplatz. Es wächst die Hoffnung, wieder zurück in die »Normalität« gefunden zu haben – bis es zum nächsten psychotischen Schub kommt. Wiederum ist ein längerer Klinikaufenthalt nötig, wieder dauert es lange, bis sich ihre Situation so weit stabilisiert hat, dass sie in die »Normalität« ihres Privat- und Berufslebens zurückkehren kann. In den darauffolgenden Jahren folgen noch mehrere Klinikaufenthalte, dazwischen jahrelange Phasen, in denen sie wieder voll berufstätig sein kann. Ein Auf und Ab zwischen Hoffnung und Enttäuschung.

Nach einigen Jahren, geprägt von Verschweigen und seltenem sehr betroffenem Berichten in Zweiergesprächen, erzählt jemand Andrea von der Initiative »Experienced Involvement«, die Menschen mit eigener Erfahrung in der Psychiatrie ausbildet, um andere in ähnlichen Situationen zu begleiten. Andrea nimmt Kontakt auf, bietet ihre Mitarbeit als PR-Frau im zugehörigen Verein (www.ex-in-bern.ch) an. »Bei ›Ex In‹ wurde der Krankheits-Erfahrung eine Wertschätzung entgegengebracht, die ich vorher so nie erlebt habe. Das ewige Tabu als Qualifikation und Arbeitsgrundlage – welch ein Wandel. Hier war man nicht trotz, sondern wegen einer Krisenbefähigung willkommen.« Andrea wagt es, mit ihrer Geschichte in Interviews und Artikeln an die Öffentlichkeit zu treten. Bewusst will sie der gesellschaftlichen Tabuisierung und Stigmatisierung etwas entgegenstellen. Ihre eigenen Erfahrungen hat Andrea intensiv reflektiert. In großer Offenheit berichtet sie von den Phasen ihrer Auseinandersetzung mit der Krankheit zwischen Leugnung, Niedergeschlagenheit, Wut und Auflehnung – auch gegenüber Gott – bis hin zur Akzeptanz, dass die Begegnung mit einer anderen Wahrnehmung der Realität zu ihr selbst gehört. »Und ich hoffe immer noch, dass man diese Erfahrung nicht einfach wegmachen muss, sondern dass ich lernen kann, damit umzugehen, sie wert- und wichtig zu schätzen.«

Andrea beschreibt ihr Ringen zwischen Verzweiflung und Hoffnung und auch wie sie darauf angewiesen ist, dass andere bei ihr bleiben und zu ihr stehen, vor allem dann, wenn ihr selbst die Kräfte ausgehen. Sie verschweigt dabei jedoch nicht, wie das Geheimhalten und zugleich Mittragen die Menschen, die in dieser Zeit zu ihr standen, an den Rand der Überforderung brachte.

Neben den positiven Erfahrungen von Unterstützung und Begleitung benennt sie auch die Unsicherheit vieler Menschen im Umgang mit Menschen, bei denen eine psychische Krankheit diagnostiziert wurde. Es macht Angst, weil es ein menschliches Potenzial zeigt, das jede und jeder von uns in sich trägt.

In der Offenheit, mit der Andrea erzählt, werden ihre Erfahrungen fruchtbar für andere. Ihre sprachliche Begabung und ihre Erfahrung aus der PR-Arbeit nutzt sie, um Menschen in psychischen Krisen zu helfen und ihrer gesellschaftlichen Stigmatisierung entgegenzuwirken. Eines der Interviews, in dem Andrea ihre Geschichte erzählt, trägt den Titel »Krankheit, Erfahrung oder gar Begabung?«2.

Leitmotiv in ihrer Arbeit in einer Tagesklinik und in ihrem Engagement für Erfahrungsgenossinnen und -genossen ist für Andrea »Empowerment«, anderen zur Selbstermächtigung zu verhelfen.

Die Frage nach Gott bleibt, wie auch die Herausforderung, mit den Durchkreuzungen und Einbrüchen zu leben. Ist Andreas Geschichte eine Hoffnungsgeschichte? Die Hoffnung, dass es so kommt, wie sie es sich gewünscht hat, hat sich nicht erfüllt. Die Peerarbeit hat auch nicht einfach als Plan B die ursprünglichen Pläne abgelöst. Doch mehr und mehr zeigt sich für sie, wie das eine aus dem anderen erwächst und beides ineinander gründet. »Ich glaube immer noch, dass Gott mich berufen hat, damals im Kloster. Ich habe ›ja‹ gesagt – und sage es noch. Er hat dieses ›Ja‹ angenommen und daraus etwas Neues gemacht.«

2. Hoffnung in Stichworten

Lebenselixier und Grundmotor

Wer kennt sie nicht – die Bilder aus dem Mittelmeer? Völlig überfüllte Boote, entkräftete Menschen, die in Rettungsdecken gehüllt werden, an den Strand geschwemmte Turnschuhe, Gesichter, in denen sich unendliche Erleichterung widerspiegelt oder namenlose Trauer. Eindrücklicher und erschütternder kann man die Kraft der Hoffnung wohl kaum ausdrücken. Verzweiflung allein setzt Menschen nicht in Bewegung, auch nicht Wut oder Enttäuschung lassen Menschen solche Risiken und Strapazen auf sich nehmen. So sind es nicht nur himmelschreiende Ungerechtigkeit und unsagbares Leid, die Migrationsströme auslösen. Es ist auch die Kraft der Hoffnung, die gegenwärtig die Welt in Atem hält und Geschichte schreibt.

Hoffnung ist nicht nur der Motor in Flüchtlingsschicksalen. Der altertümliche Ausdruck »guter Hoffnung sein« für eine Schwangerschaft verbindet die Hoffnung mit dem Beginn des Lebens. Und kann es eine Geburt ganz ohne Verheißung geben? Das heißt nicht, dass es auch ohne Kampf abgeht. In der Erzählung der Geburt Jesu, der Hoffnungsgeschichte schlechthin, geht es auch um das Grauen des Kindermords in Bethlehem, um Verfolgung und Flucht. Aber auch durch Grausamkeiten und Schicksalsschläge hindurch kann sich die Spur der Hoffnung ziehen. Denn wo keine Hoffnung mehr ist, gibt es nicht mehr viel Leben. Hoffnung und Lebenswille sind zuinnerst miteinander verbunden.

Woher kommt diese Kraft? Menschen erleben und erleiden nicht nur, was ihnen begegnet. Als geistige Wesen haben sie die Fähigkeit, die eigene Existenz zu reflektieren, zu deuten und sie in einen Sinnzusammenhang zu stellen. Wir leben nicht nur in einer Gegenwart, wir wissen um eine Vergangenheit und wir blicken in eine Zukunft. Wir können ihrer aber nicht habhaft werden. Sie bleibt fremd, unsicher und unverfügbar. Wenn wir daher in die Zukunft schauen, tun wir das entweder im Modus der Angst oder der Hoffnung. Und so reicht die Zukunft schon in unsere Gegenwart hinein. In Gestalt von Befürchtungen und Ängsten kann sie lähmen oder ungeahnte Aktivität hervorrufen; in Gestalt von Hoffnung kann sie Kräfte freisetzen oder Gegenwärtiges geduldiger ertragen lassen.

Oft klaffen Wunsch und Wirklichkeit unangenehm auseinander. Nach einem Erdbeben oder im syrischen Bürgerkrieg ist das augenscheinlich. Aber auch schon Kopfschmerzen können eine unerträgliche Spannung erzeugen. Hoffnung löst diese Spannung zumindest in der Zukunft auf. Ob es die Aussicht auf ein Leben in Europa ist oder einfach das Ende der Migräne – die Vorstellung, dass es in der Zukunft besser sein wird, hilft, den unangenehmen gegenwärtigen Zustand zu ertragen. Das gilt sogar für die Extremsituation in einem Konzentrationslager. So hat Viktor Frankl die Vorstellung, über die Zustände im Lager und deren Auswirkungen später Vorlesungen zu halten, so viel Kraft und Lebenswillen gegeben, dass er überlebt hat. Er zitiert Friedrich Nietzsche: »Wer um ein Warum weiß, verträgt sich mit fast jedem Wie.« Hier kommt wieder die Geschichte ins Spiel, die der Mensch erzählen will. Wenn eine schwere Erfahrung schlüssiger Bestandteil meiner Geschichte wird, wenn die Vergangenheit sich sinnvoll mit der Gegenwart verbindet, wenn eine harte Gegenwart in eine freundliche Zukunft führen kann – möge sie auch noch fern sein –, dann kann ein Mensch mehr ertragen, als er je für möglich gehalten hätte.

Rachel Naomi Remen erzählt solche Geschichten.3 Die Erkenntnis, an einer chronischen Darmkrankheit zu leiden, ließ die damals 16-Jährige fast verzweifeln und tatsächlich hatte sie einen wahren Kreuzweg an Behandlungen und Operationen vor sich, der viele Leiden und Einschränkungen mit sich brachte. Jahre später waren es gerade diese Erfahrungen der Krankheit und Ohnmacht, die ihr als Ärztin einen ganz anderen Zugang zu ihren Patienten ermöglichten.

Hoffnung ist für alle Glaubenden eine wesentliche Dimension ihrer Beziehung zu Gott: Wir sehen Gott nicht, wir können uns seiner nie sicher sein. Er ist gleichzeitig nahe und fern, fremd und vertraut. Wir können ihn suchen, wir können uns finden lassen von ihm – zähmen, in die Tasche stecken können wir ihn aber nicht. Gott geht einen Weg mit den Menschen durch die Zeiten hindurch. Oft genug bleibt dieser Weg aber rätselhaft. Die jüdisch-christlichen heiligen Schriften erzählen von diesem Weg unter dem Motto der Verheißung. Und das ist Auftrag an die Glaubenden: Das Volk Israel erinnert sich an die Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten, holt durch das Gedenken Gottes Befreiungshandeln in die Gegenwart hinein und erfleht die endgültige Befreiung. In der Feier der Eucharistie denken Christen an die Mahlgemeinschaft Jesu mit den Sündern und an seinen Tod und seine Auferstehung. Im Gedenken, im Erfüllen des Auftrags Jesu wird Jesus Christus selbst präsent. Gleichzeitig verweist die Eucharistie auf das himmlische Hochzeitsmahl. So prägen die Dimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unser Menschsein und unseren Glauben.

Im Alten Testament wird die Erinnerung betont; ihre Aufgabe ist es, die Hoffnung zu stärken. Die vergangene Verheißung wird in die Zukunft geholt: »die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten« (Ps 126,5).

Im Neuen Testament gewinnt der Blick auf die Zukunft und somit die Hoffnung noch ein neues Gewicht. Christen leben in der Spannung des »Schon und Noch nicht«. Wir können schon hier und jetzt Gemeinschaft mit Gott leben – aber die volle Erfüllung dieser Gemeinschaft erwarten wir noch: »Auch wir, obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist haben, auch wir seufzen in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden«, heißt es im Römerbrief (8,23). So ist die Hoffnung das dynamische Element des Glaubens. Sie verbindet uns mit diesem Gott, der in der Geschichte wirkt und doch geheimnisvoll bleibt. Sie lässt uns in der Geschichte feststehen und offen in die Zukunft blicken. Sie schlägt eine Brücke von der großen Geschichte Gottes mit den Menschen hin zu meinem eigenen Leben: Vielleicht, hoffentlich, kann ich meine eigene Geschichte als Heilsgeschichte erzählen!

Optimierungsdruck

Das Leben in der postmodernen Gesellschaft ist anstrengend. Während vor wenigen Jahrzehnten die meisten Eckpunkte einer Lebensgeschichte vorgegeben waren, gilt es nun, selbst zu wählen und sich aus der Fülle der Möglichkeiten die eigene Biographie zusammenzubauen. Allerdings nicht irgendeine Biographie. Eine Erfolgsgeschichte. Charakteristika der Generation Y, also der nach 1980 Geborenen, stehen dabei für einen allgemeinen Trend: Es geht nicht mehr um die Karriere um jeden Preis, sondern um Selbstverwirklichung. Was zunächst positiv klingt, kann Druck erzeugen. Aus der Selbstverwirklichung wird die Selbstoptimierung. Beruflicher Erfolg genügt nicht, es gilt, in allen Lebensbereichen permanent an sich zu arbeiten: Mit Hilfe vieler Ausbildungen gilt es, die eigenen Stärken auszubauen und die Schwächen in solche zu verwandeln, beständig die eigenen Grenzen zu erweitern, den eigenen Körper nach einem Idealmaß zu modellieren, klug gesteckte Ziele zu erreichen, immer fitter und gesünder zu werden, aus Krisen gestärkt hervorzugehen – auf dass die eigene Biographie eine Erfolgsgeschichte werde …

Für Katharina, die als Schauspielerin den Druck der permanenten Selbstoptimierung besonders stark spürte, wurde der Besuch in einer orthodoxen Kirche zu einem Schlüsselerlebnis. Ehrwürdige Architektur, archaische Gesänge, jahrhundertealte Liturgie – plötzlich verstand sie: endlich ein Raum, in dem nicht optimiert werden muss!

In einer säkularen Welt sind solche Räume schwer zu finden. Eine auf Optimierung ausgerichtete Denkweise kann selbst in religiösen Kontexten eine Rolle spielen und spirituelle Suche begleiten. Die Praxis von Yoga oder bestimmten Meditationstechniken kann von einer gar nicht so subtilen Form von Leistungsdenken geprägt sein, aus dem auszusteigen äußerst schwierig ist. Das Versprechen, durch Übungen achtsamer, freier und klarer zu werden, ist interessant, weil es nicht nur höhere Zufriedenheit, sondern auch mehr beruflichen Erfolg verspricht. Nicht umsonst boomen Meditationskurse für Manager.

 

Die Hoffnung richtet sich dabei weniger auf Gott oder einen metaphysischen Zusammenhang, sondern auf die eigenen Potentiale, die es zu entfalten gilt. Und vielleicht noch darauf, dass die Bedingungen günstig sein mögen.

Wie man angesichts dieser Gemengelage über Hoffnung sprechen kann, ist eine vielschichtige Frage. Einerseits ist das Wort und das, was gemeint ist, auch in einem säkularen Kontext verständlich und bedeutsam. Schweizer Forscher erstellen seit 2009 ein jährliches »Hoffnungsbarometer« – eine Studie, die nach den Hoffnungen der Menschen fragt und Entwicklungen untersucht.4 Die Umfrage zeigt, wie wichtig Hoffnung für die Befragten ist. Allerdings hat diese Hoffnung kaum eine religiöse Komponente – das sieht man nicht nur an den Themen (Spitzenreiter sind Gesundheit, glückliche Beziehungen und Selbstbestimmung), sondern vor allem auch an den Hoffnungsträgern: Im Jahr 2016 stehen an erster Stelle Lebenspartner, gefolgt von der eigenen Person und Freunden – Gott ist weit abgeschlagen, noch nach Politikern und Wissenschaftlern. Der kluge Fragebogen von Max Frisch zum Thema Hoffnung fordert religiöse und nicht glaubende Menschen gleichermaßen heraus und bietet Anreiz, den eigenen inneren Überzeugungen und Regungen auf die Spur zu kommen. Hoffnung kann sich auf vieles richten und ist vermutlich in jedem Fall – ob stark oder schwindend – zentraler Motor menschlichen Handelns und Entscheidens oder aber Treibenlassens und Resignierens.

Christliche Hoffnung meint aber noch etwas anderes. Gegenstand der Hoffnung bin nicht ich selbst und die Potentiale, die in mir stecken mögen, auch nicht irgendeine unpersönliche Größe, sondern ein Gott, der einen Weg geht mit den Menschen und Interesse hat an mir. Die erste Bewegung, die erste Initiative liegt bei ihm. Er ruft Abraham, er erwählt sich ein Volk, er ruft beim Namen (Jes 43,1), er kommt den Menschen nahe in Jesus Christus. Durch alle Zeiten hindurch hat er Menschen angesprochen und gerufen. Und zu glauben heißt, ihm das auch heute zuzutrauen. Er hat errettet, er wird wieder erretten. Er hat begonnen, er wird auch vollenden. So meint christliche Hoffnung ganz wesentlich, an diese Initiative Gottes zu glauben. Als Christen sind wir berufen, wirksam zu sein, Frucht zu bringen, und zwar dreißigfach, sechzigfach und hundertfach (vgl. Mk 4,20). Die Geschichte des Christentums ist auch die Geschichte hochengagierter Menschen, die viel bewirkt und verändert haben. Und ein jeder von uns ist berufen, Hoffnungsträger zu sein: all unsere Begabungen einzusetzen, um Hoffnung Wirklichkeit werden zu lassen und so an der Verwandlung der Welt mitzuarbeiten.

Aber christliche Hoffnung hängt nicht nur mit Tun zusammen, sondern auch mit Geschehenlassen; nicht nur mit Wollen, sondern auch mit Loslassen. »Nicht mein, sondern dein Wille geschehe«, hat Jesus am Ölberg gebetet – und das bleibt Richtschnur für Christen. Dabei müssen Entfaltung der eigenen Möglichkeiten und Wille Gottes nicht notwendigerweise im Widerspruch zueinander stehen. Aber Christen sind eingeladen, hörend zu bleiben. Als gläubige Menschen können wir uns nicht darauf fixieren, das Glück auf eine bestimmte Weise zu erwarten und ein Projekt – mag es noch so sinnvoll erscheinen – genau so und nicht anders zu verwirklichen. Während säkulare Hoffnung gar nicht anders kann, als ihren Gegenstand und ihr Ziel in dieser Welt erreichen zu wollen, weist christliche Hoffnung über diese Welt hinaus. Damit wird der Gegenstand der Hoffnung unverfügbarer, aber wie viel Druck fällt weg! Ich bin auf ein Ziel hin unterwegs, ja, und ich will es nicht aus den Augen verlieren. Und auch als Christin träume ich von Erfüllung. Aber wann und wie ich dieses Ziel erreiche, das liegt nicht in meiner Hand.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?